Homosexual's Film Quarterly - Sissy
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kino<br />
OFFeNe<br />
köRpeR<br />
von Jan küneMund<br />
Sébastien Lifshitz hat mit „Plein Sud“ (im November in der<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht, danach in ausgewählten Kinos) nach sechs<br />
Jahren endlich wieder einen <strong>Film</strong> gedreht. Während die Kritik<br />
Schwierigkeiten hat, seine riskanten und doch im Arthouse<br />
verwurzelten <strong>Film</strong>e zu würdigen, sind vor allem „Sommer wie<br />
Winter …“ und „Wild Side“ zu Klassikern des Queer Cinema<br />
geworden. Ein Versuch über das Kino des französischen regisseurs.<br />
14<br />
1.<br />
Seine Mutter habe die Kinder ständig fotografiert, erzählt<br />
Lifshitz. Abzüge gemacht, vergrößert und die Fotos schließlich<br />
an die Wand gehängt. Aber da sie von der Fotografie geradezu<br />
besessen gewesen war, hätte ihr das nicht gereicht. Also hat sie die<br />
Fotos zerschnitten und auf einem großen Bogen Papier die Fragmente<br />
zusammengeklebt, zu Mosaiken, zu Geschichten.<br />
Die Mutter – die Fotos – die zerschnittenen Porträts, von denen<br />
man tagtäglich umgeben war. Eigentlich ist das zu schön, um wahr zu<br />
sein und das als Einleitung zum Porträt eines queeren <strong>Film</strong>emachers<br />
zu verwenden.<br />
Das Queer Cinema ist das Versprechen eines Kinos, das<br />
2. nicht auf Identität fixiert ist. Es will seine Figuren nicht<br />
festlegen auf das Mann-Sein, Frau-Sein, Schwul-Sein, Lesbisch-Sein,<br />
Weiß-Sein, Arm-Sein, Schön-Sein. Darin keine Folie sehen, vor der<br />
etwas Melodramatisches passiert. Nicht nur dabei zusehen, wie seine<br />
Figuren Identität erlangen oder verfehlen, gegen die Welt, gegen die<br />
widrigen Umstände, auf sich allein gestellt große „Ich“-Entscheidungen<br />
fällend. Obwohl das Coming-Out in den meisten <strong>Film</strong>en eine<br />
Identitätserzählung ist, die abbricht, wenn die Hauptfigur endlich<br />
„ich“ sagt und die danach scheinbar nichts mehr zu erzählen hat,<br />
ist Sébastien Lifshitz mit Sommer wie Winter … (Presque rien) ein<br />
Coming-Out-<strong>Film</strong>-Klassiker gelungen, der es nicht bei der Coming-<br />
Out-Erzählung belässt, sondern seine Hauptfigur mit einem Reichtum<br />
an Geheimnissen und ungelösten Widersprüchen ausstattet. Schöner<br />
kann das eigentlich nicht laufen, ein 18-jähriger, gefühlskalter Junge<br />
in den Sommerferien, der einen anderen, aber gefühlvollen 18-Jährigen<br />
kennenlernt, sich durch diesen als Liebenden erfährt, sich zu den<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
Gesten der Liebe durchringt, Verantwortung für jemand Anderen<br />
übernimmt, schließlich allen gegenüber „ich“ sagt. Lifshitz fragmentiert<br />
diese Geschichte, kalte Winterbilder greifen in den Feriensommer<br />
ein, verweisen auf Verletzungen und Traurigkeiten, die passiert<br />
sind, längst nachdem Mathieu öffentlich „ich“ gesagt hat. Das Meer<br />
ist grau und unerbittlich, im kaltweißen Krankenhaus wird ihm der<br />
Magen ausgepumpt, alte Männer sitzen an der Theke der Dorfkneipe<br />
und interessieren sich nicht für ihn. Was ist passiert? Es lief doch alles<br />
gut mit der schwulen Liebe. Kaum etwas ist passiert, sagt Lifshitz,<br />
„presque rien“. Er hat eben nur Ausschnitte aus dem Leben eines<br />
Teenagers gezeigt, zerschnittene Fotos, das Leben, keine schwule,<br />
männliche, bürgerliche Identität. Kontexte, in denen man das Glück<br />
eines Sommers nicht weiterglühen lassen kann, eine kranke Mutter,<br />
ein abwesender Vater, ein toter Bruder, eine neidische Schwester, eine<br />
Familie, die trauert, nicht funktioniert, trotzdem klammert, nicht loslassen<br />
kann, nichts zu tun hat eigentlich mit dem schwulen Glück von<br />
Mathieu. Wer ist Mathieu? Wir erfahren es nicht. Der <strong>Film</strong> will es<br />
nicht wissen. Ein Bogen Papier, auf dem Ausschnitte einen provisorischen<br />
Zusammenhang ergeben.<br />
Lifshitz ist, wie er selbst sagt, ein „verunglückter Fotograf“.<br />
3. Er hat Kunstgeschichte studiert, nicht <strong>Film</strong>regie. Er hat<br />
der eigenwilligen Fotografin Suzanne Lafont assistiert, am Centre<br />
Pompidou gearbeitet. Auch heute noch kauft er keine <strong>Film</strong>bücher,<br />
sondern Fotobildbände. Auf Reisen geht er nicht ins Kino, sondern<br />
besucht Antiquitätenläden, sucht nach alten, aufgelassenen Fotos,<br />
aus denen er Geschichten macht, wie früher seine Mutter. <strong>Film</strong>e drehen<br />
ist allerdings nur oberflächlich gesehen etwas anderes als Bilder<br />
machen. Man muss sich nur entscheiden, ob man die lückenlose,<br />
‚natürliche‘ Bewegung imitieren will (wie die meisten <strong>Film</strong>emacher),<br />
oder tatsächlich Bilder nebeneinander stellen wie Lifshitz. So dass<br />
sie Aussparungen lassen, aus unterschiedlichen Quellen ineinandergreifen,<br />
tatsächlich montiert werden. Ellipsen sparen genau das aus,<br />
was uns wichtig ist. Jeder bisherige <strong>Film</strong> von Lifshitz erzählt in Ellipsen,<br />
niemals chronologisch, lässt immer mindestens zwei Zeitebenen<br />
zusammentreffen, fügt sich niemals zu Gesamtbildern, Gesamtbewegungen.<br />
Sie betonen die Lücken, die Geheimnisse, verweigern<br />
den Schlüssel zum Verständnis einer Person, eines Gefühls. Darin<br />
sind Les Corps Ouverts (1997), Les Terres Froides (1999), Sommer wie<br />
Winter … (2000), La Traversee (2001), Wild Side (2004) und Plein Sud<br />
(2009), das filmische Gesamtwerk von Sébastien Lifshitz, erstaunlich<br />
konsequent.<br />
Lifshitz ist Jahrgang 1969. Er gehört zu einer Generation<br />
4. französischer <strong>Film</strong>emacher, die hierzulande kaum wahrgenommen<br />
wird: Bertrand Bonello, Noémie Lvovsky, Lætitia Masson,<br />
Ursula Meier, Gaël Morel. Die beiden einzigen bekannten neben ihm<br />
sind ausgesprochen ‚queere‘ <strong>Film</strong>emacher, die es geschafft haben, das<br />
bürgerliche Publikum ab und zu zu verblüffen, zu bezaubern, eher<br />
spielerisch herauszufordern: François Ozon und Christoph Honoré,<br />
beide in jüngerer Zeit von der Kritik nicht mehr ernst genommen, als<br />
blasierte, unernste, postmoderne Spieler „entlarvt“. Diese <strong>Film</strong>emacher<br />
haben kein ausgesprochenes politisches Interesse, kein soziales<br />
Anliegen auf den ersten Blick, keine Verweigerungsradikalität im<br />
Ästhetischen. Es sind Stilisten, die mit dem Geschichtenerzählen ringen,<br />
halbwegs von staatlichen Subventionen unterstützt, ab und zu<br />
mal schockieren, aber in der Regel im cinephilen französischen Kosmos<br />
kreisen, ohne im Weltkino Spuren zu hinterlassen. Aufregend<br />
sind sie trotzdem, vor allem für Zuschauer, die Unbehagen angesichts<br />
des US-amerikanisch geprägten Identitätskinos haben. Geboren zu<br />
einer Zeit der sozialpolitischen Experimente, der letzten großen Freiheitserzählungen,<br />
zeichnen ihre <strong>Film</strong>e ein durchgängiges Problem mit<br />
den Emanzipationsgeschichten, dem kollektiven Gestaltungspathos,<br />
dem Aktionismus. Die formalen Vorbilder sind klar: die gebrochenen<br />
Helden der amerikanischen Independents, die dekonstruktivistische<br />
Philosophie, das wilde, sinnliche, ‚rekomponierende‘ Montagekino<br />
„Offene Herzen“ (oben), „Sommer wie Winter …“ (unten)<br />
kino<br />
von Claire Denis, der postmoderne Genremix, das gehetzte Tempo<br />
der Téchiné-<strong>Film</strong>e. Lifshitz & Co. sind Ästheten (bekannter Vorwurf<br />
gegen schwule Künstler), ohne Dogma und Sendungsbewusstsein.<br />
Dass das Kinopublikum ihre <strong>Film</strong>e so selten, eigentlich kaum noch<br />
zu sehen bekommt, ist schade. Und die Kritik, die sie hierzulande<br />
abbekommen, ist vernichtend, unverständlich, anmaßend. Sie heißt<br />
„Arthouse“.<br />
Die <strong>Film</strong>e von Lifshitz sind immer entweder zu bürgerlich,<br />
5. zu Mittelklasse – oder zu plakativ außenseiterisch. Entweder<br />
geht es zu sehr um Familie (immer ist die Mutter todkrank<br />
und der Vater abwesend) oder das Milieu ist zu abgekoppelt. Entweder<br />
hängen Lifshitz’ Bilder zu sehr in der Körperschönheit seiner<br />
Schauspieler oder sie befriedigen verschämt hässliche Fantasien.<br />
Wild Side z.B. wagt die sexuelle und familiäre Utopie eines Dreiers<br />
aus transsexueller Prostituierter, maghrebinischem Gelegenheitsstricher<br />
und russischem Kriegsflüchtling. Was nach einer schrillen<br />
Überzeichnung antibürgerlicher Typen klingt, ist in Wirklichkeit<br />
ein humanistisches Manifest. Eine Liebe, in der jede(r) Geheimnisse<br />
hat, Fremdheit und unheilbare Wunden, und doch ist diese Liebe in<br />
jedem <strong>Film</strong>korn sichtbar, bis hin zu den Muskeln in den Händen von<br />
Stéphanie und Michail, die sich nach dem Sex noch einmal anspannen,<br />
während sie sich umklammern. „Are you a boy or a girl?“, singt<br />
Antony Hegarty in diesem <strong>Film</strong> leibhaftig in die Richtung der Transsexuellen,<br />
nicht als platte Verdopplung des Sichtbaren, sondern im<br />
Klartext und komplexen Mit-Gefühl, denn eine Identität hilft nicht<br />
weiter, wenn man Familie oder Heimat sucht. Tatsächlich sind alle<br />
biologischen Familien in den Lifshitz-<strong>Film</strong>en dysfunktional, sogar im<br />
einzigen Dokumentarfilm La Traversee, in dem er seinen Ko-Autoren<br />
Stéphane Bouquet in die USA begleitet, um dessen Vater zu suchen,<br />
der von der Existenz seines Sohnes gar nichts weiß. Das an sich ist<br />
15<br />
EDiTioN SALzGEBEr (2)