Homosexual's Film Quarterly - Sissy
Homosexual's Film Quarterly - Sissy
Homosexual's Film Quarterly - Sissy
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sissy Ausgabe<br />
Homosexual’s <strong>Film</strong> <strong>Quarterly</strong><br />
sieben · September bis November 2010 · kostenlos<br />
s Sœur Sourire: Sing und bete! s Wunschkind: Ein Tippfehler namens Patrik s Daniel Schmid: Meister der Spezialeffekte s Paris-Orly:<br />
Bodenpersonnage s Nicht wissen wollen müssen: Kurzfilmer Stefan Butzmühlen s Herzoperation: Die Heimsuchungen des Sébastien<br />
Lifshitz s Im Taxi: Schwuler Sex bis zum Abwinken s Wasser und Blut: Schwul, schwarz und artsy s Poröser Schwellenkörper: Das<br />
Wolfsmaul s Lisa Cholodenko: Eine von der Gewerkschaft s LaBruce: A bloody mess s Mittwoch: Lass uns erst mal reden! s Sonntag:<br />
Küssen für England! s Das Kellerloch: Michael Sollorz flirtet in Saarbrücken s Regenbogennapf: Wiener Fundgrube
Gay-<strong>Film</strong>nacht<br />
im CinemaxX<br />
Kommst du mit ins Kino?<br />
Augsburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Berlin Potsdamer Platz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.00 Uhr<br />
Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Dresden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
17. SEPTEMBER<br />
Patrik 1,5<br />
von Ella Lemhagen<br />
TEILNEHMENDE KINOS UND UHRZEITEN<br />
15. OKTOBER<br />
Gay-Kurzfi lmnacht<br />
19. NOVEMBER<br />
Plein Sud<br />
von Sébastien Lifshitz<br />
Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Hamburg-Wandsbek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Hannover Niko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Kiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Magdeburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Mannheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20.15 Uhr<br />
WWW.GAY-FILMNACHT.DE<br />
Karten unter www.cinemaxx.de<br />
NEU: Einheitlicher Spieltermin<br />
für alle teilnehmenden Kinos!<br />
München. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Offenbach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Oldenburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Stuttgart an der Liederhalle . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Wuppertal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
<strong>Sissy</strong> sieben<br />
Es ist nicht zu übersehen – die SISSY ist etwas dick geworden. Aus<br />
schönem Anlass: Das überreiche queere <strong>Film</strong>angebot in den deutschen<br />
Kinos füllt dieses Mal mühelos bisherige 32 und weitere zwölf<br />
Seiten. Nicht nur, dass sowohl der Spielfilm- (The Kids Are All Right)<br />
als auch der Dokumentarfilm- (La Bocca Del Lupo) Teddy-Gewinner<br />
der diesjährigen Berlinale ins Kino kommen, auch das Spektrum<br />
ist atemberaubend. In den nächsten drei Monaten bringen zwei der<br />
renommiertesten Regisseure des französischen Kinos ihre neuen<br />
<strong>Film</strong>e nach Deutschland (Ozon, Lifshitz), es gibt queere Mumblecore-<br />
und Berliner-Schule-Beiträge, den lang erwarteten <strong>Film</strong> über<br />
den <strong>Film</strong>emacher Daniel Schmid, Zombie-Trash, Klassiker, Aufreger,<br />
Nischenfutter und gediegenes Arthouse-Kino. Und da ist noch<br />
nicht mal der Cannes-Gewinner dabei, den es auch ab September auf<br />
den Leinwänden zu bestaunen gibt: Apichatpong<br />
Weerasethakul, einer der aufregendsten<br />
Bildermacher unserer Zeit und Regisseur des<br />
Queer-Cinema-Klassikers Tropical Malady<br />
präsentiert Uncle Boonmee erinnert sich an<br />
seine früheren Leben. Darin verwandeln sich<br />
Männer in Frauen, Menschen in Tiere und<br />
Verstorbene in Geister – auch das ist ein Beitrag<br />
über die ständige Veränderbarkeit von<br />
Identitäten und sei an dieser Stelle einfach mal<br />
all jenen empfohlen, die im Kino tatsächlich<br />
neue Erfahrungen machen möchten.<br />
Erwähnen möchten wir außerdem, dass die<br />
SISSY als schwärmerisches Fachblatt für den<br />
nicht-heterosexuellen <strong>Film</strong> einen kleinen Bruder<br />
bekommen hat: vor Kurzem ist in den USA „Uncle Boonmee …“ ab 30. September im Kino (Movienet, www.movienetfilm.de).<br />
die erste Ausgabe von „Little Joe“ erschienen,<br />
„a magazine about cinema and queers, mostly“. Der Herausgeber<br />
Sam Ashby ist wie viele von uns noch maßgeblich von den VHS-<br />
Zeiten geprägt, in denen man in bestimmten, für sich selbst bedeutsamen,<br />
meist erotisch aufgeladenen Momenten das Band an einer<br />
bestimmten Stelle einfach anhielt und es damit (und durch mehrmalige<br />
Wiederholung des Vorgangs) auf Dauer zerstörte. Doch um diese<br />
Momente geht es eben, der SISSY genauso wie dem kleinen Joe. Beide<br />
Hefte gibt es im Buchladen Ihres Vertrauens, bestimmt auch in dem,<br />
den wir auf Seite 45 porträtieren.<br />
vorspann<br />
3
mein dvd-regal<br />
4<br />
Richard Dyer, <strong>Film</strong>wissenschaftler<br />
richard dyer<br />
5
kino<br />
Zum<br />
NieDeRkNieN<br />
von Jessica ellen<br />
Ende der 1950er Jahre flüchtet die lebenslustige Jeannine vor<br />
ihrer kontrollsüchtigen Mutter und den Avancen ihrer besten<br />
Freundin Annie ins Kloster, um ausgerechnet dort ein Schlagerstar<br />
zu werden. Die „Schwester des Lächelns“ gab es wirklich<br />
und ihr Hit „Dominique“ verdrängte damals Elvis und die<br />
Beatles aus den Charts. Stijn Coninx hat den Weg der singenden<br />
Nonne zur emanzipierten und lesbischen Frau in einem<br />
Spielfilm nachgezeichnet, der im September in der L-<strong>Film</strong>nacht<br />
laufen wird.<br />
s Gerade meine exkatholischen Freundinnen, die nicht selten Klosterschulen<br />
durchlitten haben, finden es seltsam, dass ich als jüdische<br />
(und lesbische) Cineastin ausgerechnet auf Nonnenfilme stehe. Aber<br />
mit meiner Schwäche für Nonnen bin ich wahrlich nicht allein: Schon<br />
vor Jahren erschien das spannende Büchlein „Schwesterlich, keusch<br />
und ohne Makel?“, herausgegeben von Samanta Maria, auf dessen<br />
Einband zwei küssende Nonnen zu sehen sind. Der Nonnenfilm ist<br />
tatsächlich ein eigenes, oft lesbisch konnotiertes Genre ohne männliches<br />
Pendant, wenn wir mal von Ausnahmen wie dem – schon in<br />
Umberto Eccos literarischer Vorlage – eher schwulenfeindlichen Der<br />
Name der Rose absehen.<br />
Der Nonnenfilm bot schon vielen weiblichen <strong>Film</strong>größen wie<br />
Deborah Kerr, Vanessa Redgrave, Audrey Hepburn, Glenda Jackson,<br />
Shirley Maclaine, Carmen Maura und zuletzt Barbara Sukowa in<br />
Margarethe von Trottas rundherum gelungenem Biopic Vision – Aus<br />
dem Leben der Hildegard von Bingen Gelegenheit, als Charakterdarstellerin<br />
im Habit zu glänzen.<br />
Cécile de France als Protagonistin in Sœur Sourire – Die singende<br />
Nonne ist da keine Ausnahme. Allein schon die Wandlung dieser schönen,<br />
leicht androgynen Schauspielerin vom bebrillten, verklemmten<br />
Baby Butch zur Nonne und schließlich zu einer gereiften Liebenden<br />
macht diesen <strong>Film</strong> unbedingt sehenswert.<br />
Kein Kind der 50er und 60er Jahre kam an ihrem Hit „Dominique“<br />
vorbei: Über die Belgierin Jeannine Deckers, genannt „Sœur<br />
Sourire“ oder „die singende Nonne“ und ihre Klampfe wurde schon<br />
damals, als sie noch lebte und auf dem Zenith ihres Ruhmes stand, ein<br />
Hollywood-<strong>Film</strong> mit dem Titel The Singing Nun gemacht. Sein Nachfolger<br />
Sœur Sourire ist nun keineswegs ein Remake, sondern erzählt<br />
die ganze Geschichte bis zum bitteren Ende.<br />
Mit einer Laufzeit von 120 Minuten ist der <strong>Film</strong> zwar lang, aber<br />
nie langatmig. Dabei nimmt er sich zwar ein paar künstlerische Freiheiten<br />
bei der „lächelnden Schwester“ heraus, wie z.B. dass sie bereits<br />
Gitarre spielt, als sie ins Kloster eintritt, während das reale Vorbild es<br />
erst im Kloster lernte; im Großen und Ganzen hält er sich aber an die<br />
biographischen Tatsachen und vermeidet Klischees.<br />
Fröhlich, wie der titelgebende Künstlername „Sœur Sourire“ und<br />
jenes Lied, das sie zum Popstar katapultierte, ist er allerdings nicht.<br />
Jeannine Deckers’ Tragik entsteht zwar nicht aus ihrem zunächst<br />
abgewehrten und später gelebten Lesbischsein oder ihrer Liebe zu<br />
einer bestimmten Frau, denn wie im wirklichen Leben ist beides kein<br />
Bollwerk gegen das Scheitern am Leben. Scheitern an einer Zeit, in<br />
der selbst das Gerücht, homosexuell zu sein, verbreitet von einer<br />
damals wie heute notorisch sensationsgeilen Presse, reichte, um den<br />
Job zu verlieren. Die lesbische Exnonne als Opfer? Oder eines jener<br />
eindimensionalen „Aufstieg und Fall“-Künstlerinnen-Biopics, wie sie<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
gerade im neueren französischen Kino (ich denke z.B. an Françoise<br />
Sagan, Edith Piaf u.a.) so häufig sind? So einfach macht es sich der<br />
<strong>Film</strong> nicht. Was hier verhandelt wird, ist vielmehr weibliche Kreativität<br />
und das damit verbundenen Geltungsbedürfnis, das sich an komplexen<br />
Strukturen aufreibt.<br />
Singende und komponierende Ordensschwestern an sich sind<br />
keine Erfindung der Neuzeit, sondern haben eine Jahrhunderte alte<br />
Tradition; hierfür ist die Äbtissin Hildegard von Bingen das bekannteste<br />
Beispiel. Doch dass eine Novizin aus der Masse des Chores heraustritt<br />
und mit ihrer individuellen Stimme in kürzester Zeit eine<br />
riesige Öffentlichkeit erreicht, ist ein Phänomen des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts, in dem die Kirche zugleich eine Chance zur Verbreitung<br />
ihrer Botschaft mit zeitgemäßen Mitteln, eine Einnahmequelle<br />
und ein Problem sieht. Das Problem ist die „Sünde des Hochmuts“,<br />
welche zu begehen diejenige in Gefahr ist, mit deren Gabe sich doch<br />
der Orden schmücken will.<br />
Deshalb wird die „singende Nonne“ zunächst anonym vermarktet,<br />
was einerseits den Ordensinteressen entgegenkommt, andererseits<br />
aber die Medien anstachelt, das Geheimnis um ihre Person zu<br />
lüften. Das funktioniert wie der Nonnenhabit selbst, der ja besonders<br />
die erotisch prickelnde Neugier darauf weckt, was sich wohl für ein<br />
Körper darunter verbirgt. Für Jeannine ist das Gewand ein Schutz<br />
vor der eigenen schlaksigen Körperlichkeit, dem eigenen unbeholfenen<br />
Begehren. So ist ihre Enttarnung eine zwiespältige Erfahrung,<br />
die sie gleichwohl genießt wie den Ruhm, von dem sie nicht will, dass<br />
er ihr und ihrem erwachenden Ehrgeiz vorenthalten wird. Sie hat Blut<br />
geleckt und weiß sich zu behaupten. Das plötzliche Interesse ihrer<br />
Mutter, die ihre Tochter eigentlich nicht wiedersehen wollte, sollte<br />
diese ins Kloster gehen, durchschaut sie sofort und weist es zurück.<br />
Jeannine ist kein Opfer.<br />
Es gibt immer wieder Menschen, die an Jeannine glauben; sogar<br />
die Mutter Oberin, die ihr zunächst die Gitarre wegnimmt und sie<br />
ziemlich brutal diszipliniert, berücksichtigt ihre Wünsche dann doch<br />
und will sie halten. Das tut sie zwar nicht ohne finanziellen Eigennutz<br />
und mit dem liberalen Rückenwind des Zweiten Vatikanischen<br />
Konzils, aber ein auf Hierarchien und Gehorsam beruhendes System<br />
verträgt nun mal nicht allzu viel Dissens. Außerdem war Jeannine<br />
– im Gegensatz zu früheren Frauengenerationen – freiwillig und aus<br />
Überzeugung ins Kloster gekommen.<br />
Jeannines Beichtvater, den sie ziemlich rüde aus dem Beichtstuhl<br />
zerrt und unter Vorwürfen gegen die Wand drückt, lässt sich dadurch<br />
nicht einschüchtern und ermutigt sie sogar, wenn auch indirekt, ihren<br />
lesbischen Neigungen zu folgen.<br />
Ihr Manager versucht alles, um Jeannines Karriere zu retten,<br />
aber gegen Feigheit und Opportunismus der Konzertagenturen ist er<br />
genauso machtlos wie gegen Jeannines Enttäuschung und Kränkung.<br />
Der Regisseur Stijn Coninx interpretiert Jeannine als eine Frau<br />
voller Widersprüche. Provokant und ängstlich, stolz und selbstzweiflerisch,<br />
freiheitsliebend und auf der Suche nach einer festen<br />
Struktur, die sie hält und vor sich selbst schützt. Unentschlossen und<br />
voller Sehnsucht nach Verbindlichkeit, ist sie ständig auf der Flucht:<br />
Vor der lieblosen Mutter flieht sie mit der Schwester im Tagtraum<br />
nach Afrika, vor der Verliebtheit ihrer Freundin auf der Kunsthochschule,<br />
die für Selbstverwirklichung steht, hinter die Klostermauer<br />
zur Selbstverneinung, zu der sie aber auch nicht fähig ist. Sie rebelliert,<br />
besteht auf ihre individuelle Kreativität, wird berühmt, verlässt<br />
das Kloster und zieht, noch immer voller Abwehr, mit ihrer Freundin<br />
zusammen. Mit allem ist sie vollständig überfordert. Am meisten<br />
jedoch damit, dass ihre Karriere, die so phänomenal begann, an eben<br />
jenen Instanzen scheitert, die sie anfangs förderten – den Medien<br />
und der Kirche. Ohne ihr Habit ist sie einfach nur eine junge Frau<br />
mit einer guten Stimme. Ihre brave Musik und Kleidung langweilen<br />
die Popfans, ihr Loblied auf die Pille ruft die katholische Kirche<br />
auf den Plan, die es der verlorenen Tochter heimzahlen will. Zudem<br />
hat sie versäumt, sich die riesigen Summen, die sie verdient hat und<br />
die ihr Orden für sich einstrich, quittieren zu lassen. So fordert das<br />
Finanzamt entsprechende Steuern von ihr, die sie nicht zahlen kann<br />
– die einzige Stelle im <strong>Film</strong>, an der Verzweiflung mit harmonischen<br />
Bildern verliebter Zweisamkeit zugekleistert wird. Schließlich nimmt<br />
sie sich mit ihrer Freundin in ihrem Haus das Leben – dezent werden<br />
die Rollläden davor heruntergelassen. Ihre Schwester, die tatsächlich<br />
als Ärztin nach Afrika gegangen ist, erhält ihren stark beschönigenden<br />
Abschiedsbrief. So endet Jeannines Leben, wie sie es gelebt hat:<br />
in dem Widerspruch, als immer noch gläubige Katholikin den Suizid<br />
zu wählen, den die Kirche verdammt.<br />
Warum dieser <strong>Film</strong> mich besonders berührt? Meine katholische<br />
Großmutter Hilde, Jahrgang 1906, zweifelte als Mädchen in Wien<br />
lange, ob sie ins Kloster oder auf die Bühne bzw. vor die Kamera wollte.<br />
Ähnlicher Konflikt, doch andere Lösung: Sie wurde Schauspielerin<br />
und spielt mit besonderer Hingabe Nonnen, deren Alltag sie persönlich<br />
und mit Wohlgefallen bei Klosteraufenthalten recherchierte. An<br />
einen ihrer <strong>Film</strong>titel erinnere ich mich noch, weil er so schön klang:<br />
Ave Maria. An seine Seite ist nun Sœur Sourire getreten. s<br />
Sœur Sourire –<br />
Die singende Nonne<br />
von Stijn Coninx<br />
FR 2009, 124 Minuten, dt. SF<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
L-<strong>Film</strong>nacht am 24. September<br />
www.l-filmnacht.de<br />
Anschließend in ausgewählten Kinos<br />
6 7<br />
kino<br />
EDiTioN SALzGEBEr (2)
kino<br />
SchwieRigeS<br />
AlteR<br />
von Maike schultz<br />
Männer mit Kinderwunsch sind eine rarität im schwulen <strong>Film</strong>. „Patrik 1,5“ will das ändern – mit einer so<br />
charmanten wie ungewöhnlichen Patchwork-Familien-Komödie, die im September in der Gay-<strong>Film</strong>nacht und<br />
danach in ausgewählten Kinos zu sehen sein wird.<br />
8<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
s Was für eine Wohltat! Nicht nur das lesbische Kino, auch das<br />
schwule hat sich also auf die Fortpflanzungsproblematik eingeschossen.<br />
Nachdem einem jüngst viele Kurzfilme (eigentlich das innovativste<br />
Genre) den lesbischen Kinderwunsch in so vielen Variationen<br />
vorsetzte, dass einem nun wirklich jede Sehnsucht nach Befruchtung<br />
vergehen konnte, kommt nun dieser kleine, feine <strong>Film</strong> aus Skandinavien<br />
daher. Und siehe da, diesmal sind es zwei Männer, die in die Vorstadtsiedlung<br />
gezogen sind, um ihren Traum von Haus, Garten und<br />
Baby zu leben. Wurde ja auch Zeit, 22 Jahre nach Paul Bogarts <strong>Film</strong><br />
Torch Song Trilogy – Das Kuckucksei, in dem Harvey Fierstein ein<br />
Kind mit Matthew Broderick adoptierte.<br />
Zwar ist die Sehnsucht nach Bürgerlichkeit unter Schwulen kein<br />
neues Phänomen. Dass ein Kinofilm sich dieses Themas annimmt,<br />
passiert dagegen äußerst selten, und so überrascht es dann doch wieder<br />
wenig, dass die Idee für Patrik 1,5 von einer Frau stammt. Ella<br />
Lemhagen, Drehbuchautorin und Regisseurin (Tsatsiki – Tintenfische<br />
und erste Küsse) aus Stockholm, erzählt darin die Geschichte der<br />
Schweden Göran und Sven, eines jener wohlsituierten Ehepaare, wie<br />
sie im Vorortidyll an jeder Ecke wohnen. Nur dass diese Orte meist<br />
ziemlich heteronormativ geprägt sind. Besonders der von Arzt Göran<br />
und Unternehmer Sven, in dem sogar eine Bürgerwehr für Recht und<br />
Ordnung sorgt. Wunderbar selbstverständlich siedelt Lemhagen ihre<br />
Protagonisten mitten im Wahnsinn dieses Beziehungs-Mainstreams<br />
an; blumenverkitscht wie in der schönsten Hollywood-Romanze, aber<br />
abgründig, wie es wohl nur die US-Fernsehserie Desperate Housewives<br />
besser kann.<br />
Da ist zum Beispiel der Nachbar, der sich weigert, seine Kinder<br />
von Göran behandeln zu lassen. Ein anderer wiederum hält Görans<br />
niederschmetternde Diagnose vor seiner Frau geheim und erträgt lieber<br />
stillschweigend ihre Affäre mit dem Familienvater von gegenüber;<br />
jener promiske Vater, der das schwule Traumpaar nicht zur Gartenparty<br />
einlädt, im Grunde aber selbst nichts gegen einen jungen Liebhaber<br />
hätte. Vor allem aber sind da Göran und Sven, die sich nichts<br />
sehnlicher wünschen als ein Kind, um ihr Glück perfekt zu machen.<br />
Sven hat sogar schon eines, eine Tochter aus früherer Ehe, mitten<br />
in der Pubertät und nicht eben froh über den Lebenswandel ihres<br />
Herrn Papas. Vielleicht wirkt dieser deshalb etwas weniger enthusiastisch<br />
als sein Gatte, der am liebsten täglich in der Adoptionsbehörde<br />
vorsprechen würde. Als das Amt endlich einwilligt und per Brief einen<br />
kleinen „Patrik 1,5“ verspricht, ist die Freude bei beiden groß – und<br />
umso größer die Irritation, als wenige Tage später ein 15-Jähriger vor<br />
der Tür steht. Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Problemkind! Dass<br />
es nichts wird mit dem Babywunsch, ist hier ausnahmsweise mal<br />
nicht der Sexualität der Antragsteller, sondern allein einem menschlichen<br />
Versagen verschuldet: Ein schlichter Tippfehler holt Göran und<br />
Sven einen homophoben Kleinkriminellen ins Haus, der die ganze<br />
Welt, vor allem aber seine neuen Zieheltern hasst. Da können sie lange<br />
hoffen, dass es sich bei ihrem Patrik um eine Verwechslung handeln<br />
muss. Fortan brauchen sie ihre „Babywatch“-Kamera zur Überwachung<br />
eines verstoßenen, schwer erziehbaren Gewalttäters, der doch<br />
eigentlich nichts anderes will, als endlich geliebt zu werden.<br />
Nun kann man sich schon denken, wohin der Hase läuft in dieser<br />
<strong>Film</strong>handlung, in der die Streithähne doch viel voneinander lernen<br />
können. Jene Vorurteile, die es Patrik so schwer machen, die Männer<br />
zu akzeptieren, sind es natürlich auch, die letztlich alle verbinden:<br />
Immerhin gehören beide Parteien einer Minderheit an, die sich<br />
den Respekt ihrer Umwelt erst erkämpfen muss, was Patrik und<br />
Göran dann auch zunehmend zusammenschweißt. Im Grunde ist das<br />
Kuckuckskind nämlich ein ziemlich lieber Kerl, der viel mehr über<br />
Hortensienpflege weiß, als seine „Fuck you, you fucking fuck!“-Shirt-<br />
Attitüde je erahnen lassen würde. Eine herrliche Szene ist das, wenn<br />
das komplette Viertel den Adoptivsohn als Gärtner anheuert, der sich<br />
kurz zuvor noch als Schreck ihrer „Homos, Homos!“ krähenden Kinder<br />
erwiesen hat. Nur Sven tut sich mit dem Rabauken schwer, oder<br />
vielleicht auch damit, dem Patchwork-Familienleben zuliebe seine<br />
Freiheit zu opfern. Schon bald sehnt sich der überforderte Macho<br />
nach seinem alten Partyleben in der Stadt zurück – und stellt seine<br />
Beziehung mit einer Flucht auf eine harte Bewährungsprobe.<br />
So gelingt es Ella Lemhagen, aus einem simplen dramaturgischen<br />
Einfall ein Drama zu kreieren, das auf vielen verschiedenen Ebenen<br />
funktioniert. Völlig zu Recht erhielt ihr vierter Spielfilm den Zuschauerpreis<br />
beim San Fancisco International Lesbian & Gay <strong>Film</strong> Festival<br />
und den Hauptpreis beim Verzaubert Festival, das er 2009 eröffnete:<br />
Schonungslos entlarvt sie die Verlogenheit des schönen Scheins,<br />
in dem sich die Nachbarschaft des Männerpaares ihr warmes Nest<br />
errichtet hat. Und nicht minder behutsam nutzt sie den pöbelnden<br />
Teenager in diesem Mikrokosmos als Spiegel, um ein Psychogramm<br />
der beiden Hauptfiguren zu zeichnen. Während der schüchterne<br />
Göran gemeinsam mit Patrik einen Weg findet, sich als Außenseiter<br />
gegen die Spießer um ihn herum zu wehren, wird Sven durch die komplizierte<br />
Erziehungsaufgabe mit seiner ureigenen Angst vor Verantwortung<br />
konfrontiert. In seiner ungewöhnlichen Erfüllung entzweit<br />
der Zukunftstraum die liebenden Partner, Bedürfnisse kollidieren<br />
im Alltag, und plötzlich beginnt der Zuschauer sich zu fragen, ob ein<br />
Anderthalbjähriger die Sache eigentlich viel besser gemacht hätte.<br />
Selbst das Happy-End ist glücklicherweise nicht so angelegt, wie<br />
es nach all den Irrungen und Wirrungen vielleicht erwartbar gewesen<br />
wäre, und so weiß man gar nicht, ob man denn nun lachen oder<br />
weinen soll. Was bleibt ist der Wunsch, noch viel mehr <strong>Film</strong>e wie<br />
diesen zu sehen: Zwei Schauspieler, die mit Berlinale-Shooting-Star<br />
Gustaf Skarsgård als Göran und Torkel Petersson (Kops) als Sven<br />
keine schwulen Abziehbilder, sondern einfach die netten Typen von<br />
nebenan verkörpern. Und das authentische Porträt einer Generation,<br />
die das Coming-Out schon hinter sich hat, mitten im Leben steht und<br />
sich dort angekommen fragen muss, was sie von diesem eigentlich<br />
erwartet. Schließlich ist nichts so spannungsgeladen wie vermeintliche<br />
Normalität. s<br />
Patrik 1,5<br />
von Ella Lemhagen<br />
SE 2008, 105 Minuten, OmU<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht am 17. September<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
Kinostart: 7. Oktober<br />
kino<br />
9<br />
EDiTioN SALzGEBEr
kino<br />
Aus der traurigkeit heraus<br />
von angelika nguyen<br />
Aus dem Nichts heraus trifft Marion die Entscheidung, mit 50 noch einmal ihr Leben zu ändern und verlässt<br />
ihre Familie für eine andere Frau. Doch auch Claude hat zu viel erlebt, als dass sie sich umstandslos auf<br />
eine neue Liebe einlassen könnte. Der französische <strong>Film</strong> „out of The Blue“ über zwei reife und komplexe<br />
Frauen und ihre Entscheidung für einen neuen Lebensabschnitt begeisterte in Frankreich das Publikum und<br />
die Presse und läuft im oktober in der L-<strong>Film</strong>nacht. Allein die beiden Hauptdarstellerinnen Mireille Perrier<br />
(„orly“) und rachida Brakni („Barakat!“) sind das Drama wert!<br />
s Programmatisch beginnt der <strong>Film</strong> mit Marions Spiegelbild, das<br />
sie kritisch mit ihren fast 50 Jahre alten Augen betrachtet. So intensiv<br />
und traurig sieht Marion sich an, dass die Zuversicht erwacht, hier<br />
ginge es nicht nur um kosmetische Probleme. Das wird belohnt, denn<br />
fünf Minuten später trennt Marion sich von Paul, nach über 20 Jahren<br />
Ehe.<br />
Sie zieht in eine eigene Wohnung und reserviert auch der 17-jährigen<br />
Tochter Justine ein Zimmer. Als Marion dann der schönen Antiquitätenhändlerin<br />
Claude mit den großen Augen begegnet, nähern sie<br />
sich zunächst einander an wie tagtäglich viele Frauen – mit Sympathie<br />
und ähnlichen Sorgen. Sie lachen zusammen über ihre Erfahrungen<br />
als Ehefrauen. Sie machen sich gegenseitig Komplimente über ihre gut<br />
in Schuss gehaltenen Körper. Erst auf einer gemeinsamen Reise stellt<br />
sich der Verdacht ein, es könne sich um romantische Liebe handeln,<br />
es ginge um Verlangen, Sinnlichkeit, gar Sex – und um all die Kämpfe<br />
einer regelrechten Amour Fou. Bin ich’s oder bin ich’s nicht? Diese<br />
Frage reißt die eher bürgerliche Marion in eine tiefe Verunsicherung.<br />
Coming-Out. Out Of The Blue. Wird Marion herauskommen?<br />
Normalerweise ist beim Verlieben die Welt doch ein einziges Ja.<br />
Ja zur begehrten Person, Ja zur Welt, Ja zu allem, was den anderen<br />
oder die andere ausmacht. Ja, ja, ja. Die Liebe zwischen Marion und<br />
Claude hingegen beginnt mit einem Nein. Von beiden Seiten. Denn<br />
Marion will nicht lesbisch sein, und Claude, die in Trauer ist, will<br />
nicht noch einmal solche Schmerzen erleben. Diese Liebe hier überfällt<br />
die Frauen nicht wie ein Raubtier, benimmt sich eher wie ein<br />
scheues Reh. Für’s Erste verursacht sie Rückzug und Kontaktabbruch.<br />
Und selbst später, nach der ersten gemeinsamen Nacht, fühlt Marion<br />
sich immer noch fremd in dieser Gleichgeschlechtlichkeit. „Ich fühle<br />
mich wie ein Mutant“, sagt sie zu Claude. Dabei steht Marion sonst<br />
selbstbewusst im Leben, arbeitet engagiert als Lehrerin. Statt sich in<br />
ihre Gefühle fallen zu lassen, reflektiert sie darüber. Auch ihrer Toch-<br />
10<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
ter will sie es nicht sagen. Am Ende hilft ein schwerer Unfall den beiden,<br />
sich füreinander zu entscheiden.<br />
Out Of The Blue ist in gewisser Weise ein politischer Liebesfilm.<br />
Regisseur Alain Tasma verstand sich schon zuvor als politischer <strong>Film</strong>emacher,<br />
als er einen dokumentarischen Spielfilm über das französische<br />
Nationaltabu des 17. Oktober 1961 drehte, den Tag des Massakers<br />
französischer Polizisten an Hunderten algerischer Demonstranten.<br />
La Surprise, so der Originaltitel, ist kein Lesbenfilm für das<br />
Independent-Kino, sondern einer für ein breiteres TV-Publikum. So<br />
ist der <strong>Film</strong> durchweg auch ein bisschen Aufklärung, beispielsweise<br />
durch die Abarbeitung von Vorurteilen wie jenen von Marions Ex-<br />
Mann („Dann lass uns einen Dreier machen!“) oder konservativer<br />
Haltungen der Tochter („Ihr widert mich an!“), des Widerstandes<br />
von Marion in sich selbst. Vielleicht wird deshalb manchmal mehr<br />
miteinander geredet als erlebt. Marions und Claudes Sinnlichkeit<br />
füreinander bleibt unter den Kleidern verborgen, die sie öfter an- als<br />
ausziehen, Sexszenen gibt es keine. Es ist ein <strong>Film</strong>, der vor allem den<br />
Prozess einer Bewusstwerdung zeigen will. Eine Frau schwimmt ans<br />
andere Ufer, will manchmal umkehren, manchmal lieber untergehen.<br />
Liebe passiert einfach jenseits von Ideologie, erzählt der <strong>Film</strong>.<br />
Besonders Mireille Perrier als Marion zeigt schmerzhaft und<br />
genau den inneren Kampf einer Frau, die gleichgeschlechtliche Verliebtheit<br />
zunächst als Identitätskrise erlebt.<br />
Die Darstellerin der Claude, Rachida Brakni spielt wiederum dramatisch<br />
herb und extrem verletzbar die ganz normale Furcht eines<br />
Menschen, sich nach einer kaum überstandenen großen Liebe neu<br />
auf jemanden einzulassen. So sind die Hindernisse beidseitig, aber<br />
auch die Annäherungen. Wenn die eine das letzte Mal den Kontakt<br />
abbrach, knüpft ihn die andere neu. Zu Ende ist es nie. s<br />
Out Of The Blue<br />
von Alain Tasma<br />
FR 2007, 90 Minuten, OmU<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
L-<strong>Film</strong>nacht am 29. Oktober<br />
www.l-filmnacht.de<br />
L-<strong>Film</strong>nacht<br />
im CinemaxX<br />
Gute <strong>Film</strong>e, lange Nächte, viel L-Gefühl!<br />
Augsburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Berlin Potsdamer Platz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.00 Uhr<br />
Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Dresden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
24. SEPTEMBER<br />
Sœur Sourire – Die singende Nonne<br />
von Stijn Coninx<br />
29. OKTOBER<br />
Out Of The Blue<br />
von Alain Tasma<br />
26. NOVEMBER<br />
L-Kurzfi lmnacht<br />
TEILNEHMENDE KINOS UND UHRZEITEN<br />
Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Hamburg-Wandsbek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Hannover Niko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Kiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Magdeburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Mannheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20.15 Uhr<br />
WWW.L-FILMNACHT.DE<br />
Karten unter www.cinemaxx.de<br />
NEU: Einheitlicher Spieltermin<br />
für alle teilnehmenden Kinos!<br />
München. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Offenbach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Oldenburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Stuttgart an der Liederhalle . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr<br />
Wuppertal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr
kino kino<br />
ich biN<br />
Nicht DeR<br />
mARkt.<br />
interview: Paul schulz<br />
im oktober wird es eine Gay-<strong>Film</strong>nacht, im November eine<br />
L-<strong>Film</strong>nacht nur mit Kurzfilmen geben. Das heißt: junges queeres<br />
<strong>Film</strong>schaffen von heute, zum Teil frisch von den <strong>Film</strong>hochschulen<br />
dieser Welt. Nachdem wir in der SiSSY 4 schon mal<br />
eine junge <strong>Film</strong>emacherin über die Bedingungen, Freiheiten<br />
und Widerstände befragt haben, am Anfang der regie-Karriere<br />
mit queeren Themen zu jonglieren, sprechen wir diesmal mit<br />
Stefan Butzmühlen, der regie an der Hochschule für <strong>Film</strong> und<br />
Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam studiert und dort den<br />
Kurzfilm „Nach Klara“ gedreht hat, der in der Gay-Kurzfilmnacht<br />
im oktober zu sehen sein wird.<br />
Herr Butzmühlen kommt ein bisschen zu spät, weil sich das Wetter in<br />
Berlin-Kreuzberg nicht entscheiden kann, ob es jetzt Sturzbachregen<br />
oder Spätsommer sein möchte. Als er sein Fahrrad angeschlossen hat,<br />
ist er ein bisschen nass, aber ziemlich fröhlich. Er raucht während des<br />
gesamten Gesprächs, macht lange Denkpausen, bevor er antwortet,<br />
und lächelt viel.<br />
sissy: Sag mal, wie arrogant muss man eigentlich sein, um „<strong>Film</strong>regisseur“<br />
werden zu wollen?<br />
Stefan Butzmühlen: Nicht so sehr, glaube ich. Natürlich muss ein<br />
gewisses Grundbedürfnis vorhanden sein, sich ausdrücken zu wollen,<br />
und Dinge in die Welt zu stellen. Und es gibt auf der Hochschule auch<br />
einige, die das falsch verstehen und sich vor allem dabei toll vorkommen,<br />
beim <strong>Film</strong> zu sein.<br />
Aber ist <strong>Film</strong>emachen nicht etwas unglaublich Narzisstisches?<br />
Wenn man es so versteht, dass man sich gerne viel mit sich selbst<br />
beschäftigt und seine daraus resultierende Sicht auf die Welt im <strong>Film</strong><br />
zur Disposition stellt, dann muss Narzissmus ja überhaupt nichts<br />
Negatives sein.<br />
Was hast du auf der <strong>Film</strong>hochschule gelernt?<br />
Um ehrlich zu sein, habe ich da bisher gar nicht soviel gelernt wie ich<br />
dachte. Ich bin da auch nicht wirklich oft. Ich hatte mir das alles ein<br />
bisschen anders vorgestellt.<br />
Wie denn?<br />
Ich habe gedacht, wir reden im Studium mehr über <strong>Film</strong>, tauschen<br />
uns aus, loten Möglichkeiten aus, wie man Sachen anders machen<br />
kann. Davon passiert aber nicht viel.<br />
Was passiert denn?<br />
Es wird viel geredet von einem Handwerk …<br />
Aber ist <strong>Film</strong>regie das nicht auch?<br />
Ja, auch. Aber ich weiß gar nicht so genau, ob man das wirklich jedem<br />
gleich beibringen kann. Wenn von Handwerk die Rede ist, geht es<br />
eigentlich immer um das Handwerk Hollywoods, sozusagen als<br />
Grundweisheit – aber ein Schreiner muss doch ein anderes Handwerk<br />
lernen als ein Schlosser und da komm ich mir einfach manchmal wie<br />
in der falschen Lehre vor und denke, dass man sich mit mehr auseinandersetzen<br />
könnte …<br />
STEFAN BuTzMüHLEN<br />
Und das unterstützt die Hochschule nicht?<br />
Eigene Sichtweisen stehen nicht unbedingt im Vordergrund, nein. Ich<br />
habe das Gefühl, man soll da eher auf „den Markt“ vorbereitet werden.<br />
Und ich bin nicht der Markt.<br />
Sondern?<br />
Ich kann mit Genrebegriffen nicht so viel anfangen und kann meine<br />
Geschichten in diesen Grenzen auch nicht so gut erzählen.<br />
Was für Geschichten sind das?<br />
Ich bin ein eher unsicherer Mensch. Sich hinzustellen und zu sagen<br />
„So ist das!“, ist nicht meine Art. Ich mag die Zwischenstufen im Leben<br />
gern. Die Räume und Momente, wo Platz für Möglichkeiten ist.<br />
Ist es als Regisseur nicht eher unpraktisch, unsicher zu sein?<br />
Unsicherheit ist vielleicht auch das falsche Wort. Zweifel trifft es eher.<br />
Ich zweifle gern. Und erzähle auch gern davon. Weil ich Zweifel einen<br />
wichtigen Motor im Leben finde, für Entwicklung und Bewegung. Ich<br />
mag es ganz gerne, wenn man Dinge nicht so genau weiß, wenn nicht<br />
alles in drei Akten aufgefädelt wird, wenn die Figuren nicht sind wie<br />
ein offenes Buch und man dem Publikum nicht vorschreibt, was es<br />
zu empfinden hat. Ich mag es, Gegenbilder zum Allgemeingültigen zu<br />
zeigen.<br />
EINSCHUB: Genau für diese Qualität ist Butzmühlen gerade ausgezeichnet<br />
worden. Sein Kurzfilm „Nach Klara“ hat bei den 56. Kurzfilmtagen<br />
in Oberhausen den 3sat-Förderpreis bekommen. Die Jury<br />
begründet ihre Entscheidung so: „Ein junger Mann erlebt das Gefühl<br />
des Begehrtwerdens. Mit formaler Leichtigkeit inszenierte Momentaufnahmen<br />
aus dem Leben eines jungen Mannes, der nach sexueller<br />
Orientierung sucht und sich doch nur dem flüchtigen Augenblick hingeben<br />
kann.“ Das Schöne: Butzmühlen belässt es bei der Suche, Ergebnis:<br />
offen. Wir verlassen den Protagonisten, während er noch nicht<br />
weiß, ob er „Nach Klara“ jetzt schwul wird oder nicht. Es gibt da einen<br />
Mann, den er wirklich mag, aber rauszufinden, ob er wirklich öfter als<br />
das erste schöne Mal mit dem schlafen will, ist erst mal wichtiger als<br />
sich gleich eine neue Identität überzustülpen. Dadurch erhält „Nach<br />
Klara“ ein schwebende Qualität, die nicht nur professionelle Jurys<br />
beeindruckt.<br />
Ist es leicht, auf der <strong>Film</strong>hochschule für diese Haltung Mitstreiter zu<br />
finden?<br />
Ja und nein. Ich habe ein paar Leute, mit denen ich schon relativ lange<br />
zusammenarbeite und die ich gut kenne. Meine Cutterin Maja Tennstedt<br />
zum Beispiel. Aber sonst ist das nicht so einfach. Nach Klara war<br />
eine schwierige Arbeit, weil ich bis auf Maja nicht mit meinen Leuten<br />
arbeiten konnte, mit denen ich vor der Hochschule angefangen habe<br />
<strong>Film</strong>e zu machen, sondern mit anderen drehen musste.<br />
Wie kommt das?<br />
Die Projekte werden folgendermaßen zusammengestellt: Es gibt eine<br />
große Vorstellungsrunde vor dem gesamten Jahrgang. Alle versammeln<br />
sich im Kino der Hochschule und jeder Regisseur stellt sein<br />
Projekt vor. Dann wartet er auf seinem Platz darauf, wer sich zu ihm<br />
gesellt, weil er den potentiellen <strong>Film</strong> auch spannend findet.<br />
Klingt wie die Auswahl beim Schulsport. Mit dem altbekannten Gefühl<br />
„Lieber Gott, lass mich hier nicht als Letzter alleine stehen, bitte!“<br />
Fühlt sich auch ein bisschen so an.<br />
Wollten bei „Nach Klara“ viele mitspielen?<br />
Es ging so (lacht). Überrannt worden bin ich nicht gerade. Aber es gab<br />
andere interessante Reaktionen. Nach der Vorstellung des Projekts<br />
ging das Getuschel los: „Der Stefan ist also schwul, aha.“<br />
Ist das ein Problem?<br />
Nein. Ich finde das eher interessant (lacht).<br />
Was bist du denn?<br />
Nach Klara hat einen autobiografischen Einschlag: Es gab diesen<br />
Mann, der mich wollte und das hat mir gefallen. Und es gibt diese<br />
Verunsicherung in mir, dieses Gefühl, es nicht zu wissen. Und auf der<br />
anderen Seite auch das Bedürfnis, gar nicht wissen wollen zu müssen.<br />
Ich habe gerade eine Freundin und das ist wunderschön und passt<br />
total. Aber die queere Szene ist sehr wichtig für mich. Weil es da eben<br />
bestimmte Fragen gibt: Bin ich schwul, weil ich mal mit Männern<br />
schlafe? Bin ich hetero, weil ich eine Frau liebe? Ist das nicht egal,<br />
ist Identität so unglaublich wichtig? Und wenn doch: Wie stabil sind<br />
solche Begriffe wie schwul oder hetero, wie viel davon lässt man sich<br />
von außen vorschreiben, wie viel kommt aus einem selbst?<br />
Wie fortschrittlich.<br />
Ach was. Ich kann ja nur die Geschichten erzählen, die ich auch verstehe.<br />
Und mit meiner kleinen <strong>Film</strong>familie kann ich das halt. Ich fühle<br />
mich da aufgehoben und erkannt und gut. Und deswegen war es so<br />
schwer, Nach Klara mit Leuten umzusetzen, denen dazu gar nichts<br />
einfällt. <strong>Film</strong>, so wie ich ihn gerne mache, ist ein Prozess, bei dem<br />
man gemeinsam herausfindet, wie es geht. Anderen vorzuschreiben<br />
zu müssen, wie sie Dinge machen sollen, find ich nicht gut. Ich mag es,<br />
wenn Menschen eigene Ideen haben und die mitbringen.<br />
Wie war denn das Echo auf der HFF, als der <strong>Film</strong> fertig war?<br />
Es sind ein paar zurückhaltend freundliche Dinge gesagt worden.<br />
Aber es wurde schon gefragt, warum ich nicht stringenter erzähle<br />
und mein Publikum so im Unklaren lasse.<br />
Als der <strong>Film</strong> dann auf Festivals lief und sogar Preise gewann, wie war<br />
das?<br />
Schön. Ich muss gestehen: eine Genugtuung, irgendwie.<br />
Es gab in den letzten zwei Jahren eine ganze Reihe interessanter Kurzfilme<br />
von der HFF, die mehr oder weniger eine schwule oder queere<br />
Thematik hatten, und die jetzt zusammen mit „Nach Klara“ auf einer<br />
DVD gelandet sind. Fühlst du dich gut aufgehoben und gibt es so was<br />
wie ein queeres Netzwerk an der Hochschule?<br />
Ein queeres Netzwerk würde ich nicht sagen. Mit Josephine Frydetzki<br />
aber z.B., die mit B96 mit auf der DVD vertreten ist, habe ich vor<br />
zwei Jahren einen <strong>Film</strong>club gegründet, während ich mit Florian Gottschick,<br />
der Zwillinge gemacht hat, einfach nicht soviel zu tun habe.<br />
Mein Netzwerk ist eher außerhalb der Hochschule.<br />
Gay-Kurzfilmnacht mit den <strong>Film</strong>en „Nach Klara“,<br />
„Wofür hältst du mich?“, „Traurige Jungs tanzen,<br />
wenn niemand hinsieht“, „Die Schwanzwand“, „Speed<br />
Dating“ und „Billys Dad ist ein Nougatstecher“<br />
Im Kino<br />
Gay-Kurzfilmnacht am 15. Oktober<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
L-Kurzfilmnacht mit den <strong>Film</strong>en „Trophy“, „Liebste<br />
Prinzessin Leben“, „Babysitting Andy“, „Dani & Alice“,<br />
„Don’t mess with Texas“ und anderen<br />
Im Kino<br />
L-Kurzfilmnacht am 26. November<br />
www.l-filmnacht.de<br />
Kleine Vandalen<br />
schwule Kurzfilme<br />
D/CH 2007–2010, 109 Minuten,<br />
dt. OF<br />
Auf DVD<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
12 13
kino<br />
OFFeNe<br />
köRpeR<br />
von Jan küneMund<br />
Sébastien Lifshitz hat mit „Plein Sud“ (im November in der<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht, danach in ausgewählten Kinos) nach sechs<br />
Jahren endlich wieder einen <strong>Film</strong> gedreht. Während die Kritik<br />
Schwierigkeiten hat, seine riskanten und doch im Arthouse<br />
verwurzelten <strong>Film</strong>e zu würdigen, sind vor allem „Sommer wie<br />
Winter …“ und „Wild Side“ zu Klassikern des Queer Cinema<br />
geworden. Ein Versuch über das Kino des französischen regisseurs.<br />
14<br />
1.<br />
Seine Mutter habe die Kinder ständig fotografiert, erzählt<br />
Lifshitz. Abzüge gemacht, vergrößert und die Fotos schließlich<br />
an die Wand gehängt. Aber da sie von der Fotografie geradezu<br />
besessen gewesen war, hätte ihr das nicht gereicht. Also hat sie die<br />
Fotos zerschnitten und auf einem großen Bogen Papier die Fragmente<br />
zusammengeklebt, zu Mosaiken, zu Geschichten.<br />
Die Mutter – die Fotos – die zerschnittenen Porträts, von denen<br />
man tagtäglich umgeben war. Eigentlich ist das zu schön, um wahr zu<br />
sein und das als Einleitung zum Porträt eines queeren <strong>Film</strong>emachers<br />
zu verwenden.<br />
Das Queer Cinema ist das Versprechen eines Kinos, das<br />
2. nicht auf Identität fixiert ist. Es will seine Figuren nicht<br />
festlegen auf das Mann-Sein, Frau-Sein, Schwul-Sein, Lesbisch-Sein,<br />
Weiß-Sein, Arm-Sein, Schön-Sein. Darin keine Folie sehen, vor der<br />
etwas Melodramatisches passiert. Nicht nur dabei zusehen, wie seine<br />
Figuren Identität erlangen oder verfehlen, gegen die Welt, gegen die<br />
widrigen Umstände, auf sich allein gestellt große „Ich“-Entscheidungen<br />
fällend. Obwohl das Coming-Out in den meisten <strong>Film</strong>en eine<br />
Identitätserzählung ist, die abbricht, wenn die Hauptfigur endlich<br />
„ich“ sagt und die danach scheinbar nichts mehr zu erzählen hat,<br />
ist Sébastien Lifshitz mit Sommer wie Winter … (Presque rien) ein<br />
Coming-Out-<strong>Film</strong>-Klassiker gelungen, der es nicht bei der Coming-<br />
Out-Erzählung belässt, sondern seine Hauptfigur mit einem Reichtum<br />
an Geheimnissen und ungelösten Widersprüchen ausstattet. Schöner<br />
kann das eigentlich nicht laufen, ein 18-jähriger, gefühlskalter Junge<br />
in den Sommerferien, der einen anderen, aber gefühlvollen 18-Jährigen<br />
kennenlernt, sich durch diesen als Liebenden erfährt, sich zu den<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
Gesten der Liebe durchringt, Verantwortung für jemand Anderen<br />
übernimmt, schließlich allen gegenüber „ich“ sagt. Lifshitz fragmentiert<br />
diese Geschichte, kalte Winterbilder greifen in den Feriensommer<br />
ein, verweisen auf Verletzungen und Traurigkeiten, die passiert<br />
sind, längst nachdem Mathieu öffentlich „ich“ gesagt hat. Das Meer<br />
ist grau und unerbittlich, im kaltweißen Krankenhaus wird ihm der<br />
Magen ausgepumpt, alte Männer sitzen an der Theke der Dorfkneipe<br />
und interessieren sich nicht für ihn. Was ist passiert? Es lief doch alles<br />
gut mit der schwulen Liebe. Kaum etwas ist passiert, sagt Lifshitz,<br />
„presque rien“. Er hat eben nur Ausschnitte aus dem Leben eines<br />
Teenagers gezeigt, zerschnittene Fotos, das Leben, keine schwule,<br />
männliche, bürgerliche Identität. Kontexte, in denen man das Glück<br />
eines Sommers nicht weiterglühen lassen kann, eine kranke Mutter,<br />
ein abwesender Vater, ein toter Bruder, eine neidische Schwester, eine<br />
Familie, die trauert, nicht funktioniert, trotzdem klammert, nicht loslassen<br />
kann, nichts zu tun hat eigentlich mit dem schwulen Glück von<br />
Mathieu. Wer ist Mathieu? Wir erfahren es nicht. Der <strong>Film</strong> will es<br />
nicht wissen. Ein Bogen Papier, auf dem Ausschnitte einen provisorischen<br />
Zusammenhang ergeben.<br />
Lifshitz ist, wie er selbst sagt, ein „verunglückter Fotograf“.<br />
3. Er hat Kunstgeschichte studiert, nicht <strong>Film</strong>regie. Er hat<br />
der eigenwilligen Fotografin Suzanne Lafont assistiert, am Centre<br />
Pompidou gearbeitet. Auch heute noch kauft er keine <strong>Film</strong>bücher,<br />
sondern Fotobildbände. Auf Reisen geht er nicht ins Kino, sondern<br />
besucht Antiquitätenläden, sucht nach alten, aufgelassenen Fotos,<br />
aus denen er Geschichten macht, wie früher seine Mutter. <strong>Film</strong>e drehen<br />
ist allerdings nur oberflächlich gesehen etwas anderes als Bilder<br />
machen. Man muss sich nur entscheiden, ob man die lückenlose,<br />
‚natürliche‘ Bewegung imitieren will (wie die meisten <strong>Film</strong>emacher),<br />
oder tatsächlich Bilder nebeneinander stellen wie Lifshitz. So dass<br />
sie Aussparungen lassen, aus unterschiedlichen Quellen ineinandergreifen,<br />
tatsächlich montiert werden. Ellipsen sparen genau das aus,<br />
was uns wichtig ist. Jeder bisherige <strong>Film</strong> von Lifshitz erzählt in Ellipsen,<br />
niemals chronologisch, lässt immer mindestens zwei Zeitebenen<br />
zusammentreffen, fügt sich niemals zu Gesamtbildern, Gesamtbewegungen.<br />
Sie betonen die Lücken, die Geheimnisse, verweigern<br />
den Schlüssel zum Verständnis einer Person, eines Gefühls. Darin<br />
sind Les Corps Ouverts (1997), Les Terres Froides (1999), Sommer wie<br />
Winter … (2000), La Traversee (2001), Wild Side (2004) und Plein Sud<br />
(2009), das filmische Gesamtwerk von Sébastien Lifshitz, erstaunlich<br />
konsequent.<br />
Lifshitz ist Jahrgang 1969. Er gehört zu einer Generation<br />
4. französischer <strong>Film</strong>emacher, die hierzulande kaum wahrgenommen<br />
wird: Bertrand Bonello, Noémie Lvovsky, Lætitia Masson,<br />
Ursula Meier, Gaël Morel. Die beiden einzigen bekannten neben ihm<br />
sind ausgesprochen ‚queere‘ <strong>Film</strong>emacher, die es geschafft haben, das<br />
bürgerliche Publikum ab und zu zu verblüffen, zu bezaubern, eher<br />
spielerisch herauszufordern: François Ozon und Christoph Honoré,<br />
beide in jüngerer Zeit von der Kritik nicht mehr ernst genommen, als<br />
blasierte, unernste, postmoderne Spieler „entlarvt“. Diese <strong>Film</strong>emacher<br />
haben kein ausgesprochenes politisches Interesse, kein soziales<br />
Anliegen auf den ersten Blick, keine Verweigerungsradikalität im<br />
Ästhetischen. Es sind Stilisten, die mit dem Geschichtenerzählen ringen,<br />
halbwegs von staatlichen Subventionen unterstützt, ab und zu<br />
mal schockieren, aber in der Regel im cinephilen französischen Kosmos<br />
kreisen, ohne im Weltkino Spuren zu hinterlassen. Aufregend<br />
sind sie trotzdem, vor allem für Zuschauer, die Unbehagen angesichts<br />
des US-amerikanisch geprägten Identitätskinos haben. Geboren zu<br />
einer Zeit der sozialpolitischen Experimente, der letzten großen Freiheitserzählungen,<br />
zeichnen ihre <strong>Film</strong>e ein durchgängiges Problem mit<br />
den Emanzipationsgeschichten, dem kollektiven Gestaltungspathos,<br />
dem Aktionismus. Die formalen Vorbilder sind klar: die gebrochenen<br />
Helden der amerikanischen Independents, die dekonstruktivistische<br />
Philosophie, das wilde, sinnliche, ‚rekomponierende‘ Montagekino<br />
„Offene Herzen“ (oben), „Sommer wie Winter …“ (unten)<br />
kino<br />
von Claire Denis, der postmoderne Genremix, das gehetzte Tempo<br />
der Téchiné-<strong>Film</strong>e. Lifshitz & Co. sind Ästheten (bekannter Vorwurf<br />
gegen schwule Künstler), ohne Dogma und Sendungsbewusstsein.<br />
Dass das Kinopublikum ihre <strong>Film</strong>e so selten, eigentlich kaum noch<br />
zu sehen bekommt, ist schade. Und die Kritik, die sie hierzulande<br />
abbekommen, ist vernichtend, unverständlich, anmaßend. Sie heißt<br />
„Arthouse“.<br />
Die <strong>Film</strong>e von Lifshitz sind immer entweder zu bürgerlich,<br />
5. zu Mittelklasse – oder zu plakativ außenseiterisch. Entweder<br />
geht es zu sehr um Familie (immer ist die Mutter todkrank<br />
und der Vater abwesend) oder das Milieu ist zu abgekoppelt. Entweder<br />
hängen Lifshitz’ Bilder zu sehr in der Körperschönheit seiner<br />
Schauspieler oder sie befriedigen verschämt hässliche Fantasien.<br />
Wild Side z.B. wagt die sexuelle und familiäre Utopie eines Dreiers<br />
aus transsexueller Prostituierter, maghrebinischem Gelegenheitsstricher<br />
und russischem Kriegsflüchtling. Was nach einer schrillen<br />
Überzeichnung antibürgerlicher Typen klingt, ist in Wirklichkeit<br />
ein humanistisches Manifest. Eine Liebe, in der jede(r) Geheimnisse<br />
hat, Fremdheit und unheilbare Wunden, und doch ist diese Liebe in<br />
jedem <strong>Film</strong>korn sichtbar, bis hin zu den Muskeln in den Händen von<br />
Stéphanie und Michail, die sich nach dem Sex noch einmal anspannen,<br />
während sie sich umklammern. „Are you a boy or a girl?“, singt<br />
Antony Hegarty in diesem <strong>Film</strong> leibhaftig in die Richtung der Transsexuellen,<br />
nicht als platte Verdopplung des Sichtbaren, sondern im<br />
Klartext und komplexen Mit-Gefühl, denn eine Identität hilft nicht<br />
weiter, wenn man Familie oder Heimat sucht. Tatsächlich sind alle<br />
biologischen Familien in den Lifshitz-<strong>Film</strong>en dysfunktional, sogar im<br />
einzigen Dokumentarfilm La Traversee, in dem er seinen Ko-Autoren<br />
Stéphane Bouquet in die USA begleitet, um dessen Vater zu suchen,<br />
der von der Existenz seines Sohnes gar nichts weiß. Das an sich ist<br />
15<br />
EDiTioN SALzGEBEr (2)
kino<br />
<strong>Film</strong>ografie Sébastien lifshitz<br />
il faut que je l’aime (1994)<br />
claire denis, La Vagabonde (1995)<br />
Offene herzen<br />
(Les corps ouverts, 1997)<br />
im reich meines Vaters<br />
(Les terres froides, 1999)<br />
Sommer wie Winter … (Presque<br />
rien, 2000)<br />
Sommer wie Winter …<br />
von Sébastien Lifsitz<br />
FR/BE 2000, 95 Minuten,<br />
dt. SF / OmU<br />
Auf DVD<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Offene Herzen<br />
von Sébastien Lifsitz<br />
FR 1997, 48 Minuten, OmU<br />
Demnächst auf DVD<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Wild Side<br />
von Sébastien Lifsitz<br />
FR/BE/UK 2004, 91 Minuten, OmU<br />
Auf DVD<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
16<br />
La Traversée (2001)<br />
Wild Side (2004)<br />
Plein Sud (2009)<br />
noch kein <strong>Film</strong>-Thema, aber die Sehnsucht<br />
danach, die Ausformulierung der Zersplitterung,<br />
das Zusammensetzen neuer Familien ist<br />
es. Genauso wie das Coming-Out kein Thema<br />
ist, aber die vorsichtige Zusammensetzung der<br />
Erfahrungswelt von Teenagern, wie sie Lifshitz<br />
in Les Corps Ouverts, Sommer wie Winter<br />
… und Les Terres Froides angeht. Für sich<br />
allein lösen sich die Figuren auf. Zusammen<br />
können sie für kurze Zeit bestehen.<br />
Traurigkeit gibt es in jedem <strong>Film</strong> von<br />
6. Lifshitz. Unendlich schöne Soundtracks,<br />
die Spannungen schaffen und mit ihrer<br />
Zerbrechlichkeit und Gebrochenheit leben<br />
können (Perry Blake in Sommer wie Winter …,<br />
Antony Hegarty in Wild Side, Marie Modiano<br />
in Plein Sud). Sex. Und zeitlose Landschaften<br />
– der riesige schwarze Berg in der nordfranzösischen<br />
Provinz von Wild Side, die sonnendurchtränkte<br />
Ebenen-Ödnis auf dem Weg in<br />
den Süden (Plein Sud), immer wieder der wilde<br />
Atlantik, dem egal ist, welche Melodramen sich<br />
vor seiner Kulisse abspielen, ob vor ihm oder<br />
in ihm jemand Sex hat. Die Traurigkeit hängt<br />
oft am Jungsein, an der Möglichkeit eines filmwirksamen<br />
Glücks von erster Liebe und erstem<br />
Sex, in das immer wieder das übergriffige<br />
Unglück der Familien eingezogen ist, auch das<br />
eigene, das vergangene und das zukünftige.<br />
Und an den Leerstellen. Des vatersuchenden<br />
Drehbuchautoren z.B., der auf der Reise merkt,<br />
dass er niemals „ich“ sagen konnte, weil er der<br />
Mutter immer den Mann ersetzte, auch auf der<br />
Suche nach ihm. Oder die Leerstelle, die im<br />
„Wild Side“ (oben), „Plein Sud“ (unten)<br />
Lifshitz-Kino durch den Tod des fantastischen Schauspielers Yasmine Belmadi entstanden ist, dem Hauptdarsteller<br />
in Les Corps Ouverts, Les Terres Froides und Wild Side, der wie kein anderer den großmäuligen verletzlichen Jungen<br />
gespielt hat, der nie seine Identität findet. Man kann kaum ansehen, wie er in Wild Side als Djamel dem Kriegsflüchtling<br />
Michail von seinen Mopedunfällen erzählt, ihm seine (echten, seine Yasmine-) Narben zeigt, wenn man weiß, dass<br />
Belmadi vor ungefähr einem Jahr nachts in Paris mit seinem Moped gegen einen Laternenmast gefahren ist und dabei<br />
umkam. Sein Porträt aus drei <strong>Film</strong>en von Lifshitz bleibt fragmentarisch – bezeichnend die Szene, in er als Rémi in Les<br />
Corps Ouverts einem (ihn begehrenden) <strong>Film</strong>regisseur eine völlig falsche Autobiografie ausformuliert, ohne dass der<br />
<strong>Film</strong> über ihn die richtige erzählte.<br />
Lifshitz mag das sozialrealistische Kino nicht, genauso wenig wie Ozon oder Honoré. Aber er spielt auch<br />
7. nicht damit. Er möchte die Figuren, ihre Energien isolieren, Affektkino drehen, in dem Körper und Gefühle<br />
aufeinander reagieren, ohne Zeitbezug, ohne Ortsbezug. Trauer, Wut, Sehnsucht, Begierde werden nicht psychologisch<br />
hergeleitet, sie prallen aufeinander, man sieht dabei zu, man darf assoziieren. Im neuen <strong>Film</strong>, Plein Sud, gibt es<br />
keine mittleren Einstellungen. Nur Landschaften und Gesichter, Stimmungen und Blicke, kein Einbetten von Gefühlen<br />
in den sozialen Kontext. Prompter Vorwurf: Oberflächlichkeit. Tatsächlich treibt Lifshitz seine ästhetischen Überzeugungen<br />
hier auf die Spitze: eine sexuell aufgeladene Situation dreier Teenager, deren Begehren sich auf den älteren<br />
Fremden richten; ein zerschnittenes Porträt dieses Fremden aus drei Zeitschichten (Kind, Teenager, Erwachsener),<br />
das trotzdem nicht erklären kann, was er vorhat; eine Reise, ein Roadmovie zur kranken und instabilen Mutter, als<br />
Bewegung durch zeitlose, vom Geschehen unberührte Landschaften. Einen Mix aus Western und Soap-Opera hat<br />
Lifhitz das selbst genannt, nicht ohne Provokation. Ein Portfolio schöner Teeniekörper mit pubertären Allerweltsproblemen,<br />
die sich (wie Jana Papenbroock hellsichtig bemerkt hat) wie ein Kommentar zum Warenwert von Schönheit im<br />
Supermarkt aufgabeln und irgendwann einfach aus der <strong>Film</strong>-Geschichte fliegen. In einer Figur aber, der des Fremden<br />
Sam, staffelt sich der <strong>Film</strong> in die Tiefe, baut ein Porträt, das wiederum zu vielschichtig ist für eine psychologische Herleitung.<br />
Eigentlich ist das Kino von Lifshitz ein schüchternes Kino. Das sich, das drohende Scheitern, das Verlassen des<br />
Muts vor Augen, immer weiter antreibt, um endlich unverschämt zu werden.<br />
Mit Plein Sud gibt es also bald eine neue Möglichkeit, sich mit dem Kino von Sébastien Lifhitz auseinander-<br />
8. zusetzen. Auch dieser <strong>Film</strong> zerschneidet die üblichen Konstellationen, die filmischen wie die sozialen, setzt<br />
die Fragmente in Bewegung, holt Luft und ordnet sie neu. Wieder wird es am Ende keine Menschen geben, die sich<br />
gefunden haben, kein Liebesglück, kein Happy-End. Dafür aber das langsame Zurruhekommen einer Wasseroberfläche,<br />
nachdem ein schöner Männerkörper dort eingetaucht ist. Darauf ein Glitzern von letzten Abendsonnenstrahlen.<br />
Und ein trauriger Song von Marie Modiano. s<br />
Pro-FuN MEDiA<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
was uns heimsucht<br />
interview: gerhard Midding<br />
Es ist Sommer in „Plein Sud“, dem neuen<br />
<strong>Film</strong> von Sébastien Lifshitz. Sam, 27 Jahre<br />
alt, sitzt am Steuer seines alten Ford und ist<br />
auf dem Weg nach Süden. Auf dem Rücksitz<br />
ein Geschwister-Paar, Léa und Matthieu, die<br />
Sam als Anhalter mitgenommen hat. Léa liebt<br />
die Männer, Matthieu auch. Auf ihrer langen<br />
Reise werden sie sich kennen lernen, sich<br />
herausfordern, sich verlieben. Aber Sam hat<br />
ein Geheimnis, eine alte Wunde, die wieder<br />
aufgerissen ist – er hat nach langer Zeit eine<br />
Nachricht von seiner Mutter erhalten und<br />
jetzt will er sie wiedersehen.<br />
SISSY sprach mit Sébastien Lifshitz über seinen<br />
neuen <strong>Film</strong>.<br />
sissy: Warum gab es eine Pause von fünf Jahren<br />
zwischen „Wild Side“ und Ihrem neuen <strong>Film</strong>?<br />
Sébastien Lifshitz: Zwischenzeitlich habe ich<br />
am Drehbuch für einen Kriminalfilm gearbeitet.<br />
Ich hatte allerdings überhaupt keine<br />
Erfahrung mit Genrefilmen. Nach zwei Jahren<br />
und 17 verschiedenen Fassungen merkte<br />
ich, dass das nirgendwo hinführt. Ich fühlte<br />
mich verloren. Unterdessen war dem Produzenten<br />
das Geld ausgegangen, er hatte gerade<br />
noch genug übrig, um mich fürs Schreiben zu<br />
bezahlen. Aber ich glaube, diese Arbeit war<br />
nicht ganz vergeblich, denn in Plein Sud gibt<br />
es einige Elemente, die von diesem gescheiterten<br />
Projekt übrig geblieben sind: Er ist<br />
handlungsbetonter als meine früheren <strong>Film</strong>e,<br />
besitzt größere dramatische Spannung.<br />
Dabei haben Sie durchaus Erfahrung mit Kriminalfilmen:<br />
Ich denke an den Fernsehfilm für<br />
Arte, der bei uns „Im Reich meines Vaters“<br />
hieß.<br />
Ach ja? Ein schöner Titel.<br />
Er fasst beinahe Ihre gesamte <strong>Film</strong>ografie<br />
zusammen: Oft geht es um eine Vatersuche.<br />
Stimmt. Es geht immer um die Suche nach<br />
Wurzeln. Die Familie ist eine Obsession für<br />
mich.<br />
Woher rührt das?<br />
Ich glaube, das hat viel mit der Fotografie zu<br />
tun. In der Fotografie herrscht ein anderes<br />
Verhältnis zur Zeit: Sie kann etwas festhalten,<br />
was vergangen und tot ist. Die Vergangenheit<br />
hinterlässt in ihr einen Abdruck.<br />
Meine Mutter hatte die etwas morbide Angewohnheit,<br />
unser ganzes Haus mit Vergrößerungen<br />
ihrer Bilder zu tapezieren. So war<br />
unsere Familiengeschichte überall präsent.<br />
Mich hat diese Obsession früh angesteckt.<br />
Schon mit neun Jahren ließen meine Eltern<br />
mich allein auf den Flohmarkt gehen, wo ich<br />
mit meinem Taschengeld alte Fotos und Zeitschriften<br />
kaufte. Ich lebte eher in der Vergangenheit<br />
als in der Gegenwart. Mit Fünfzehn<br />
hat mich ein <strong>Film</strong> von Truffaut ungeheuer<br />
beeindruckt, Das grüne Zimmer. Da geht es<br />
um jemanden, der das Andenken der Toten<br />
bewahren und sie dadurch weiterleben lassen<br />
will. Deshalb mag ich sicher auch die Installationen<br />
von Christian Boltanski so gern, der<br />
viel über die Shoah arbeitet und Erinnerungen<br />
ganz haptisch darstellt, in dem er Kleindung<br />
und andere Artefakte sammelt.<br />
In „Plein Sud“ geht es wie in vielen Ihrer <strong>Film</strong>e<br />
darum, die Vergangenheit zu rekonstruieren,<br />
ein Familientrauma aufzuarbeiten. War Ihnen<br />
schon beim Schreiben klar, dass Sie die Erinnerungen<br />
von Sam wie eine parallele Geschichte<br />
erzählen wollen?<br />
Ja, das war schon im Drehbuch angelegt.<br />
Aber die Rückblenden waren anders platziert.<br />
Nun sind sie stärker in die Handlung eingeflochten.<br />
Sams Vater taucht zum Beispiel erst<br />
später auf. Je mehr sich Sam seiner Mutter<br />
nähert, desto stärker ist der Vater präsent.<br />
Ich führe ja eigentlich zwei Geschichten<br />
parallel, eine äußere und die innere<br />
Reise. Zugleich sind das aber auch ästhetisch<br />
gegenläufige Linien. Da gibt es einerseits<br />
Sams Familiengeschichte, die sehr melodramatisch<br />
ist. Und dann die Geschichte der<br />
Anhalter, die er mitnimmt. Die ist beinahe<br />
wie eine amerikanische Sitcom erzählt. Sie<br />
sind eher Figuren als Charaktere, aber laden<br />
den <strong>Film</strong> noch einmal mit einer ganz anderen<br />
Energie auf.<br />
Wie in „Sommer wie Winter …“ ist auch hier<br />
die Mutter depressiv.<br />
Ja, meine <strong>Film</strong>e werden bevölkert von kranken,<br />
zerstörten, verlorenen Familien. Das<br />
Glück passt da nicht hinein.<br />
Das gilt auch für die Familie, die sich spontan<br />
während der Autofahrt bildet.<br />
Mich erstaunt selbst, welch starkes Klima von<br />
Aggressionen und Konflikten da entstand. Es<br />
herrscht ein ständiger Kampf, die Beziehungen<br />
untereinander sind allesamt bedroht,<br />
können in jedem Moment abgebrochen werden.<br />
Wie gesagt, ich kann keine Geschichte<br />
über harmonische Familien erzählen.<br />
kino<br />
Was wird aus den Anhaltern, nachdem Sam<br />
sie zurücklässt?<br />
Keine Ahnung. In einer früheren Drehbuchfassung<br />
blieben sie zusammen und suchten<br />
gemeinsam seine Mutter. Aber wir fanden,<br />
dass es dramaturgisch ein Opfer geben muss,<br />
dass sich ihre Wege trennen müssen.<br />
„Plein Sud“ ist ein ungewöhnliches Roadmovie,<br />
weil die Fahrt wie eine Blase der Emotionen<br />
wirkt. Er spielt zwar in einer vagen Gegenwart,<br />
kommt aber ohne sozialen Kontext aus.<br />
Genau, es sollte ein lyrischer <strong>Film</strong> werden.<br />
Eigentlich geht es um die Frage, ob Sam weiterleben<br />
oder sterben will. Seine Mission,<br />
die er sich selbst gewählt hat, ist morbide,<br />
selbstzerstörerisch. Auch wenn die Jüngeren<br />
das Leben verkörpern, ist das, was ihn heimsucht,<br />
stärker.<br />
Tatsächlich ist es in gewisser Weise ein Geisterfilm.<br />
Dabei spielt Nicole Garcia die Mutter<br />
jedoch nicht als ein Phantom, sondern verleiht<br />
ihr eine sehr konkrete Präsenz.<br />
Das ist ein wichtiges Wort für mich: Phantom.<br />
Meine <strong>Film</strong>e kreisen um das, was uns<br />
heimsucht. Aber Sie haben Recht, die Konkretion<br />
ist ebenso wichtig. Bei Nicole wusste<br />
ich, dass sie der Mutter auch Menschlichkeit<br />
geben würde. Sie hat nur wenige Szenen, in<br />
denen sie Ihre Figur entstehen lassen kann.<br />
Das gilt eigentlich für alle Schauspieler: Sie<br />
müssen physisch sofort präsent sein. Lea<br />
Seydoux ist eine Lolita, Théo Frilet ist ein<br />
romantischer Prinz, Yannick Renier ist etwas<br />
trocken und finster, wie ein Westernheld.<br />
Meine <strong>Film</strong>e sind so lakonisch und elliptisch<br />
erzählt, da müssen wenigstens die Figuren<br />
eine Evidenz besitzen.<br />
Plein Sud<br />
von Sébastien Lifsitz<br />
FR 2009, 87 Minuten, OmU<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht am 19. November<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
Kinostart: Dezember 2010<br />
17
kino<br />
DeR<br />
uNZeitgemÄSSe<br />
von Bert reBhandl<br />
in ihrem schwebenden Porträt „Daniel Schmid – Le chat qui pense“ (ab 2. September im Kino) verbinden<br />
Pascal Hofmann und Benny Jaberg <strong>Film</strong>ausschnitte, Archivmaterial und interviews mit Schmids Freunden<br />
und Wegbegleitern zu einer liebevollen und angemessenen Würdigung des Schweizer <strong>Film</strong>emachers. Wer<br />
bisher keine oder nur einzelne <strong>Film</strong>e von Daniel Schmid (1941–2006) kannte, wird sie nach diesem poetischen<br />
Dokumentarfilm alle sehen wollen, denn seine <strong>Film</strong>e sind welthaltig, eigenständig und warmherzig<br />
und bilden einen besonderen Beitrag zum Weltkino. unser Autor markiert in seinem Text für die SiSSY die<br />
besondere Querstellung des Schmid-Kinos.<br />
s Die Ewigkeit ist eine Vorstellung, die einen kleinen Jungen überfordern<br />
muss. Er hat die Zeit in ihrer Offenheit vor sich, kaum nachzuvollziehen<br />
also, wie es in einem Himmel (oder in einer Hölle) sein<br />
soll, in der gar keine Zeit mehr vergeht. Bleibt dann alles immer so,<br />
wie es jetzt gerade ist? Ein schrecklicher Gedanke, den Daniel Schmid<br />
nichtsdestoweniger in seinem <strong>Film</strong> Zwischensaison in Szene setzt. Der<br />
kleine Valentin, das kindliche Alter Ego des <strong>Film</strong>emachers, durchschreitet<br />
mit seiner Großmutter einen Himmel, der identisch ist mit<br />
dem Schweizer Alpenhotel, in dem er aufwächst. Alle Gäste sind da,<br />
in weißen Engelsgewändern, nur lebendig sind sie nicht mehr. Sie sind<br />
eingefroren in ein Lächeln, das als ein Stereotyp von Glückseligkeit<br />
erscheinen soll, das in Wahrheit aber grotesk ist wie die ganze Szene.<br />
Es ist paradoxerweise die Zeit selbst, die diesem erstarrten<br />
Moment die Groteskerie wieder nimmt, die ihn zu einer zärtlichen<br />
Erinnerung macht, in der sich der Künstler verlieren konnte, zu dem<br />
Daniel Schmid geworden ist: ein <strong>Film</strong>emacher aus Graubünden, ein<br />
Weltbürger, der in Berlin und Paris gelebt und in Tokio gedreht hat,<br />
der aber immer an dieses wie der Zeit entrückte Hotel „mit Meerblick“<br />
in den Alpen zurückgebunden blieb. Der Proust’sche Gestus der<br />
(Wieder-)Belebung von Objekten, von dem nicht nur Zwischensaison<br />
geprägt ist, weist dem Regisseur von <strong>Film</strong>en eine besondere Rolle zu,<br />
die in den Kindheitstagen im Hotel ihr erstes Vorbild in dem Zauberer<br />
Professor Malini hatte, von dem Valentin/Daniel seinen damaligen<br />
Berufwunsch ableiten konnte: „maître d’effets spéciaux“, Meister der<br />
Spezialeffekte.<br />
Daniel Schmid gehört zu einer Generation, deren Ambivalenz<br />
gegenüber dem Kino sich gut mit diesem Begriff beschreiben lässt:<br />
Das Medium ist als solches ein Spezialeffekt, eine technische Pointe,<br />
in der die Alltagswahrnehmung überboten wird. Man kann diese<br />
Überbietung zelebrieren, oder man kann sie in Dienst nehmen, für<br />
Zwecke, die dem Medium äußerlich sind. Als Schmid in den 1960er<br />
Jahren in Berlin das Studium an der dffb aufnahm, in deren erstem<br />
Jahrgang, da begann der kritische Diskurs zum Kino gerade mit aller<br />
Wucht. Gleichzeitig gab es im deutschsprachigen Autorenfilm dieser<br />
Jahre aber auch zahlreiche Außenseiter, die sich vom Imaginationspotential<br />
des Mediums nicht abbringen lassen wollten.<br />
Man unterschied damals in der <strong>Film</strong>kritik zwischen einer politischen<br />
und einer ästhetischen Linken, zwei Begriffe, die wie verzerrte<br />
westliche Korrelate zu den Formalismusdebatten in den kommunistischen<br />
Ländern wirken mussten. Einer politischen Linken waren<br />
Formfragen oder gar ästhetische Qualitäten erst in zweiter Linie<br />
angelegen, wichtiger waren inhaltliche Fragen (in den achtziger Jahren<br />
hatten diese Debatten eine zweite Auflage im Zusammenhang<br />
der Repräsentationskritik, die verstärkt aus der Position von Minderheiten<br />
geübt wurde: schwullesbische, feministische, antirassistische<br />
Identitätspolitik).<br />
Daniel Schmid war homosexuell, aber nicht das erscheint im<br />
Rückblick als der entscheidende Grund dafür, dass er ausgerechnet<br />
um 1968 mit einer dezidierten Option für das ästhetische Potential des<br />
Kinos hervortrat. Es hat wohl eher mit den unterschiedlichen Zeitlichkeiten<br />
zu tun, die zwischen der politischen und der ästhetischen<br />
Linken nicht zu verhandeln waren. In dem Dokumentarfilm Daniel<br />
Schmid – Le chat qui pense von Pascal Hofman und Benny Jaberg gibt<br />
es eine bezeichnende Szene, in der Schmid zu sehen ist, wie er 1973<br />
auf den Solothurner <strong>Film</strong>tagen seinen <strong>Film</strong> Heute nacht oder nie verteidigt,<br />
der als zu ästhetisch in den Verdacht politischer Irrelevanz<br />
geraten war. Der Regisseur sitzt auf dem Podium, rauchend, und sagt<br />
einen bedeutungsvollen Satz: „Ich habe keine Vorstellung davon, wie<br />
es weitergeht.“<br />
Damit bringt er einerseits einen latent apokalyptischen Zeitgeist<br />
zum Ausdruck, der in den 1970er Jahren immer neue Nahrung fand.<br />
Es äußert sich in diesem Satz aber auch noch etwas Grundsätzlicheres,<br />
eine künstlerische Position, die dem Bildmedium Kino eine<br />
Funktion zuschreibt, die eben konstitutiv nach hinten gerichtet ist,<br />
auf die Rekonstruktion von Szenarien, die der Gegenwart erst die<br />
Prägung gegeben haben. Die ästhetische Option von Daniel Schmid<br />
ist zugleich eine Option für eine bestimmte Zeitlichkeit, die sich in<br />
unterschiedlichen Konstellationen durch sein Werk zieht: die mytho-<br />
logische Grundierung einer erotischen Passion vor<br />
kolonialem Hintergrund in Hécate, aber auch der markante<br />
Traditionalismus des Kabuki in Das geschriebene<br />
Gesicht, in dem es um japanische Tradition geht, über die<br />
sich eine weiter gefasste, westliche Nostalgie vermitteln<br />
kann. Von Schmid erzählen die Menschen, die ihn gut<br />
gekannt haben, in Le chat qui pense, dass er immer einmal<br />
nach Shanghai wollte (der Hafen von Tokio in Das<br />
geschriebene Gesicht ist wohl auch ein „Stand-In“ für den<br />
Weltumschlagplatz der chinesischen Hafenstadt). Aber<br />
er hatte nicht die Metropole der chinesischen Modernisierung<br />
vor dem geistigen Auge, die heute so viele Menschen<br />
interessiert, sondern ein geistiges, ein ästhetisches<br />
Shanghai, das für ihn ein für alle Mal durch die <strong>Film</strong>e von<br />
Josef von Sternberg bestimmt war. Auch hier herrscht also<br />
ein Geist von cinephiler Retrospektivität, der einher geht<br />
mit dem Beharren auf einer ästhetischen Überhöhung,<br />
von der das Medium <strong>Film</strong> in seinem Mainstream schon<br />
lange Abschied genommen hat – und den es während des<br />
guten Vierteljahrhunderts seines filmischen Schaffens<br />
auch den Randbereichen auszutreiben beginnt. Ästhetische<br />
Überhöhung bedeutet auch: Kontakt zu den anderen<br />
Kunstformen, Hang zum Gesamtkunstwerk, taktile und<br />
musikalische Prägung, Theatralität und Literarizität.<br />
In Hécate erzählte Schmid nach einem Roman von<br />
Paul Morand die Geschichte eines französischen Kolonialbeamten,<br />
der in der fremden Welt des Orients einer<br />
schönen, eigenwilligen Frau verfällt. Clothilde de Watteville<br />
wurde von Lauren Hutton gespielt, die als Fotomodell<br />
und Schauspielerin beide Bereiche zu transzendieren<br />
vermochte und davor schon von Paul Schrader (in American<br />
Gigolo, 1980) sehr ikonisch eingesetzt wurde. Hutton<br />
spielt in Hécate die unbewusste, weil ganz auf sich konzentrierte<br />
Verführerin, die ihren Verehrer immer stärker<br />
in die Eifersucht treibt. Auch hier findet sich (wohl schon<br />
in der Vorlage) ein Satz, der die ästhetische Überhöhung<br />
in das Präteritum (und in den Kontext eines Mediums)<br />
stellt: „Die Tage vergingen wie in einem alten <strong>Film</strong>, in<br />
dem der Wind die Kalenderblätter davonweht.“<br />
Schmid war kein unpolitischer Regisseur, und in<br />
Hécate ist auch erkennbar, dass ihn dieser Stoff nicht<br />
zuletzt deswegen interessiert, weil sich darin etwas<br />
kreuzte: das allmähliche Untergehen der großen, westlichen<br />
Kolonialimperien mit dem Entstehen eines Medi-<br />
Die tage vergingen wie in einem alten <strong>Film</strong>,<br />
in dem der wind die kalenderblätter davonweht.<br />
ums, das davon technische Bilder überlieferte. Das Kino<br />
löst die Kalenderblätter ab, die in dem genannten Zitat<br />
ein dem Alltag entrücktes Vergehen der Zeit (nicht mehr)<br />
markieren, das Kino hat die Kalenderblätter aber auch<br />
abgelöst, insofern ein neueres Massenkommunikationsmittel<br />
an die Stelle eines älteren getreten ist, eines, das<br />
sich mit einem viel stärkeren Imaginationspotential verbunden<br />
hat – und dieses immer wieder schnöde an die<br />
kulturindustrielle Bewirtschaftung desselben verrät.<br />
Hécate entstand 1982, im Werk von Schmid markiert<br />
es einen Höhepunkt insofern, als es seinen Moment der<br />
Qualität darstellt (Qualität durchaus in jenem Sinn verstanden,<br />
der von der Nouvelle Vague zur Überwindung<br />
und Ablösung freigegeben worden war). Qualität wird<br />
hier durch die Vorlage, durch das Budget einer internationalen<br />
Koproduktion, durch den amerikanischen Star<br />
Lauren Hutton gewährleistet. Nach Heute nacht oder nie<br />
und Schatten der Engel, zwei seiner wichtigsten <strong>Film</strong>e<br />
18 19<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
kino
kino<br />
Daniel Schmidt – Le chat qui pense<br />
von Pascal Hofmann und Benny Jaberg<br />
CH 2010, 83 Minuten, OmU<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
Ab 2. September in ausgewählten Kinos.<br />
Das Metropolis (Hamburg) und die Tilsiter<br />
Lichtspiele (Berlin) zeigen begleitend auch <strong>Film</strong>e<br />
von Daniel Schmid, ebenso das Kino achteinhalb<br />
(Saarbrücken) ab dem 27. September.<br />
www.danielschmid-film.com<br />
EDiTioN SALzGEBEr (2)<br />
aus den 1970er Jahren, war dieser Weg nicht unbedingt absehbar.<br />
Denn Schmid hatte sich damals, zwischen den beiden paradigmatischen<br />
deutschen Positionen von Werner Schroeter und Rainer<br />
Werner Fassbinder, dafür entschieden, so lange wie möglich beiden<br />
zu entsprechen. Das bedeutete konkret in Heute nacht oder nie und<br />
vier Jahre später in Schatten der Engel: Verschiebung der politischen<br />
Revolution ins Ästhetische und danach Verschiebung der politischen<br />
Enttäuschung in die Dekadenz. Heute nacht oder nie war Schmids<br />
Revolutionsfilm, und vermutlich hat er deswegen so viel Ärgernis<br />
erregt, weil darin so deutlich dem revolutionären Umschwung das<br />
Subjekt geraubt wurde. Die Dienerschaft, die hier einem alten Brauch<br />
entsprechend einen Abend lang die Herren stellt (während die Herrschaft<br />
zu ihrer Unterhaltung alles aufbietet, was sie an Tenören und<br />
Tangos zu bieten hat), versäumt nachgerade programmatisch den<br />
Moment, an dem die alte Ordnung wieder ins Recht gesetzt wird. Sie<br />
ergreift ihre Chance nicht (weil Schmid sie auch schonungslos als<br />
begriffsstutzig darstellt), deswegen bleibt alles beim Alten in diesem<br />
alten Schloss, das in der langen Vorspannsequenz als Ort der Handlung<br />
etabliert wird und das dabei stark transsilvanische Konnotationen<br />
bekommt. In Heute nacht oder nie wird wenig gesprochen, dafür<br />
aber umso mehr gesungen und musiziert. Der Soundtrack des <strong>Film</strong>s<br />
ist dessen eigentlicher Diskurs, eine Abfolge unterschiedlichster<br />
kultureller Formen von der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts<br />
bis zu einem modernen Musikstück, zu dem Schmid eine großartige<br />
(Wimmelbild-)Plansequenz entworfen hat. Dazu kommen Schlager<br />
und Tanzmusik, all das also, was für einen kleinen Jungen, der auf<br />
der Bühne des Foyers eines Traditionshotels aufgewachsen ist, die<br />
Welt bedeutet.<br />
Während aber Werner Schroeter in diesen Jahren zum Teil sich<br />
vollständig ins Asemantische und Avantgardistische wagt (Eika<br />
Ka tappa), kappt Schmid die Verbindungen zum herkömmlichen Spielfilm<br />
nicht. In La Paloma spielt seine Muse Ingrid Caven eine Prostituierte,<br />
die sich für ihr Zuhören und ihr Schweigen bezahlen lässt, und<br />
die nach einem Mann sucht, der ihr das Leben nehmen kann. In Schatten<br />
der Engel wiederholt die Caven diese Rolle unter den veränderten<br />
Vorzeichen des noch stärker politisch und nachkriegshistorisch konnotierten<br />
Patriarchats: Fassbinder, der die umstrittene Vorlage, das<br />
Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ geschrieben hatte, spielt ihren<br />
Zuhälter, und Klaus Löwitsch die Skandalfigur von <strong>Film</strong> und Stück,<br />
den reichen Juden. Die ganze Anlage dieser Verfilmung zeugt von<br />
Schmids unbedingtem Glauben an eine Unschuld des Ästhetischen –<br />
er hat nicht versucht, der Vorlage von Fassbinder das Anstößige (den<br />
vielfach festgestellten Antisemitismus, der in der Darstellung einer<br />
Klischeefigur liegt) zu nehmen, er hat es in einen Zusammenhang<br />
gestellt, der Ästhetik in unrettbare Ambivalenz umschlagen lässt. Er<br />
hat später nie mehr so radikal auf der Freiheit der Kunst bestanden,<br />
durch ihre eigene Zeitlichkeit auch an Tabus des Politischen rühren<br />
zu können: die Abstumpfung der Arbeiterklasse, die Ortlosigkeit<br />
der Juden in Nachkriegsdeutschland, die sexuelle Grundierung des<br />
Kolonialismus. Daniel Schmid wurde zu einem konventionelleren<br />
<strong>Film</strong>emacher, der sich an das europäische Autorenkino der Qualität<br />
annäherte, während Fassbinder die amerikanischen Genreformen,<br />
vor allem das Melodram, auf den Stand der bundesrepublikanischen<br />
Wirklichkeit zu bringen versuchte. Es wäre reizvoll, die spezifische<br />
Unzeitgemäßheit von Daniel Schmid mit seiner Herkunft aus der<br />
Schweiz in Beziehung zu setzen: ein <strong>Film</strong>emacher aus der provinziellen<br />
Mitte Europas konstituiert für sich selbst und für das Kino einen<br />
Sehnsuchtsort, der die Herkunft transzendiert – einen Himmel des<br />
Ästhetischen, zugleich politische Utopie und anachronistische Politik,<br />
ein Bubentraum, in dem der Protagonist allmählich lernt, auf Spezialeffekte<br />
zu verzichten. Er wird erwachsen, aber er steht doch kompromisslos<br />
quer / queer zu der Zeitordnung des linearen Fortschritts.<br />
Eine Kraft der Vergangenheit, deren Sprengkraft nicht selten unterschätzt<br />
wird. s<br />
Voll autobiografisch<br />
von dietrich kuhlBrodt<br />
Frank ripplohs Kultfilm über einen schwulen Lehrer, der seine bürgerliche Existenz mit einem<br />
facettenreichen Sexualleben in Einklang zu bringen versucht, stach 1980 in das Wespennest einer um<br />
positive Selbstbilder bemühten Schwulenszene. Angesichts der Kino-Wiederaufführung am 4. November<br />
kann man wie unser Autor feststellen, wie haltbar diese filmische Provokation nach wie vor ist.<br />
s Da ist er also wieder, der Kultfilm von vor dreißig Jahren. Schwuler<br />
Sex bis zum Abwinken. „Witzig, konsequent und unsentimental“,<br />
lobte damals das Time Magazine. Und die Süddeutsche Zeitung sah<br />
eine schwule „Komödie voller Selbstironie und raschem Witz. Dergleichen<br />
gab es noch nicht“. Und heute, hallo, gibt’s dergleichen<br />
inzwischen? Antwort: mitnichten. Ich sah den <strong>Film</strong> 1981. Ich sehe ihn<br />
2010. Und Taxi zum Klo ist frech und frisch und quicklebendig wie<br />
eh und je. Okay, um glaubwürdig zu sein, müsste ich an irgendwas<br />
herummäkeln. Mach ich vielleicht später. Zum Beispiel stimmt es<br />
nicht, dass Regisseur und Hauptdarsteller Frank Ripploh lebt. Er ist<br />
vor acht Jahren gestorben. An Krebs. Im Krankenhaus lag er damals,<br />
wegen Virenzeug, glaube ich. Aids gab es ja noch nicht. Was tun,<br />
wenn’s im Bett langweilig wird? Also das Taxi zur Klappe. Bitte, eine<br />
halbe Stunde warten. Zeit für ein paar erigierte Penisse. Und zurück.<br />
Ja, die Handlung. Sie ist voll autobiografisch. Frank, genannt<br />
Peggy, Hauptschullehrer in Berlin, unterrichtet eine Jungsklasse als<br />
Beamter auf Probe (war er auch noch während der Drehzeit). Ein<br />
originaler Schwarzweißlehrfilm über das, was heute als Missbrauch<br />
bekannt geworden ist, wird gezeigt. Zur Abwechslung wird in das<br />
Lehrmaterial ein Junge eingeschnitten, der mit Vergnügen auf Peggys<br />
Schoß hopst. Wer das nicht mehr okay findet und sich auskennt,<br />
kann sich mit Auftritten von Magdalena Montezuma (Arzthelferin)<br />
und Tabea Blumenschein vergnügen. Als Großwetterlage haben wir<br />
viel Regen in Berlin. Am Fehrbelliner Platz und drum herum. So war<br />
das 1980. Ein jungbeamtenwürdiges Ambiente. Peggy lässt sich von<br />
Bernd (Bernd Broaderup), Kino-Vorführer in der Yorckstraße, bekochen,<br />
betun, betutteln und mit Visionen vom gesunden Landleben<br />
belabern, am besten einen kleinen Hof bei Hitzacker mit viel Schafen<br />
drauf. Folge: „Wir müssen reden.“ Weitere Folge: Peggy sucht<br />
seine Sexpartner auf der Straße oder wo auch immer. Muscleboys,<br />
Schüchterlinge, den Tankwart rumkriegen. Fellatio, Ejakulation in<br />
Pro-FuN MEDiA<br />
den Mund, Samenschlucken in Großaufnahme und in der Länge, die<br />
es braucht, um zum Orgasmus zu kommen. Übrigens ist es der ejakulierende<br />
Schwanz von Regisseur Frank Ripploh, der ausführlich<br />
zur Geltung kommt. Und dann geht’s der Reihe nach inklusive Golden<br />
Shower.<br />
Eklig eventuell? – Aber nein. Was wir sehen, ist auf fast geheimnisvolle<br />
Weise ehrlich, selbstironisch und trotz der vielen komischen<br />
Elemente im Ergebnis eben nicht eine Komödie. Es sieht sogar tragisch<br />
aus für das Paar Bernd/Peggy. Zum Berliner Tuntenball kommt<br />
Bernd als Matrose, seine Schafe im Kopf. Peggy aber im Citykobrafummel,<br />
ganz in Tüll. Die Nacht ist um. Die Schule fängt an. Keine<br />
Zeit zum Umziehen. Peggy beginnt die Stunde im Fummel. – Noch<br />
Fragen? Den <strong>Film</strong> ansehen!<br />
Taxi im Klo wurde 1981 aus dem Stand bejubelt, unisono von<br />
Zuschauern und <strong>Film</strong>kritik. Gewiss, die Darsteller sprechen nicht wie<br />
Schauspieler, sondern wie Laien. Aber grad das machte den Witz, die<br />
Offenheit und die Ehrlichkeit (sprich: Authentizität) des <strong>Film</strong>s aus.<br />
Und siehe da, das was überall sonst als Pornografie verboten wird,<br />
wurde in Ripplohs <strong>Film</strong> normal. Ein Einmalereignis. Die Behörden<br />
gaben den <strong>Film</strong> frei. Gedreht war er mit 100.000 DM ohne irgendein<br />
Fördermittel. Taxi to the Toilet sahen in New York 200.000 Besucher.<br />
Eingespielt hatte er allein dort eine Million Dollar. In Boston wurde er<br />
zum besten fremdsprachigen <strong>Film</strong> gekürt. In der BRD wurde er ebenfalls<br />
Kult. In den Kinos. Auf den Festivals (Hof, dann Saarbrücken mit<br />
dem renommierten Max-Ophüls-Preis). Aber weil das damals alles so<br />
war, bräuchte das heute nicht zu interessieren. Das Sensationelle ist<br />
doch, dass das, was <strong>Film</strong>-Einmalereignis der frühen achtziger Jahre<br />
war, auch heute funktioniert. Aus dem Stand. Jedenfalls bei mir.<br />
Mehr kann ich ja nicht sagen. Ich rede doch keinem etwas ein. Aber<br />
ich gönne allen die Fahrt mit dem Taxi zum Klo. s<br />
Taxi zum Klo<br />
von Frank Ripploh<br />
DE 1979, 91 Minuten, dt. OF<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
Im Kino<br />
Kinostart der Wiederaufführung: 4. November<br />
20 21<br />
kino
kino kino<br />
Der<br />
Fremdkörper<br />
von Paul schulz<br />
Nach „Parallel Sons“ und „Winter der Entscheidung“ erzählt<br />
John G. Young in „Wasser und Blut“ (Kinostart: 2. September)<br />
eine tragische Südstaatengeschichte. Schön. Traurig.<br />
s Die Messlatte ist fix gelegt, und zwar hoch. William Faulkner,<br />
Flannery O’Connor, James Baldwin. Das ganz große Fish-Out-Of-<br />
Water-Südstaaten-Drama soll Wasser und Blut sein. Der deutsche<br />
Titel des <strong>Film</strong>s spielt fein mit der Dickflüssigkeit und damit verbundenen<br />
Sprichwörtlichkeit beider Substanzen und fasst die (Wahl-)<br />
Familiengeschichte, die der <strong>Film</strong> auch ist, so gut zusammen. Leider<br />
verpasst er dabei die Anspielung des Originaltitels (Rivers wash over<br />
me) auf die Passionsgeschichte. So sind die Zuschauer nicht sofort<br />
darüber im Bilde, was da auf sie zurollt.<br />
Sequan ist schwarz, schwul und das, was man in seiner bisherigen<br />
New Yorker Heimat „artsy“ nennt: eine kleine Tunte mit großen<br />
Träumen, die sie in bunten T-Shirts und engen Hosen mit sich<br />
herumträgt. Nach dem Tod seiner Mutter muss er zu seiner Tante in<br />
den tiefsten Süden der USA in ein verschlafenes Kaff ziehen, in dem<br />
BiLDKrAFT<br />
nur drei Dinge wirklich zählen: der liebe Gott, Ruhe als erste Bürgerpflicht<br />
und Football. Sequan hat für nichts davon eine große Begabung,<br />
glaubt, seine Identität längst gefunden zu haben und will sich<br />
nicht anpassen.<br />
Das wird ihm zum Verhängnis. Wasser und Blut mutet seinem Publikum<br />
viel zu: Schläge, Vergewaltigung, Drogen, familiäre Kälte und<br />
ein großes, grausames Schweigen über alle Probleme der kleinstädtischen<br />
Gemeinschaft. Hält sich also an seine Vorgabe: Die Geschichte<br />
des Fremden, der in eine Gemeinschaft geworfen wird, die weder willens<br />
noch in der Lage ist, ihn aufzunehmen, und in der er an seiner<br />
Entfremdung und Einsamkeit zu Grunde geht, ist Grundlage vieler<br />
großer Romane und einiger <strong>Film</strong>e über den amerikanischen Süden.<br />
Allerdings ist Wasser und Blut explizit, wo Faulkner oder Baldwin ob<br />
ihres Produktionszeitraumes verschämt sein mussten: Sequans Problem<br />
ist seine Sexualität. Oder besser: sein Umgang damit. Denn es<br />
ist nicht so, dass es in seiner neuen Umgebung keine Schwulen gäbe.<br />
Einer davon ist Sequans Cousin, mit dem er ein Zimmer und bald auch<br />
das Bett teilt, allerdings nie freiwillig. „I can’t be a faggot. You are the<br />
faggot. You are my faggot, bitch“, fasst der Peiniger seine Sicht der<br />
Welt zusammen.<br />
Regisseur und Drehbuchautor John G. Young hat schon mit Parallel<br />
Sons und Winter der Entscheidung das amerikanische Independentkino<br />
um zwei spannende Beiträge über Identität bereichert.<br />
Und auch dort trafen schon weiße und schwarze Lebenswelten aufeinander.<br />
Das tun sie auch hier: Sequan trifft Lori, die weiße, reiche, ständig<br />
koksende Highschoolschlampe. Für sie ist es Freundschaft auf den<br />
ersten Blick, der Exil-New Yorker muss erst ein bisschen abwarten<br />
und schauen, bevor er bemerkt, dass hinter Loris katastrophaler Fassade<br />
und großem Mundwerk ein noch größeres Herz und ein scharfer<br />
Verstand stecken. Lori ist die vielleicht dankbarste Rolle im ganzen<br />
<strong>Film</strong>. Oder vielleicht ist Elizabeth Dennis auch nur die talentierteste<br />
Schauspielerin im gesamten, guten Ensemble. Sie ist jedenfalls diejenige,<br />
deren Bild hängenbleibt vor dem geistigen Auge: die fröhlich<br />
versoffene, dickere Schwester von Kirsten Dunst.<br />
Was ein Problem des <strong>Film</strong>s illustriert: Er ist niedlich, aber nicht<br />
100% stimmig besetzt. Man sieht den Hauptdarstellern Derrick L.<br />
Middleton und Aidan Schultz-Meyer sehr, sehr gern dabei zu, wie sie<br />
sich als Sequan und Loris kleiner Bruder Jake zart ineinander verlieben.<br />
Aber die großen emotionalen Bögen des <strong>Film</strong>s sind ab und an<br />
zu groß für die beiden Herren mit den großen Welpenaugen und den<br />
einander fremden Körpern. Da hätte John G. Young gut daran getan,<br />
fünf Jahre älter zu casten.<br />
Aber das ist auch egal. Denn entweder lässt man sich von dem<br />
emotionalen Sturm und Drang, den Wasser und Blut auffährt, mitreißen<br />
und sich von der simplen Digitalkamera-Ästhetik nicht stören.<br />
Oder man lehnt sich entspannt europäisch zurück und fängt an<br />
zu nörgeln. Was schade wäre. Denn Wasser und Blut ist ein wirklich<br />
guter, kleiner <strong>Film</strong>. Vielleicht nicht ganz Faulkner-Roman, aber eine<br />
hübsche, dunkle Kurzgeschichte des Meisters. s<br />
Wasser und Blut<br />
von John G. Young<br />
US 2009, 87 Minuten, OmU<br />
Bildkraft,www.bildkraft.biz<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 2. September<br />
Sorgepflichten<br />
von richard garay<br />
Thomas und Francisco lieben sich. Der eine ist der fünf Jahre älter Bruder des anderen. Das schwule inzest-<br />
Thema macht aus „From Beginning To End“ laut Verleih einen „Skandalfilm“. unser Autor fragt sich, worin<br />
genau der Skandal hier begründet ist. Alle anderen können sich das ab dem 11. November fragen, denn<br />
dann ist der <strong>Film</strong> im Kino zu sehen.<br />
s Ich gebe zu: Ich bin Einzelkind. Ich habe das nie erlebt, was es<br />
heißt, einen Bruder zu haben. Schon gar nicht, einen schwulen Bruder<br />
zu haben. Ich kann mir natürlich vorstellen: die besondere Nähe,<br />
die Ambivalenz zwischen Liebe, Fürsorge, Neid, Konkurrenz in den<br />
Gefühlen zum Anderen. Die Pubertät zu erleben auf engem körperlichen<br />
Raum mit einem anderen Jungen. Erfahrungen machen und<br />
austauschen. Und alles, was ich mir nicht vorstellen konnte, habe ich<br />
in „Just Above My Head“ von James Baldwin gelesen oder im Kurzfilm<br />
Starcrossed von James Burkhammer gesehen.<br />
Und jetzt kommen Thomas und Francisco, begleitet von einem<br />
realen oder aufgebauschten Skandal in Brasilien, von über einer Million<br />
Trailer-Klicks und einem verzögerten Kinostart. Und ich denke<br />
mir: ja, Thomas und Francisco. Warum auch nicht? In der 40. Minute<br />
dieses <strong>Film</strong>s haben die beiden gerade ihre Mutter zu Grabe getragen,<br />
stehen im Wohnzimmer der Designer-Wohnung vor einander und ziehen<br />
sich aus. Und gestehen sich anschließend im Bett, warum sie sich<br />
lieben. Und da geht alles durcheinander: Fürsorge, Bewunderung,<br />
Gewöhnung, Männlichkeitsideen und Unaussprechliches. Und mit<br />
einer gewaltigen Geste braust die Musik auf, wird das Orchester angeworfen,<br />
wie schon so oft und nicht zum letzten Mal in diesem <strong>Film</strong>.<br />
Regisseur Aluizio Abranches will nämlich: die große, gewaltige,<br />
unendliche, nicht zur Ruhe kommende Liebe erzählen, die Verschmelzung,<br />
das Eins-Werden, das Klein- und Bedeutungslos-Werden der<br />
Welt um zwei Menschen herum, from Beginning to End.<br />
Der Eine öffnet als Neugeborener erst die Augen, als der fünf<br />
Jahre Ältere vor ihm steht. Und wird auch sonst niemanden mehr<br />
ansehen. Der Ältere wird dem Vater die Sorgepflicht für den Bruder<br />
abnehmen. Und wird auch sonst niemand anderen sich mehr um ihn<br />
sorgen lassen, noch nicht mal den Bruder für sich selbst.<br />
Aber was ist das für eine Welt, die so bedeutungslos werden kann<br />
für zwei Brüder, die sich lieben? Es gibt zwei Väter, immerhin. Einer<br />
Pro-FuN MEDiA<br />
in Rio, also zuhause, der andere in Buenos Aires. Beide haben wenig zu<br />
melden, nur besorgt zu schauen. Und sich schließlich milde aus dem<br />
Staub zu machen. Es gibt eine Mutter, die ebenfalls besorgt schaut.<br />
Und aus Rücksichtnahme auf diese Mutter passiert der besorgniserregende<br />
Sex erst nach ihrem Tod. Es gibt eine Wohnung, hell, groß,<br />
weiß, teuer eingerichtet, mit Swimmingpool. Diese wird den Brüdern<br />
einfach überlassen, so dass sie zum Liebesspiel die vertraute Designercouch<br />
benutzen können. Es gibt andere – sehr wenige – Menschen<br />
in diesem <strong>Film</strong>: Ein Schwimmlehrer ist darunter, der eigentlich<br />
nicht gebraucht wird, weil der erfahrene Schwimmer Francisco<br />
dem Schwimmtalent Thomas schon alles beigebracht hat. Ein DJ, der<br />
Angst davor hat, seine Nachbarn mit seiner Musik zu belästigen. Ein<br />
Club mit hübschen weißen harmlosen netten jungen Menschen, eine<br />
Jeunesse dorée Rios, ohne Freaks, ohne Arme, ohne Schwarze. Aber<br />
selbst, als Thomas plötzlich für drei Jahre ins olympische Schwimmertrainingscamp<br />
nach Russland muss (wieso das eigentlich?), gibt<br />
es einfach nichts und niemanden, kein Stück Welt, das zwischen die<br />
beiden Brüder passt, die durch den <strong>Film</strong> strahlen, lächeln, tänzeln wie<br />
zwei Menschen, die seit zwanzig Jahren in jedem Moment frisch verliebt<br />
sind.<br />
Das ist alles ungeheuerlich. Nicht, weil es um schwulen „Inzest“<br />
geht (der ja aus bestimmten Gründen in der heterosexuellen Variante<br />
tabuisiert ist). Nicht, weil tatsächlich nackte Haut und wilde<br />
Küsse zu sehen sind, weil die Eltern Verständnis aufbringen und der<br />
<strong>Film</strong> nahe legt, dass das immer so weiter gehen wird wie nach dem<br />
Frischverlieben. Ungeheuerlich ist die filmische Zubereitung des<br />
Ganzen, die soziale und ästhetische Isolation des Geschehens, die<br />
Auflösung der Räume, Städte, der Zeit, der Konflikte – die sorgenfreie<br />
Dolce&Gabbana-Welt, in der sich hier zwei Männer ansehen<br />
und nichts anderes mehr sehen und sich berühren und nichts anderes<br />
mehr berühren. In einer Szene auf der Designercouch liest der Ältere<br />
dem Jüngeren eine obszöne Stelle aus einem Roman vor, es geht um<br />
ein Loblied auf den männlichen Arsch, und das in eindeutiger Absicht.<br />
Und dann sagt er „Bleib so!“ und geht kurz aus dem Bild und man kann<br />
sich nichts anderes vorstellen, als dass er nun das Gleitgel holt. Doch<br />
er holt zwei Gläser Champagner. s<br />
From Beginning To End<br />
von Aluizio Abranches<br />
BR 2009, 94 Minuten, dt. SF / OF<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 11. November<br />
22 23
kino<br />
Ozonschichten<br />
Uninteressiert an Menschen und ihren Problemen, oberflächlich, bourgeois, unbeständig,<br />
zynisch – die Zeit, als François Ozon als einer der wichtigsten Vertreter des europäischen<br />
Autorenkinos galt und sich die Kritiker gerne von seinen <strong>Film</strong>en verblüffen und<br />
herausfordern ließen, ist – so scheint es – vorbei. „Ein schlechter Witz“ hieß es über<br />
„Ricky“, „ein Aufguss eines handelsüblichen Heulers“ über „Angel“. Da Ozon aber neben<br />
Pedro Almodóvar der einzige Regisseur ist, der mit einer dezidiert queeren Position ein<br />
größeres, bürgerliches Publikum erreicht, möchte es sich die SISSY anlässlich des neuen<br />
<strong>Film</strong>s „Rückkehr ans Meer“ (Start: 9. September) nicht so einfach mit ihm machen.<br />
Also: drei Schwärmereien über François Ozon.<br />
ArSENAL<br />
1. Der Rollenspieler<br />
von Jana PaPenBroock<br />
„Natürlich zu sein ist eine so schwer aufrechtzuerhaltende Pose.“<br />
(Oscar Wilde, „Ein idealer Gatte“)<br />
s In „Notes On Camp“ (1964) unterscheidet Susan Sontag zwischen<br />
„naivem Camp“ und „bedachtem Camp“, um die unterschiedlichen<br />
Qualitäten von purem und gewissermaßen unschuldigem,<br />
ernst gemeintem Kitsch und dem vorsätzlichen „Camping“, also dem<br />
bewussten Parodieren von Kitsch, voneinander abzugrenzen. Was<br />
Ozon so vermeintlich problematisch bzw. schwer zu fassen macht, ist<br />
die Vermischung genau dieser eigentlich konträren Stile und Abstraktionsgrade.<br />
Von <strong>Film</strong> zu <strong>Film</strong> und manchmal in einem einzigen <strong>Film</strong><br />
wechselt der Gestus unaufhörlich von seriösem, genuin unironischem<br />
Kitsch, sowohl in der Charakterzeichnung seiner Figuren als auch in<br />
der zum Teil sehr überhöhten Dramaturgie, zum verspielten, bewusst<br />
inszenierten, postmodernen Zitat (wie die Tanzeinlage in Tropfen auf<br />
heiße Steine, oder die Musicaleinlagen in 8 Frauen). Manchmal sind<br />
seine <strong>Film</strong>e wiederum ganz schlichte, elliptisch elegant erzählte heterosexuelle<br />
Dramen (wie 5µ2), die mit präzisem und zärtlichem Blick<br />
vor allem auf die Frauenfiguren von den maßgeblichen Problemen der<br />
Liebesbeziehung erzählen.<br />
Wie Fassbinder oder Truffaut produziert Ozon seine <strong>Film</strong>e quasi<br />
ununterbrochen in einem rasanten Tempo, was sich sowohl in der<br />
immensen Quantität seines Œuvres äußert, als auch in der auffällig<br />
heterogenen Vielfalt an Stilen, Genres und auch Qualität seiner<br />
Werke. Wer so viele <strong>Film</strong>e macht, macht zwangsläufig einige Bessere<br />
und andere weniger Gelungene. Dieser schnelle Produktionsrhythmus,<br />
<strong>Film</strong>e eher skizzenhaft aus einem Wurf und einer Energie heraus<br />
zu machen, anstatt jahrelang an einem Werk mit akribisch ausdifferenziertem<br />
Plot und minutiöser Charakterentwicklung zu feilen,<br />
führt dazu, dass Ozons Figuren oft nur bürgerlichen Stereotypien<br />
entsprechen, die er jedoch immer durch ihre teils melodramatischen<br />
Erlebnisse, ihr konfliktgeladenes und kontrastreiches Aufeinandertreffen<br />
oder ihre ausgesprochen freie und unverklemmte Sexualität<br />
aufbricht und wiederum teils ins Absurd-Groteske oder Überzeichnet-Stilisierte<br />
verkehrt.<br />
Seine oftmals künstlichen Plots reichen von skurril-unwirklichem,<br />
stilistischem Perfektionismus, der an Douglas Sirk erinnert,<br />
bis zum anderen Extrem des eher „hässlichen“, anti-stilisierten, sozialrealistischen<br />
Stils eines Eric Rohmer, bei dem er in Paris studierte,<br />
der vor allem über die Begegnung gegensätzlicher Charaktere, ihre<br />
Gespräche und Lügen über Lebensentwürfe und -moral die „allzumenschlichen“<br />
Prämissen gesellschaftlicher Verhältnisse und Rollenbilder<br />
mit einem großzügig zwinkernden Auge entlarvt.<br />
Eines ist freilich allen <strong>Film</strong>en, vom verführerisch-glatten Swimming<br />
Pool bis hin zum flüchtig-leichten Kurzfilm Das Sommerkleid<br />
gemein: Alle seine <strong>Film</strong>e handeln von Liebenden, vom performativen<br />
Spiel vermeintlicher Identität und ihrem Scheitern an derselben,<br />
von der Artifizialität aller nominell natürlichen Posen und Verhältnisse,<br />
die die Figuren immer neu für sich herausfinden müssen. Ozon<br />
vermag mit einer Leichtigkeit von einem emotionalen Extrem zum<br />
nächsten zu springen und noch einen drauf zu setzen, er ist furchtlos<br />
vor diskontinuierlichen Stilen und zelebriert mit geradezu kindlicher<br />
Liebe die Aufführung und das frontale Theater.<br />
Man mag Ozon ein rein oberflächliches, kultisches und apolitisches<br />
Verhältnis zum <strong>Film</strong> und zu seinen Stars vorwerfen. Wer das<br />
tut übersieht jedoch, dass hinter dem stilisierten Exzess seiner Musicaleinlagen,<br />
seiner manchmal holzschnittartigen, physisch perfekt<br />
modellierten Schauspieler und seinem frivolen Camping immer eine<br />
Kritik heterosexueller Vorrechte und Anmaßungen liegt, ein ironi-<br />
scher Spott über eine für wahr gehaltene, eindeutige sexuelle Identität<br />
und die Wahrnehmung des „seriösen“, gesellschaftlichen Lebens<br />
als Theaterspektakel. Sein entspricht bei Ozon Rollenspielen, Realität<br />
zeigt sich als Erscheinung, Wahrheit ist nichts als ein Stil und Charakter<br />
eher die Wiederholung imitierter Personifikationen. In diesem<br />
Sinne ist Ozon also ganz und gar anti-essentialistisch ein positiver<br />
Materialist.<br />
Seine Figuren tragen ihre affektiven Intensitäten vor sich her, die<br />
sie eher aufführen und symbolisch repräsentieren, als psychologisierend<br />
zu internalisieren. Sie spielen, probieren sich aus, gehen Risiken<br />
ein und geben sich stets leidenschaftlich hin. Es gibt kaum einen Regisseur,<br />
der so direkt und schön Paare beim Sex filmen kann wie Ozon.<br />
Ob man seinen hybriden Stilmix nun als Pansch abwertet oder<br />
facettenreich lobt, bleibt dem Zuschauer selbst überlassen.<br />
Sein fester Platz in der Kinogeschichte und Repräsentanz queerer<br />
und nicht-queerer Liebender ist gleichwohl unbestritten. s<br />
2. wie die welt (wirklich)<br />
(auch) (nicht) ist.<br />
von andré wendler<br />
s Il est different. Er ist anders, heißt es einmal in François Ozons<br />
Ricky über das gleichnamige Vorstadt-Kind mit den Vogelflügeln.<br />
Anders ist auch die Protagonistin aus Angel, die mit einem Wimpernschlag<br />
von der Krämertochter zur gefeierten Bestsellerautorin wird.<br />
Beide <strong>Film</strong>e gehören zusammen, weil in ihnen die Enden des Chiasmus<br />
verkörpert sind, um den sich vielleicht alle <strong>Film</strong>e Ozons drehen.<br />
Während Angel von der unwahrscheinlichen Kraft der Imagination<br />
handelt, sich die Wirklichkeit völlig zu unterwerfen und sie schließlich<br />
sogar zu verändern, lässt Ricky mitten in der sauersten Realität aus<br />
Fließband und Sozialwohnung ein märchenhaftes Wesen erscheinen.<br />
1. Angel Deverell schreibt offenbar die schlimmsten Kitschromane,<br />
an die sich überhaupt denken lässt. Mehr als ein paar cheesy<br />
Fragmente bekommen wir davon allerdings nicht zu hören: „Er<br />
küsste ihre heißen Lippen im Licht der Sonne, die im brodelnden<br />
Meer versank.“ Wir wissen nur, dass Angel mit diesem klebrigen Zeug<br />
so berühmt wird, dass sie sich ein Haus kaufen kann, das direkt aus<br />
diesen ihren Fiktionen zu stammen scheint: Paradise House ist eine<br />
groteske Mischung aus Xanadu und Manderlay, vollgestopft mit den<br />
unsäglichsten Dekorationen, historistischem Kunstkitsch, pferdegroßen<br />
Hunden und was noch alles hier hin gehört. Angel durchwandert<br />
diesen wahr gewordenen Traum mit absurden Kleidern, Hüten mit<br />
ganzen ausgestopften Vögeln darauf, Mänteln in den wahnsinnigsten<br />
Farb- und Stoffkombinationen. Ich mochte es selbst kaum glauben,<br />
mit welch absurder Faszination ich Ozons Bilder dieser unsäglichen<br />
Geschmacklosigkeiten anstarren musste. Man kann nicht<br />
wegschauen, ebensowenig wie die Leser_innen Deverells von ihren<br />
Büchern lassen können. Deverell ist camp, die Bilder tropfen vor Ironie,<br />
aber man muss sie so ernst nehmen, wie Angel selbst ihre imaginierte<br />
Welt nimmt, die ausdrücklich ihrer Fantasie entstammt und<br />
eben nicht nach der Wirklichkeit geformt ist.<br />
2. Ricky verfährt genau anders herum: Eine fast schon hyperrealistische<br />
Welt, wie wir sie aus den <strong>Film</strong>en etwa der Dardennes<br />
kennen, wird plötzlich zum Ort wuchernder Fantasmen. Das neugeborene<br />
Baby ist das erste Mal beim Abendessen der Familie dabei<br />
und seine Schwester wünscht sich vom Hühnchen, das auf dem Tisch<br />
steht, die Flügel, beißt herzhaft hinein und kaut schmatzend und mit<br />
Blick auf ihren kleinen Bruder auf dem Vogelflügel herum. Kurz darauf<br />
bekommt der Bruder selbst welche. Oder: Der Vater des Kleinen<br />
ist stark behaart, was die Mutter besonders sexy, weil animalisch fin-<br />
24 25<br />
kino
kino<br />
det. Was soll da nur für ein Kind herauskommen? All das entwickelt<br />
mitten in dieser etwas trostlosen Arbeitersiedlung eine faszinierende<br />
Plausibilität, der man sich kaum entziehen kann. Die Welt als Wunsch<br />
und Vorstellung und nicht als moralische Lehranstalt.<br />
3. Beide <strong>Film</strong>e haben etwas zauberhaft Leichtes, Unbeschwertes.<br />
Vielleicht kommt das von ihrer Faszination für ihre Oberflächen, in<br />
deren Zeichen sie bereitwillig und lustvoll ihrer Substanz entleert<br />
werden. In Angel beispielsweise bleibt der Inhalt der Romane Angel<br />
Deverells unbestimmt. Wir wissen nicht genau, worum es in ihren<br />
Büchern geht, werden nur mit wenigen Details gefüttert, die gerade<br />
genügen, um deren Charakter zu erraten. Der <strong>Film</strong> kreist um diese<br />
letztlich leeren Bücher und lässt von ihnen nur eins übrig: ihren<br />
Stil, ihren Charakter, ihre Poetik, ihre Machart. Und Ricky, der als<br />
inhaltsschweres Sozialdrama beginnt, hat irgendwann nur noch das<br />
Problem, was mit einem Kind zu machen ist, das Flügel hat.<br />
4. Ozons <strong>Film</strong>e, und zwar nicht nur Ricky und Angel, ließen sich<br />
nun leicht allegorisch lesen: Kinder, die flügge werden, die Einholung<br />
eskapistischer Literatur durch die Realität usw. Durch ihr Insistieren<br />
auf einem letztlich leeren Zentrum führen die <strong>Film</strong>e aber alle solche<br />
Interpretation an der Nase herum. Vielleicht wäre es vor dem Hintergrund<br />
solcher Entsubstantialisierungen einmal möglich, Ozon als<br />
queeren <strong>Film</strong>emacher zu bezeichnen, der nicht Identitäten sucht,<br />
sondern deren Bedingungen dekonstruiert. s<br />
3. Rückkehr ans meer<br />
von Michael eckhardt<br />
s Ja, man kann sie schon wieder anschwellen hören, all die schrillen<br />
Stimmen jener nostalgischen Kläger und unilateralen Geschmackspolizisten,<br />
die sich immer dann erheben, wenn François Ozon, das<br />
einstige Wunderkind des französischen Kinos, sich anschickt, genau<br />
den <strong>Film</strong> zu drehen, den sie so mal wieder nicht erwartet haben. Die<br />
einen meinen träge, Ozon habe doch gefälligst bei seinen Wurzeln<br />
zu bleiben und in Dauerschleife Blutig-Sexualisiertes à la Sitcom und<br />
Schwül-Schräges im Geiste von Tropfen auf heiße Steine zu drehen.<br />
Die anderen wiederum fordern dreist den Ozonschen Purismus, den<br />
er in Unter dem Sand und Die Zeit die bleibt offerierte. Unisono wurde<br />
genörgelt, als plötzlich in Angel – von den meisten Abtrünnigen unerkannt<br />
augenzwinkernd – die Roben rauschten, und in Ricky einem<br />
Baby spontan Flügel wuchsen. Ja, die Ansprüche an Ozon, gerade<br />
durch die filmbeschreibende Zunft, sind keine geringen, genauer<br />
betrachtet sind sie ziemlich grober Unfug. Und für Ozon selbst nicht<br />
von großem Interesse. Er dreht allen Festgefahrenen eine Nase, denn<br />
macht er doch einfach, was er will. Genau so sieht dann immer sein<br />
nächster <strong>Film</strong> aus, und erfreut damit all jene, die nur eine Erwartung<br />
an Ozon haben: vom spielfreudigsten <strong>Film</strong>emacher der Gegenwart<br />
das Unerwartete zu bekommen. Man kann es nicht genug goutieren,<br />
dass es eben genau die erzählerische Diversität in Ozons Œuvre ist,<br />
die ohne Abrieb anhaltend fasziniert, und dass sich diese formale<br />
und inhaltliche Vielfalt dennoch in einer erkennbaren Handschrift<br />
bündelt. Klingt widersprüchlich? Quatsch, man muss einfach Ozons<br />
<strong>Film</strong>e sehen – immer wieder. Diesen hier zum Beispiel. Der ist beim<br />
ersten Mal schon sehr gut, beim zweiten Mal bricht er einem fast das<br />
Herz. Und zur Ergänzung für Erbsenzähler und Schubladenfetischisten<br />
– ja, Rückkehr ans Meer ließe sich eher an die Seite der stilleren<br />
Werke Ozons stellen.<br />
Louis und Mousse – das klingt reiner, als es ist. Die Wohnung, in<br />
der beide leben, ist barock, liegt an der Seine, in den großen Fenstern<br />
spiegelt sich der nächtliche Fluss geradezu spielerisch. Doch hinter<br />
dem Glas, da kriecht der Dreck. Da wohnt die Sucht. Da liegt ein kümmerliches<br />
Bündel vor Schmerz gekrümmt auf den zerwühlten Laken<br />
– Mousse. Da empfängt einer halbnackt und ungeduldig den Boten<br />
kurzen Glücks – Louis. Und Licht kommt erst durch die Fenster, wenn<br />
das Heroin zu wirken beginnt, und wenn sich für Louis das Tor ganz<br />
weit öffnet. Seine Mutter findet den Jungen bizarr kniend, starren<br />
Blickes und mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden der prächtigen<br />
Wohnung, Mousse aber kann gerettet werden. Allein dieser Moment,<br />
der „nur“ Auftakt zur eigentlichen Geschichte ist, gelingt Ozon zum<br />
großen „Chant de douleur“, da er in wenigen Pinselstrichen Schicksale,<br />
Milieus, Lebenshaltungen und dann – gottlob – Zukünftiges<br />
skizziert. Unglaublich! Diese ruhig inszenierten, traurigen Momente<br />
ArSENAL<br />
Alle Bilder aus „Rückkehr ans Meer“.<br />
zu Beginn stellen Ende und Anfang gegenüber: Mousses Rettung ist der Neuanfang, für das<br />
Ende steht die Kälte von Louis verbitterter, wohlhabender Mutter, die derart beherrscht dem<br />
Heraustragen des Leichnams ihres leiblichen Kindes beiwohnt, dass man kotzen möchte.<br />
Diese Frau trickst mit Resolution und hat dabei jede Kontrolle längst verloren. Ozon will<br />
sie vergessen, zu Recht, und schaut zur nun auf sich gestellten Mousse – hin zu ihr und dem<br />
Kind in ihrem Bauch. Das wachsende Baby ist für die strengstens auf den Ruf bedachte Familie<br />
Louis’ nur eine „Angelegenheit“, um die sich ein vertrauter Arzt kümmern werde. Doch<br />
Mousse geht weg, unangekündigt, weg vom Pariser Krach in eine ländliche Stille. Sie braucht<br />
endlich Licht. Sie braucht Ruhe. Deswegen fühlt sie sich auch gestört, als sie einige Monate<br />
später Besuch bekommt – von Paul, Louis’ schwulem Bruder. Schlichtweg faszinierend, wie<br />
Ozon diese Ablehnung vorerst in Neugier und schließlich in tiefe Zuneigung transferiert, wie<br />
es ihm gelingt, Ort und Zeit tatsächlich zu lebensnotwendigen Paradigmen zweier sich neu<br />
Findender zu machen. Und diese Reise ans Meer ist natürlich auch für Ozon eine Rückkehr,<br />
filmt doch keiner wie er den Strand. Und da darf man tatsächlich Parallelen ziehen – der trügerische<br />
Postkartensonnenuntergang in 5µ2, die böse atlantische Pracht in Unter dem Sand<br />
oder die Kindheitsspiegelungen am Meer in Die Zeit die bleibt. Aus letzterem „kopiert“ Ozon<br />
ein sehr schönes Bild, wenn er jetzt in einer Szene Paul sich neben Louis schweigend ins Bett<br />
legen und sie sich anschauen lässt, so wie einst Romain sich selbst als kindlicher Lockenkopf<br />
begegnete. Das rührt unheimlich an, weil es viel über den brüderlichen Verlust erzählt, und<br />
weil Ozon mit diesem Kniff eine ganz neue erzählerische Reife beweist, die ihm bestens steht.<br />
Ozons Rückkehr ans Meer stellt mit Mousse und Paul ganz bewusst zwei so konträre Figuren<br />
gegenüber, denn so ist es regelrecht schön zu sehen, wie Grenzen, Neigungen und Zukunftspläne<br />
verwischen. Trotz aller Unterschiede in der Lebensweise verbindet Paul und Mousse<br />
sehr viel, deswegen ist Rückkehr ans Meer auch eine Geschichte über fehlende Liebe, schmerzlichen<br />
Verlust und nicht zuletzt über das Bewusstsein, dass wir alle in bestimmten Lebensphasen<br />
allein sind – und manchmal allein sein müssen. Und da Ozon den harten Schnitt mag,<br />
passt das – auf den flüchtigen Gedanken – doch sehr krasse Ende erst einmal sehr gut. Denn<br />
wenn man ganz genau in Mousses Gesicht schaut, wenn man Paul beobachtet, wie er das Neugeborene<br />
in seinen großen Händen hält, dann weiß man, dass es auch ein sehr erwachsener<br />
und durchaus mit Hoffnung verbundener Schluss ist. s<br />
<strong>Film</strong>ografie François Ozon<br />
Kurzfilme: das Sommerkleid, der<br />
kleine Tod, Besuch am Meer (1996–<br />
1997, dVd edition Salzgeber)<br />
Sitcom (1998, dVd Pro-Fun Media)<br />
criminal Lovers (1999,<br />
dVd alamode/alive)<br />
Tropfen auf heiße Steine (2000,<br />
dVd Pro-Fun Media)<br />
Unter dem Sand (2000,<br />
dVd alamode/alive)<br />
8 Frauen (2002, dVd Universum)<br />
Swimming Pool (2003, dVd highlight)<br />
5∞2 (2004, dVd Paramount)<br />
die Zeit die bleibt (2005, dVd Paramount)<br />
angel (2007, dVd concorde)<br />
ricky (2009, dVd concorde)<br />
rückkehr ans Meer (2009)<br />
Potiche (2010, abgedreht)<br />
ArSENAL<br />
Rückkehr ans Meer<br />
von François Ozon<br />
FR 2009, 90 Minuten, dt. SF / OmU<br />
Arsenal, www.arsenalfilm.de<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 9. September<br />
26 27<br />
kino
kino<br />
Augenblicksraum<br />
von Jan küneMund<br />
in „orly“, dem neuen <strong>Film</strong> von Angela Schanelec (Kinostart 21. oktober), fängt die Kamera Flirts von<br />
Menschen ein, die in einer öffentlichen Wartesituation gefangen sind. Ein Cruising besonderer Art, das sich<br />
auch auf die filmische Form überträgt.<br />
s Der öffentliche Raum ist grundsätzlich sexualisiert und seine<br />
Bewohner notwendigerweise Voyeure, behauptet der Stadtsoziologe<br />
Henning Bech. Denn dort gewinne das Spiel der Blicke gerade in der<br />
Grenzenlosigkeit des visuellen Angebots und im Bewusstsein, selbst<br />
beobachtet zu werden, einen erotischen Reiz. Sich „einem Raum zu<br />
überlassen, ohne zu wissen, was er mit einem macht“, so beschreibt<br />
Angela Schanelec das, was mit ihren Figuren in Orly passiert. In der<br />
räumlich gefassten Bewegung von Fremden wird dabei ein Rausch<br />
der Potentialität inszeniert, in dem sich Blicke und Geschichten,<br />
aber keine Identitäten ineinander verhaken.<br />
Ein Junge wartet mit seiner Mutter im Flughafencafé. Er geht zur<br />
Theke, bestellt etwas, bezahlt. Der junge Kellner bedient ihn professionell,<br />
sie wechseln kaum einen Blick. Die Kamera registriert das aus<br />
großer Entfernung. Der handlungsfixierte Kinozuschauer ist geneigt,<br />
nur flüchtig zuzuschauen, so alltäglich und belanglos ist die Aktion.<br />
Wenig später, der Junge ist als Handlungsträger des <strong>Film</strong>s etabliert,<br />
kommt der Kellner an seinen Tisch, fragt „darf ich?“ und räumt ab.<br />
Und plötzlich: ein Blick. Ein Ansehen, ein verlegenes Wegsehen, ein<br />
interessiertes Hinterhersehen. Und aus der Distanz, der Kellner ist<br />
längst wieder hinter dem Tresen angelangt, fängt die Kamera zwei<br />
lange Blicke auf. Vom Kellner, dann vom Jungen. Als der Junge mit<br />
seiner Mutter das Café verlässt, sieht er sich nicht noch einmal nach<br />
dem Kellner um. Und viel später läuft eine ganz andere Figur des<br />
<strong>Film</strong>s, die ihrerseits in einem erotischen Blickflirt gefangen ist, an<br />
dem Kellner vorbei, für den das Spiel der Blicke vorbei ist. Erotisch<br />
aufgeladen ist dieses Spiel nicht nur durch die Flirts der Flughafengäste<br />
– es ist auch aufgeladen durch den Blick der Kamera, die sich<br />
von weit weg als Voyeur betätigt, aus der Bewegung vieler Menschen<br />
einzelne herausschält, ihnen ein Begehren gibt und dieses im Verlauf<br />
des <strong>Film</strong>s lebendig hält. Schanelec hat beschrieben, dass die Schauspieler<br />
sich oft gar nicht von der Kamera beobachtet fühlten, weil<br />
diese viel zu weit weg war.<br />
Cruising ist eine subkulturelle Strategie, sich einen Raum anzuverwandeln,<br />
der eigentlich eine andere Funktion erfüllt. Insofern<br />
sind die erotischen Absichten nur für Menschen mit ähnlichen<br />
Absichten lesbar. In diesem Spiel zählen keine Identitäten. Im<br />
Gegenteil: Identitäten sind hinderlich, weil sie sich sichtbar und lesbar<br />
machen wollen. Das Outing, das in diesem <strong>Film</strong> passiert, wird<br />
damit zur Ungeheuerlichkeit, denn da bringt jemand plötzlich, in<br />
einem Raum der flüchtigen Begegnungen, seine gesamte Identität<br />
ins Spiel. Schanelec inszeniert das als verzweifelte Tat: Mutter und<br />
Sohn, die sich niemals ausgesprochene Dinge erzählen, obwohl schon<br />
jede banale Aussage zwischen ihnen missverstanden wird, Konflikte<br />
provoziert, ins Leere läuft. Ihr Gespräch ist wie das zweier Fremder,<br />
die sich die schlimmsten Dinge sagen können, weil sie außerhalb<br />
dieses Raums keine Konsequenzen zu befürchten haben. Noch verzweifelter<br />
wirkt ein Zufallsbekanntschaftspaar, dass sich die ganze<br />
Lebensgeschichte erzählt, Kinderfotos zückt, die wichtigen, identi-<br />
PiFFL MEDiEN (2)<br />
Orly<br />
von Angela Schanelec<br />
DE/FR 2010, 84 Minuten, dt./frz. OF, dt. UT<br />
Piffl Medien,www.piffl-medien.de<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 21. Oktober<br />
tätsstiftenden Momente markiert, im Reisesetting vom Zuhausesein<br />
schwärmt und am Ende versucht, sich für das weitere Leben zu verabreden.<br />
Hier bleibt der <strong>Film</strong> statisch, die Szenen sind dialoglastig,<br />
wenn auch gut gespielt.<br />
Der Cruising-Entwurf dazu, der sich notwendigerweise ganz<br />
anders, filmischer, auflöst, dessen Poesie nur im <strong>Film</strong> zustande<br />
kommt, sieht so aus: Ein junges Backpackerpaar wartet, sie schickt<br />
ihn los, um noch etwas einzukaufen. An der Kasse steht er hinter<br />
einer schönen Frau. Als sie sich umsieht, fängt sie seinen Blick auf.<br />
Musik setzt ein (die einzige in diesem <strong>Film</strong>): Cat Power, Remember<br />
Me. Und während diese „We are only here / just for a little while“<br />
singt, fängt ein Spiel an aus Hinterhersehen, Innehalten, Verfolgen,<br />
Überholen, aus Unbeteiligt-Tun und Heimlich-Anstarren, während<br />
die Kamera von weit weg das Schauspiel verfolgt. Als der junge<br />
Mann wieder bei seiner Freundin ist, wird die Musik nicht ausgeblendet,<br />
auch nicht, als die Freundin schon mit ihm spricht. Obwohl<br />
sie nebeneinander sitzen, zieht die Kamera sie scharf, ihn unscharf.<br />
In diesem magischen Moment, der auf seinem Flirt beharrt, ist etwas<br />
zwischen zwei Menschen passiert, das keine Konsequenzen hat, in<br />
diesem <strong>Film</strong> aber alles bedeutet. Ob sie diesen <strong>Film</strong> „gebaut“ habe,<br />
als „Architektin“, wurde Angela Schanelec gefragt. Sie antwortete:<br />
„Nein, ich gucke ja nur.“ Naja. s<br />
28 29<br />
kino<br />
Jetzt auf DVD! www.salzgeber.de
kino<br />
haut aus blicken<br />
von gunther geltinger<br />
in der fast schon untergegangenen Welt des Hafenviertels von Genua hat sich die Liebesgeschichte<br />
von Enzo und der Transsexuellen Mary ereignet. Pietro Marcello hat aus dem ort und der Liebe einen<br />
außergewöhnlichen Dokumentarfilm gewebt, der auf der letzten Berlinale sowohl den Teddy als auch den<br />
Caligari-<strong>Film</strong>preis erhielt und ab dem 21. oktober in den deutschen Kinos zu sehen sein wird. unser Autor<br />
wurde von diesem <strong>Film</strong> in einen tagelangen rausch der Bilder und Gedanken versetzt.<br />
s Ein Schiff sticht ins Meer. Langsam bewegt es sich vom rechten<br />
zum linken Bildrand, aus dem Hafen von Genua hin zum Horizont<br />
und dem Ende des Sichtbaren. Der Blick des Wissens geht, entlang der<br />
Schrift, in Europa von links nach rechts, der Blick der Sehnsucht aber<br />
ist auf diesem ersten <strong>Film</strong>bild ein gegenläufiger, der über das Meer nach<br />
Süden schweift, über Inseln hinweg und nach Arabien, wo die Perspektive<br />
auf Europa eine andere, entgegengesetzte ist, und sich Geschichte<br />
– und ihre Geschichten – von rechts nach links festschreiben.<br />
In Genua, an der Mündung, la bocca, der Flüsse Polcevera und<br />
Bisagno, führen seit jeher die Wege vom Norden ins Meer und aus dem<br />
Meer die Flüsse hinauf über die Alpen. Am Fuß der Berge drängt die<br />
uralte Stadt ans Wasser, ein poröser Schwellenkörper aus geschichteter<br />
Zeit. An der Grenze seiner Haut wachen die Fischer in ihren Höh-<br />
len über das Kommen und Gehen der Schiffbrüchigen, machen ein<br />
Feuer und blicken aufs Meer, wo auf dem nächsten Bild, einer Archivaufnahme,<br />
junge Menschen von einem Sprungbrett federn, Körper<br />
aus Licht, die im Wasser verlöschen.<br />
Auch Enzo ist ein Gestrandeter, der als Kind von Sizilien heraufgekommen<br />
ist und mit seinem Vater Zigaretten verkauft hat. Andere<br />
illegale Geschäfte haben ihn bald in den Knast und dort zur Liebe<br />
seines Lebens gebracht, der damals heroinsüchtigen Transsexuellen<br />
Mary, die ihm für ein paar Zigaretten die Hosen säumte. Sie hat<br />
sich sofort verliebt, sagt sie, in diesen Jungen im Körper eines Riesen.<br />
Zwanzig Jahre später knüpfen sie noch immer gemeinsam ihre<br />
Träume, in Briefen und auf Tonbändern, die sie sich hin und her schicken,<br />
sie aus dem Wartesaal des Lebens ins Gefängnis, er aus dem<br />
ArSENAL DiSTriBuTioN<br />
Gefängnis hinaus in die Welt, die auch ein Gefängnis ist, nur größer<br />
und voller Möglichkeiten, die aber nie Wege, immer schon Versäumnisse<br />
gewesen sind. Wenigstens einen Traum, den bescheidenen,<br />
fast bürgerlichen von einem Haus mit Hund und Garten, werden die<br />
beiden im <strong>Film</strong> noch verwirklichen, doch Mary wird es bedauern,<br />
dass Enzo kein Schauspieler geworden ist, mit diesem Gesicht, dem<br />
Gesicht des Camorra-Paten schlechthin, das Al Pacino und Robert de<br />
Niro wie nette Schwiegersöhne aussehen lässt.<br />
Die Chance versinkt in einer Collage aus <strong>Film</strong>plakaten von alten<br />
Gangsterfilmen, verraucht in einer von Enzos zahllosen Schießereien.<br />
Es bleiben die patrouillierenden Ordnungshüter und Huren,<br />
das Sirenengeheul im Hafenviertel, Menschen irren von links nach<br />
rechts und rechts nach links. Hindurch gräbt sich die Liebe von Mary<br />
und Enzo, von der beide stets in der Vergangenheit sprechen, als wäre<br />
sie bereits eine der Legenden, die das Meer unentwegt an Land spült.<br />
Denn schon auf dem nächsten Bild stößt die Abrisszange eines Baggers<br />
wie die allmächtige Hand der Geschichtsschreibung in die Ablagerungen<br />
von Gewusstem und Geträumtem, reißt willkürlich etwas<br />
heraus, wälzt es um und trägt es schließlich davon wie eine Trophäe:<br />
ein altes Eisen, eine Bahnschiene, über die, auf einer anderen<br />
Archiv aufnahme, mit Geröll beladene Loren rattern, ein junger Mann<br />
springt auf den Zug, einer, der die Weiche gestellt hat und weiter will.<br />
Wohin, weiß nur das Meer.<br />
Steine rutschen ins Wasser, Mauern stürzen ein, in der gleichen<br />
Bewegung, mit der eine Welle an den Kai rollt und Wolken – oder ist<br />
es Asche? – über Ruinen ziehen. Trotz der rhythmischen, fast tänzerischen<br />
Montage tobt die Zeit wie eine Sturmflut durch die inszenierten,<br />
dokumentarischen und historischen Räume des <strong>Film</strong>s, verwüstet das<br />
Leben von Mary und Enzo, kaum, dass die Erzählung es herausgeschält<br />
hat aus den tiefen Schichtungen von Material, Mensch und Meer.<br />
Pietro Marcello, der an der Accademia di Belle Arti in Neapel,<br />
Genuas Spiegelstadt im Süden, studiert hat, erhielt bei der diesjährigen<br />
Berlinale den Teddy Award für den besten Dokumentarfilm. Doch<br />
La bocca del lupo, „Der Wolfsmund“, wie auch ein Roman des Genueser<br />
Schriftstellers Gaspare Invrea von 1892 heißt, ist weit mehr als ein<br />
Dokumentarfilm. Er ist, was Kino in seinen besten und magischsten<br />
Momenten sein kann, im kinetischsten, also bewegtesten und bewegendsten<br />
Sinne, und darüber hinaus eine verstörend schöne Elegie<br />
auf das Vergessen und eine Liebeserklärung an eine beinahe untergegangene<br />
Stadt.<br />
Zum Schluss, in ihrem Haus mit Hund und Garten, hoch über<br />
dem Hafen von Genua und der Wolkendecke nahe wie einer weiteren<br />
Ebene ihres Traumes, sitzen Mary und Enzo am Feuer wie zu Beginn<br />
des <strong>Film</strong>s die Fischer. Doch sie wissen, dass sie auch hier im aufgerissenen<br />
Wolfsrachen leben, am Rande der Existenz und mitten im<br />
Kollaps der Zivilisationen, der am Ende alle Bilder verschlingt. Ob<br />
man sich gegenseitig beherrscht oder sich nur sehr gut kennt, ist die<br />
letzte Frage, die das Paar an seine Liebe stellt. Sie schallt aufs Meer<br />
hinaus, durch beider Vergangenheiten in die Gegenwart dieses <strong>Film</strong>s,<br />
in unsere eigene Zukunft, und weiter. Was bleibt, sind Spuren der<br />
Erinnerung und Schatten, die sich auflösen, wie der Fischer in seiner<br />
Höhle sagt. Was bleibt, sind die Wellen auf dem Meer wie eine Haut<br />
aus Blicken. s<br />
La bocca del lupo<br />
von Pietro Marcello<br />
IT 2009, 75 Minuten, OmU<br />
Arsenal Distribution, www.arsenal-berlin.de<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 21. Oktober<br />
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kino
kino<br />
AlleS iN<br />
ORDNuNg<br />
interview: Patrick heidMann<br />
Seit ihrem ersten Spielfilm „High Art“ (1997) ist Lisa Cholodenko eine feste Größe im uS-independent-<br />
Kino. Nach der prominent besetzten Vierecks-Familien-Geschichte „Laurel Canyon“ (2002) legt die<br />
regisseurin, die zwischendurch auch Folgen für TV-Serien wie „Six Feet under“ oder „The L-Word“<br />
realisierte, nun ihre bislang populärste Arbeit vor: „The Kids Are All right“, mit Julianne Moore und Annette<br />
Bening als lesbischem Paar, dessen Kinder sich auf die Suche nach ihrem Vater macht, lief mit Erfolg auf<br />
der diesjährigen Berlinale, gewann den Spielfilm-Teddy, entpuppte sich als einer der überraschungshits<br />
im amerikanischen Kino-Sommer und kommt am 18. November auch auf die deutschen Leinwände.<br />
Mit der SiSSY sprach Cholodenko unter anderem über ihre eigene Kindheit, Schwulenpornos und die<br />
familienpolitische rückständigkeit der uSA.<br />
sissy: Erzählt „The Kids Are All Right“ eigentlich etwas Neues?<br />
Lisa Cholodenko: Und ob! Und es ist eine echte Erleichterung, dass<br />
mir das überhaupt gelungen ist. Während ich das Drehbuch schrieb,<br />
staunte ich selbst oft, wie toll und zeitgemäß unsere Geschichte war –<br />
und dass noch niemand vorher etwas Ähnliches erzählt hatte. Immerhin<br />
ist die amerikanische Presse in den letzten Jahren voll gewesen<br />
von Geschichten über die Homo-Ehe oder Kinder, die nach ihren<br />
Samenspender-Vätern suchen. Bis zum Schluss hatte ich die Sorge,<br />
jemand könnte uns das Thema vor der Nase wegschnappen.<br />
Teilten denn alle Ihre Begeisterung? Standen die Geldgeber Schlange?<br />
Natürlich nicht. Im Gegenteil, und ich war wirklich überrascht, wie<br />
schwer es letztlich war, den <strong>Film</strong> auf die Beine zu stellen. Aus irgendwelchen<br />
Gründen war ich davon ausgegangen, wir würden mit einer<br />
derart modernen Geschichte offene Türen einrennen, zumal wir das<br />
Thema ja nicht von einer politischen oder kontroversen Seite angehen,<br />
sondern sehr das Komödiantische und Menschliche in den Vordergrund<br />
rücken. Aber selbst, als wir unsere prominente Besetzung<br />
zusammen hatten, waren noch nicht alle Produzenten überzeugt und<br />
ich brauchte mehrere Jahre, bis alles unter Dach und Fach war.<br />
Wie früh kamen Julianne Moore und Annette Bening denn ins Spiel?<br />
Julie war schon sehr früh mit an Bord. Wir hatten schon vor Jahren<br />
mal darüber gesprochen zusammenzuarbeiten und so hatte ich sie<br />
bereits im Hinterkopf, als ich die Geschichte schrieb. Als ich meinen<br />
Sohn bekam, nahm erst einmal eine kleine Auszeit, feilte weiter am<br />
Drehbuch und es wurde immer pointierter. So kam ich auf Annette,<br />
denn für mich gibt es wenige Schauspielerinnen, die Drama und<br />
Komödie so gut miteinander vereinen können wie sie.<br />
Haben Sie vorher ausprobiert, ob zwischen den beiden überhaupt die<br />
Chemie stimmt?<br />
Dafür fehlten mir, ehrlich gesagt, die Zeit und das Geld. Den Luxus,<br />
tagelang Probeaufnahmen mit Julianne und zehn verschiedenen Kolleginnen<br />
zu machen, konnte ich mir einfach nicht erlauben. Zumal<br />
das bei Schauspielerinnen vom Kaliber der beiden auch einfach nicht<br />
wirklich üblich ist.<br />
Wollten Sie mit einer Komödie über eine ungewöhnliche Familie ein<br />
größeres Publikum erreichen als mit ihren früheren <strong>Film</strong>en?<br />
Ganz so bewusst lief das nicht. Ich hatte eher das Gefühl, dass die<br />
Thematik geradezu danach schrie. So ernst die Sache ist, birgt sie<br />
einfach auch etwas unglaublich Albernes. Ich weiß das, ich kenne<br />
das aus meinem eigenen Leben. Das Kind von meiner Lebensgefährtin<br />
und mir stammt auch von einem Samenspender. Aber ich wollte<br />
um Gottes Willen keine überdramatische Betroffenheitskiste daraus<br />
machen.<br />
SuzANNE TENNEr / uNiVErSAL<br />
Zu den vielen hübschen Details des <strong>Film</strong>s gehört es, dass das lesbische<br />
Paar sich im Bett gerne mal Schwulenpornos anguckt. Ist das auch<br />
autobiografisch?<br />
Oh ja, damit kenne ich mich aus. Und ich kenne viele Frauen, die<br />
damit ebenfalls vertraut sind. Mir lag es extrem am Herzen, dass es<br />
diese Szene gibt, in der Julianne Moore das ihren Kindern erklärt.<br />
FEATurES<br />
Natürlich war mir klar, dass das die wenigsten Zuschauer wirklich<br />
FoCuS /<br />
begreifen würden, deswegen war ich gespannt, ob wenigstens sie es<br />
schafft, den Leuten das irgendwie zu vermitteln. Und ich finde, dass<br />
JoNES<br />
sie ihre Sache ziemlich gut macht, oder? KELViN<br />
So zeitgemäß das Familienkonzept in „The Kids Are All Right“ auch ist,<br />
brechen Sie doch nicht mit einem eher konservativen Bild des Zusammenlebens<br />
und den zugehörigen Werten...<br />
Sie haben Recht, da kommt wohl meine Kindheit durch. Ich bin zwar im<br />
Los Angeles der Siebziger Jahren aufgewachsen, also wirklich liberal,<br />
aber in meiner Familie wurde viel Wert auf Traditionen gelegt. Meine<br />
Etern sind seit 50 Jhren verheiratet und leben immer noch in dem gleichen<br />
Haus. Wenn mein Vater um 19 Uhr nach Hause kam, gab es Essen.<br />
Nach einem Geburtstag wurden Dankeskarten verschickt. Dass wir<br />
Kinder heimlich Pott rauchten, war dagegen kein großes Thema …<br />
Wird denn ein <strong>Film</strong> wie „The Kids Are All Right“ in Punkto Liberalität<br />
etwas ändern? Zum Beispiel, was den Diskurs über homosexuelle Eltern<br />
angeht?<br />
Ich bin stolz darauf, dass der <strong>Film</strong> einfach ein Familien porträt, kein<br />
politisches Pamphlet ist. Denn gerade durch diese Haltung ist der <strong>Film</strong><br />
letztlich doch auch ein gesellschaftliches Statement, das sicher zur<br />
richtigen Zeit kommt. Der Umgang in den USA mit dem Thema Homo-<br />
Ehe, wo immer noch alles von jedem Staat individuell geregelt wird, ist<br />
wirklich beschämend. Dass mein <strong>Film</strong> nun vielleicht von ein paar mehr<br />
Zuschauern als den Lesben in New York und San Francisco gesehen<br />
wird, kann deswegen sicher nicht schaden. Aber er wird wohl leider die<br />
nötigen Veränderungen in unserem Land, das da erschreckenderweise<br />
vielen anderen hinterherhinkt, nicht beschleunigen können.<br />
Wie kam es eigentlich zu dem <strong>Film</strong>titel „The Kids Are All Right“?<br />
Eigentlich geht es doch vor allem um die Erwachsenen …<br />
In gewisser Hinsicht ist das ein ironischer Kommentar meinerseits<br />
auf all die Ängste, die viele Menschen immer noch vor homosexuellen<br />
Eltern oder Lehrern und ihrem Einfluss auf Kinder haben. In meinem<br />
Fall sind die Kinder viel souveräner als ihre Mütter. Ursprünglich<br />
schrieb sich der Titel The Kids Are Alright, aber da gab es ein paar<br />
Copyright-Schwierigkeiten mit The Who. So finde ich ihn aber auch<br />
nicht schlecht, denn jetzt wird noch klarer, dass mit diesen Kids eben<br />
wirklich alles ‚richtig‘ ist.<br />
Verglichen mit Ihren vorherigen Arbeiten ist der <strong>Film</strong> viel größer und<br />
aufwendiger produziert. Könnten Sie sich vorstellen, noch mal so zu<br />
drehen wie früher?<br />
Eigentlich nicht, wenn ich ehrlich bin. Das geht schon deswegen<br />
nicht mehr, weil ich ja mittlerweile Mitglied der Regie-Gewerkschaft<br />
bin und mich an gewisse Vorschriften halten muss. Als ich High Art<br />
drehte, studierte ich noch, alle am Set arbeiteten umsonst. Noch einmal<br />
würde ich niemanden derart ausbeuten wollen. Vor allem nicht,<br />
wenn ich die Wahl habe!<br />
Würden Sie sich denn für viel Geld von einem Hollywoodstudio für einen<br />
<strong>Film</strong> engagieren lassen, dessen Drehbuch nicht von Ihnen stammt?<br />
Warum nicht? Wenn das eine Geschichte ist, zu der ich einen persönlichen<br />
Bezug finde, würde so etwas durchaus für mich in Frage kommen.<br />
Völlig austauschbare Stangenware käme dabei aber sicherlich<br />
nicht heraus.<br />
The Kids Are All Right<br />
von Lisa Cholodenko<br />
US 2010, 106 Minuten, dt. SF, OmU<br />
UPI Germany,www.universal-pictures.de<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 18. November<br />
www.the-kids-are-all-right.de<br />
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kino
kino<br />
buddysex<br />
von hanno stecher<br />
Heterosexuelle Männer können alles, auch schwul. Denken sie zumindest. regisseurin<br />
Lynn Shelton macht daraus mit zwei improvisierenden Schauspielern ein Experiment<br />
mit offenem Ausgang, das ziemlich komisch ausfällt. Was man neuerdings als<br />
Mumblecore-Ästhetik im uS-amerikanischen independentfilm bezeichnet, funktioniert<br />
hier in der tastenden Suche nach den Grenzen einer Männerfreundschaft ganz<br />
hervorragend. „Humpday“ läuft ab 9. September in den Kinos.<br />
s Im Hipster-Magazin „Vice“ gab es vor<br />
Kurzem eine Fotostrecke, in welcher man<br />
einen sich als heterosexuell identifizierenden,<br />
großflächig tätowierten jungen Mann<br />
dabei beobachten konnte, wie er sich quasi<br />
„als Experiment“ einen Buttplug zu Gemüte<br />
führte. Die Fotos, kommentiert durch zotige<br />
Sprüche, wurden inszeniert als Grenzüberschreitung,<br />
als das große Abenteuer, sich als<br />
Heterotyp schwule Sextechniken anzueignen<br />
– und damit vielleicht doch selbst ein<br />
kleines bisschen schwul zu sein. So weit, so<br />
albern. Dass es allerdings auch möglich ist,<br />
das Verhältnis nicht-schwuler Männer zu<br />
schwulem Sex jenseits infantilen Sprücheklopfens<br />
genauer unter die Lupe zu nehmen,<br />
zeigt Lynn Shelton in Humpday. Der <strong>Film</strong><br />
spielt in Seattle, der Heimatstadt der Regisseurin,<br />
und widmet sich mit einem ziemlich<br />
großartigen Sinn für Humor der Männerfreundschaft<br />
zweier alter Collegefreunde<br />
in den Dreißigern, die sich nach etlichen<br />
Jahren wieder begegnen. Ein gemeinsamer<br />
Saufabend bringt die beiden netten Kerle Ben<br />
und Andrew auf die Idee, zusammen einen<br />
„Kunstfilm“ zu drehen, der zeigen soll, wie<br />
sie, die beiden besten Kumpels, miteinander<br />
in die Kiste steigen. Die Idee wird schnell zur<br />
Wette und nun nimmt alles seinen Lauf.<br />
Denn beide Männer haben gute Gründe,<br />
die ungewöhnliche Wette nicht zu verlieren,<br />
ist sie doch ganz konkret an ihr Selbstverständnis<br />
und ihre jeweilige Lebenssituation<br />
geknüpft: Ben ist gerade dabei, mit seiner<br />
Freundin Anna ein spießiges Familienleben<br />
aufzubauen und spürt seine Freiheiten<br />
dahinschwinden, während Weltenbummler<br />
Andrew seinen Ruf als durchgeknallter Typ<br />
retten will und den Deal als eine Art künstlerische<br />
Herausforderung betrachtet. Schwuler<br />
Sex wird so für beide Männer zum Ausdruck<br />
einer anti-bürgerliche Grundhaltung<br />
und zum Weg, sich selbst zu beweisen, dass<br />
man immer noch irgendwie „offen“ ist. Mit<br />
diesem Verhältnis spielt auch der doppeldeutige<br />
Titel des <strong>Film</strong>s – während „Humpday“<br />
umgangssprachlich für den Mittwoch als<br />
Mitte der Arbeitswoche benutzt wird, kann<br />
das Verb „to hump“ auch schlicht „ficken“<br />
bedeuten.<br />
Shelton geht es bei ihrem dritten Spielfilm<br />
vor allem darum, die Auswirkungen<br />
des gemeinsamen Deals auf die Beziehung<br />
der beiden Männer genauer unter die Lupe<br />
FuGu FiLMVErLEiH<br />
zu nehmen. Die Frage, ob da jenseits dieser<br />
Wette vielleicht noch ein viel tieferes Begehren<br />
in den Jungs vor sich hin schlummert,<br />
bleibt dabei mehr oder weniger unbeantwortet.<br />
Stattdessen nutzt die Regisseurin den<br />
„Humpday“ als Katalysator, als etwas, das<br />
eine klassische Männerfreundschaft plötzlich<br />
aus den Fugen geraten lässt. Denn, so ihre<br />
These, durch den Plan, etwas Schwules zu<br />
machen, sind die zwei in ihrem Selbstbild bislang<br />
eher unangetasteten Männer plötzlich<br />
dazu gezwungen, sowohl ihr Verhältnis zueinander,<br />
als auch zu sich selbst zu reflektieren.<br />
In ihrer Dekonstruktion von Männlichkeit(en)<br />
gelingt es Shelton dabei, ihre Protagonisten<br />
immer wieder in Situationen zu<br />
lotsen, in denen Komik und Tragik so nahe<br />
beieinander liegen, dass man als Zuschauer<br />
vor Fremdscham am liebsten im Boden versinken<br />
würde. Denn ein großer Teil der Kommunikation<br />
zwischen den beiden Freunden<br />
findet trotz Veränderungen in ihrer Beziehung<br />
auch weiterhin auf einer Ebene statt,<br />
auf der vieles unausgesprochen bleibt. Alles<br />
andere, so scheint es, würde die Freundschaft<br />
wohl sprengen. Wichtiger Nebenschauplatz<br />
ist hier auch Bens Beziehung zu<br />
seiner Freundin, die natürlich irgendwann<br />
von der Sache Wind bekommt. Dass gerade<br />
in diesen Momenten die Stärke des <strong>Film</strong>s liegen,<br />
hängt besonders mit dem perfekt aufeinander<br />
abgestimmten Schauspielerduo Mark<br />
Duplass und Joshua Leonard zusammen, die<br />
ihre Texte während des Drehs weitestgehend<br />
improvisiert haben und dabei immer<br />
den richtigen Ton treffen. Darüber hinaus<br />
hat sich Shelton entschieden, mit Handkameras<br />
zu drehen, die nur wenig Distanz zu<br />
dem Geschehen zulassen, bestimmte Gesten<br />
betonen und, natürlich, Authentizität<br />
simulieren. Dabei spielt sie die Stärken eines<br />
klassischen Indiefilms so gut aus, dass die<br />
Sundance-Jury ihr für Humpday im vergangenen<br />
Jahr einen Sonderpreis, den „Spirit of<br />
Independence“-Award, verliehen hat.<br />
Tja, und irgendwann ist er dann tatsächlich<br />
da, der große Tag. Aber spätestens als<br />
die beiden Jungs anfangen, vor laufender<br />
Handkamera noch einmal ihre Heterosexualität<br />
zu beschwören, wird klar, dass dieses<br />
Date genauso kompliziert wird wie man es<br />
befürchtet hat. s<br />
Humpday<br />
von Lynn Shelton<br />
US 2008, 94 Minuten, OmU<br />
Fugu <strong>Film</strong>verleih, www.fugu-films.de<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 9. September<br />
www.humpdayfilm.com<br />
Venus im trash<br />
von Jan küneMund<br />
Pornodarsteller, obdachlose, Leichenfledderei, Festivalausladung in Melbourne, blasierte Langeweile in<br />
Locarno, drohende indizierung: Bruce LaBruce hat einen neuen <strong>Film</strong> gemacht. Sich zwischen alle Stühle zu<br />
setzen ist für ihn selbstverständlich und für seine Fans Ausdruck einer queeren Strategie. ob man gut dabei<br />
aussieht, wenn man sich zwischen die Stühle setzt, ist eine andere Frage. und ob man am Ende überhaupt<br />
irgendwo sitzt, muss angesichts von „L.A. zombie“ (Kinostart am 7. oktober) tatsächlich auch mal gefragt<br />
werden.<br />
s Die erste Stuhlreihe: Pornografie – Independentkino<br />
– Kommerz – Zensur. LaBruce<br />
hat diesen <strong>Film</strong> wieder einmal sehr originell<br />
finanziert, über das Zusammenbringen mehrerer<br />
Gay-Adult-Anbieter, einem Mode/Neue<br />
Medien-Projekt, einer Galerie, einem Independent-<strong>Film</strong>label.<br />
Die schon eingeübte Strategie,<br />
deren unterschiedliche Verwertungsketten<br />
zu bedienen, soll auch diesmal wieder<br />
verfolgt werden, in dem aus L.A. Zombie<br />
eine Softcore-Version entsteht (die jetzt auch<br />
ins Kino kommt und zumindest bei einigen<br />
Festivals gelaufen ist und laufen wird) und<br />
gleichzeitig eine Hardcore-Version für das<br />
innovative Pornolabel Wurstfilm. Nun ist<br />
die Arthouse-Version von der Indizierung<br />
bedroht (wahrscheinlich wegen dem, was da<br />
mit Leichen veranstaltet wird; die deutschen<br />
Behörden sind wie auch die FSK da sehr kreativ),<br />
was eine DVD-Auswertung bedroht<br />
und damit die Hardcore-Version auf Dauer<br />
zur „eigentlichen“ machen wird. Diese wiederum<br />
dürfte kaum die genreüblichen Anforderungen<br />
erfüllen, denn der Sex, um den es<br />
hier geht, entspricht ziemlich ungewöhnlichen<br />
oder mutmaßlich ziemlich selten Fantasien.<br />
Die zweite Stuhlreihe: Kino – DVD –<br />
Internet – Museum. Das ist eine aktuelle und<br />
zugleich ziemlich alte Frage (wenn man an<br />
Anger, Deren, Genet denkt): Wo genau finden<br />
queere Bewegtbilder eigentlich statt?<br />
Zunächst kam der L.A. Zombie zu einer Ausstellung<br />
der Galerie Peres Projects in Berlin,<br />
in der das Video des <strong>Film</strong>s eigentlich nur<br />
Beiwerk war zu großformatigen Fotografien<br />
des Darstellers François Sagat in Zombie-<br />
Fashion-Look, die als Standfotos eines <strong>Film</strong>s<br />
inszeniert waren, den es vielleicht gar nicht<br />
gab. LaBruce zufolge entstand der <strong>Film</strong> dazu<br />
tatsächlich auch erst auf Bitten anderer, er<br />
selbst hätte ihn gar nicht unbedingt machen<br />
müssen (zumal er mit Otto, or: Up With<br />
Dead People schon einen sehr ernsthaften<br />
und komplexen Queer-Zombie-<strong>Film</strong> gedreht<br />
hatte). Nun geht der <strong>Film</strong> seinen Festival-<br />
und Kino-Weg oder vielleicht auch nicht,<br />
wenn er tatsächlich sogar hierzulande indi-<br />
ziert wird und die Festivals ihn nicht spielen<br />
(oder wieder streichen, wie z.B. Melbourne).<br />
Das Netz bliebe als ohnehin sich mehr und<br />
mehr anbietender Abspielort für innovatives<br />
queeres Kino. <strong>Film</strong>kritiker mit konventionellem<br />
„Kinofilm“-Begriff haben schon<br />
in Locarno mehrheitlich die Frage gestellt,<br />
ob L.A. Zombie überhaupt ein „<strong>Film</strong>“ ist und<br />
nicht eher ein „Clip“.<br />
Die dritte Stuhlreihe: Zombies – Obdachlose<br />
– schwule Ikonen – das Kunstverweis-<br />
System: Wie ernst ist das alles eigentlich<br />
gemeint? War der Zombie in Otto noch eine<br />
ernsthafte, melancholische Figur in der Tradition<br />
des frühen Tourneur-<strong>Film</strong>s I walked<br />
with a Zombie (1942), so ist der Nachfolger<br />
in L.A. zwar auch eine Missfit-Ikone, die<br />
aber völlig in einem Zitat-System konstruiert<br />
wird: eine schauerliche Botticelli-<br />
Venus, ein seelenloses Romero-Wesen, ein<br />
„vogelfreier“ (Agnes Varda) Obdachloser,<br />
eine Porno-Ikone mit sexy Aussparungen<br />
im Penner-Look, ein pervertierter Captain<br />
America usw. Grease wird zitiert, Morricone<br />
auch. Die Porno-Orgien-Szene findet<br />
in einem White Cube statt, der Soundtrack<br />
besteht aus schlechter Pseudosinfonik und<br />
GMFiLMS<br />
noch oberflächlicherem Electro/Folk/Indie/<br />
Pop-Gesäusel.<br />
Wo sitzt dieser <strong>Film</strong> nun eigentlich? Im<br />
punkigen, aber auch kühl kalkulierenden<br />
Selbstvertrauen, das alles auf Gedeih und Verderb<br />
kombinieren zu können und sich dahinter<br />
unsichtbar zu machen? Maske & Requisite<br />
wechseln zwischen zwei Schnitten, die Idee<br />
einer an Ort und Zeit gebundenen Handlung<br />
ist völlig aufgehoben, der Zombie kommt<br />
als Retter, fickt die Toten ins Leben zurück<br />
(in einer Szene buchstäblich ins Herz), der<br />
Pornoindustrie wird ihre eigene industrielle<br />
Kälte vorgeführt und mit gehörnten Schwänzen,<br />
schwarzem Ejakulat und kreativ genutzten<br />
Körperöffnungen beantwortet, die eher<br />
die männliche Penetrationsfantasie oder<br />
männliche Sexualität überhaupt dekonstruiert<br />
als geil macht. Und François Sagat, mit<br />
seinem Pitbull-Körper und den schönen jungenhaften<br />
Augen, seinem Toupet-Tattoo und<br />
der Steroid-Hautspannung weint zu französischen<br />
Chansons blutige Tränen und steht,<br />
unschuldig in Szene gesetzt, als männliche<br />
Ikone für die Jetztzeit da wie einst Dallessandro<br />
für die Endsechziger. Man darf gespannt<br />
sein, ob dieser Queerness jemand folgen wird<br />
wie einst (aus Liebe) dem Tourneur-Zombie.<br />
Bitte Platz zu nehmen, aber: Vorsicht! s<br />
L.A. Zombie<br />
von Bruce LaBruce<br />
DE/US/FR 2010, 63 Minuten,<br />
OF (ohne Dialog)<br />
GMfilms, www.gmfilms.de<br />
34 35<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 7. Oktober<br />
www.lazombie.com<br />
kino
dvd<br />
Zwei FAhRkARteN,<br />
SOweit wie möglich!<br />
IntervIew: Jan Künemund<br />
Michael roes, einer der spannendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur („rub-Al’Khali – Leeres<br />
Viertel“), dreht auch <strong>Film</strong>e. Wie z.B. „Timimoun“, der Ende August auf DVD erscheint. Er erzählt von der<br />
Freundschaft zweier Jungen in einem zerrissenen Land.<br />
sissy: Lieber Michael, man kennt dich ja als äußerst produktiven Autor<br />
– allein 2010 erscheinen zwei große Romane von dir. Wann findest du<br />
überhaupt die Zeit, auch noch <strong>Film</strong>e zu drehen?<br />
Michael Roes: Ich sehe mich selbst eher als langsamen und konzentrierten<br />
Arbeiter. Dass ich so produktiv wirke, hängt womöglich mit<br />
der untrennbaren Verschränkung meiner Arbeit mit meinem Leben<br />
zusammen: Schreiben und <strong>Film</strong>en sind nicht nur ein Teil meines<br />
Lebens, sondern unmittelbar gelebte Zeit. Insofern macht es keinen<br />
Unterschied, ob dieses Künstler/Dasein gerade im Nachdenken, im<br />
Hinschauen, im Schreiben oder im <strong>Film</strong>en besteht. Für mich ist der<br />
<strong>Film</strong> im Grunde nichts anderes als die Arbeit an einem neuen Roman<br />
mit anderen Mitteln.<br />
Aber stellen das Schreiben und das <strong>Film</strong>emachen nicht völlig verschiedene<br />
Anforderungen, was die Auseinandersetzung mit einem Stoff<br />
angeht?<br />
Bei den dezidierten Autoren-<strong>Film</strong>ern wie Pasolini oder Cocteau ließ<br />
sich das Schreiben vom <strong>Film</strong>en nicht trennen. Und längst sind klassische<br />
<strong>Film</strong>techniken wie Montage, Vor- und Rückblenden Stilmittel<br />
des modernen Romans, so wie wir bei manchen <strong>Film</strong>werken von<br />
einem epischen oder lyrischen <strong>Film</strong> sprechen.<br />
Nein, die unterschiedliche Auseinandersetzung mit dem Stoff<br />
liegt nicht in der Formsprache, sondern (bei mir) allein in der Technik.<br />
In dem Augenblick, wo ich Kameraführung und Schnitt ebensogut<br />
beherrsche wie meine sprachlichen Mittel, kann ich den „Stoff“,<br />
der sich in mir, bevor ich überhaupt mit dem ersten Wort beginne,<br />
immer schon als ein innerer <strong>Film</strong> darstellt, sowohl in die eine oder<br />
andere „Sprache“ übersetzen.<br />
Für „Timimoun“ hasst du allerdings auch eine genuin filmische Form<br />
gewählt, weil sie per se mit Bewegung zu tun hat – das Roadmovie. Ein<br />
Junge kehrt – nicht ganz freiwillig – zu seiner Familie ins algerische<br />
Hinterland zurück und sein bester Freund begleitet ihn. In dieser Konstellation,<br />
einer Freundschaft in Bewegung, liegt ja an sich schon etwas<br />
sehr <strong>Film</strong>isches …<br />
Auch der erste Roman der Weltliteratur, Homers „Odyssee“, ist<br />
bereits ein „Roadmovie“. Und die Schrift (im vordigitalen Zeitalter)<br />
stellt eine Linie, einen Weg dar und bewegt sich, nicht anders als der<br />
<strong>Film</strong>, linear in der Zeit fort.<br />
Doch am Anfang von Timimoun stand nicht eine fertige Geschichte,<br />
sondern ein Land und seine besonderen Menschen: Algerien und die<br />
Freunde, die ich dort während langer Aufenthalte gewonnen hatte.<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
Die letzten zwanzig Jahre waren unvorstellbar grausam,<br />
und die heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen sind in einer<br />
Zeit permanenten Terrors aufgewachsen. Mich selbst hat<br />
die Situation so entsetzt, dass ich nach künstlerischen<br />
Wegen gesucht habe, meiner Sprachlosigkeit angesichts<br />
der alltäglichen Verwundungen Herr zu werden. Der<br />
Mythos der Orestie, übersetzt in die psycho-dramatische<br />
Form des <strong>Film</strong>s, schien für mich und meine Freunde<br />
ein Weg zumindest der Vergegenwärtigung, wenn auch<br />
nicht der Heilung. Also bestand mein erster Ausdrucksversuch<br />
in einem Drehbuch, meinen engsten Freunden in<br />
der Kabylei auf den Leib geschrieben. Und als sie sich in<br />
diesem Drehbuch vollkommen verstanden wiederfanden,<br />
war damit der weitere Weg vorgezeichnet.<br />
Diese Überblendung von Mythos und moderner algerischer<br />
Geschichte hört sich zunächst sehr gewagt und konstruiert<br />
an – tatsächlich wirken die Szenen aber ganz leicht und<br />
spontan, sie sind voller Interaktionen und dokumentarischer<br />
Spannung.<br />
Wenn der <strong>Film</strong> tatsächlich eine gewisse Leichtigkeit<br />
und Spontaneität bewahrt hat, so freut mich das sehr.<br />
Die realen Drehbedingungen waren nämlich geradezu<br />
ein Albtraum. Nachdem endgültig klar war, dass ich für<br />
ein derart ambitioniertes Projekt, eine moderne Version<br />
der Orestie in Algerien, keine Fördermittel bekommen<br />
werde, haben meine Freunde und ich beschlossen, diesen<br />
<strong>Film</strong> trotzdem zu wagen, ohne jedes Budget, ohne<br />
Drehgenehmigung und Unterstützung. Von Anfang an<br />
hatten die algerischen Behörden ein Auge auf uns. Es gibt<br />
ja immer noch kaum europäische Reisende im Land. Die<br />
Behörden wollten keinen diplomatischen Eklat provozieren<br />
und mich wegen der illegalen Dreharbeiten aus dem<br />
Land werfen. Statt dessen haben sie die Taktik gewählt,<br />
mich und vor allem meine algerischen Mitstreiter so sehr<br />
einzuschüchtern, dass mir im Lauf der Wochen bis auf die<br />
beiden Hauptdarsteller alle Mitarbeiter verloren gingen.<br />
Am Ende haben wir mehr Zeit auf Polizeirevieren als an<br />
Drehorten verbracht. Als ich aus Algerien abgereist bin,<br />
hatte ich befürchtet, dass all die wochenlangen Anstrengungen<br />
und Kämpfe vergeblich gewesen seien. Erst am<br />
Schneidetisch hat das diesen widrigen Umständen abgetrotzte<br />
und am Ende eher improvisierte Material sich auf<br />
wundersame Weise doch zu jenem <strong>Film</strong> gefügt, den ich<br />
zu drehen geplant hatte.<br />
Ich denke vor allem an die Szenen im Bus, in denen die beiden<br />
Schauspieler mit den Mitfahrern agieren und die Kamera<br />
ganz dicht dran ist …<br />
Die meisten der Roadmovie-Szenen sind tatsächlich<br />
semidokumentarisch gedreht: Wir haben den regulären<br />
Bus genommen, die Insassen gefragt, ob sie Darsteller in<br />
unserem <strong>Film</strong> sein wollten und drauflosgedreht. Keine<br />
dieser Szenen hätten wir wiederholen können. Aber<br />
wenn man überwiegend mit Laien arbeitet, sollte ohnehin<br />
die erste Aufnahme sitzen. Mit jeder Wiederholung<br />
geht Spannung und Authentizität verloren.<br />
In einem Land, in dem Homosexualität und z.T. sogar das<br />
Abspielen von Liebesliedern verboten sind, zeigst du eine<br />
deutlich homoerotisch aufgeladene Jungenfreundschaft<br />
und füllst den Soundtrack des <strong>Film</strong>s mit (französischen)<br />
Liebesliedern. Über Laid wird zwar in den Rückblenden<br />
erzählt, dass er in mehrfacher Hinsicht ein ‚besonderer‘<br />
Junge ist, dennoch entsteht dieser Eindruck vor allem<br />
durch den Blick der Kamera und den musikalischen Kommentar,<br />
oder?<br />
Ein homosexueller Sub- oder Kontext entsteht zunächst<br />
erst mal (und vielleicht ausschließlich) im Auge des europäischen<br />
Betrachters. Die größte Repression in der muslimischen<br />
Welt betrifft Beziehungen zwischen unverheirateten<br />
Männern und Frauen. Und dieses Tabu hat<br />
seine Wurzeln weniger in religiösen Vorschriften als in<br />
tribalen Strukturen, in denen Familienbindungen immer<br />
auch eine wirtschaftliche und politische Bedeutung<br />
zukommt.<br />
Bevor das koloniale Europa unsere westlichen Konzepte<br />
von „Homosexualität“ in die muslimische Welt<br />
exportiert hat, konnten im Windschatten der heterosexuellen<br />
Tabus wesentlich intensivere Freundschaftsideale<br />
herausgebildet werden als im körperscheuen Europa.<br />
An keiner Stelle der Dreharbeiten habe ich meinen Darstellern<br />
gegenüber diesen möglichen europäischen Blickwinkel<br />
auf die Freundschaft von Laid zu Nadir auch nur<br />
angedeutet, sondern die Ausgestaltung dieser Beziehung<br />
ganz dem persönlichen Spiel der beiden Protagonisten<br />
überlassen.<br />
Aber du hast doch diese Freundschaft, die ja so viel weicher<br />
wirkt als die starre, von Hass- und Rachegefühlen<br />
und „mittelalterlichen“ Ritualen bestimmte Familie Laids,<br />
schon als eine alternative und freiere Lebensform inszeniert,<br />
in der man abhauen kann, reisen, aus der mythischen<br />
Schicksalhaftigkeit aussteigen, am Ende auf Reifenschläuchen<br />
einfach die Wüstendünen herunterrutschen …<br />
Ja, ich wollte im <strong>Film</strong> eine Wahlmöglichkeit, einen Ausweg<br />
aufzeigen. Aber es handelt sich um eine poetische<br />
Erfindung, eine Utopie, die für die meisten Altersgenossen<br />
von Laid und Nadir nicht realisierbar ist. Laids Preis für<br />
die Emanzipation ist die Aufgabe der Familie. Als Ersatz<br />
oder Trost biete ich ihm die Freundschaft. In Wirklichkeit<br />
aber ist es für die algerische Jugend nahezu unmöglich,<br />
ohne das soziale Netz der Familie zu überleben. Und<br />
das relative Maß an sozialer Sicherheit ist natürlich mit<br />
einer nahezu lebenslangen sozialen Kontrolle und Ein-<br />
und Unterordnung in die Familienhierarchie erkauft.<br />
Du hast diese Geschichte anschließend noch einmal in deinem<br />
Roman „Weg nach Timimoun“ erzählt. Hat sie sich<br />
dort weiter entwickelt?<br />
Am Anfang stand die Idee für einen <strong>Film</strong> und das Drehbuch.<br />
Als aus den Monaten des Wartens auf eine <strong>Film</strong>förderung<br />
oder sonstiger Unterstützung Jahre wurden,<br />
habe ich die <strong>Film</strong>idee zunächst als Roman ausgesponnen.<br />
Durch die besonderen Umstände des Drehens hat<br />
der <strong>Film</strong> dann aber einen ganz anderen Charakter als der<br />
Roman angenommen. Die Widerständigkeit des Realen<br />
hat sich als Co-Regisseur in die Inszenierung geschlichen<br />
und ihr einen zusätzlichen, vollkommen unberechenbaren<br />
Stempel aufgedrückt. Und nun macht womöglich<br />
gerade diese Unberechenbarkeit den besonderen Charme<br />
des <strong>Film</strong>s aus.<br />
Timimoun<br />
von Michael Roes<br />
DE/DZ 2010, 96 Minuten, OmU<br />
Auf DVD<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Weg nach Timimoun<br />
von Michael Roes<br />
Roman, 175 Seiten<br />
Geschichte der Freundschaft<br />
von Michael Roes<br />
Roman, 320 Seiten<br />
beide bei Matthes & Seitz, Berlin,<br />
www.matthes-seitz-berlin.de<br />
36 37<br />
dvd
dvd<br />
ein kuss ist ein kuss<br />
von sascha westPhal<br />
John Schlesingers melancholische Dreiecksgeschichte „Sunday, Bloody Sunday“ von<br />
1971 erscheint endlich in Deutschland auf DVD. Sie enthält einen der ersten Männerküsse<br />
der <strong>Film</strong>geschichte, zu dem sich Hauptdarsteller Peter Finch angeblich überwand‚<br />
indem er die Augen schloss und an England dachte.<br />
s Ein <strong>Film</strong> der Sehnsüchte und der Täuschungen,<br />
die meist Selbsttäuschungen sind.<br />
„Soave sia il vento, / Tranquilla sia l’onda, /<br />
Ed ogni elemento / Benigno risponda / Ai<br />
nostri desir.“ Wieder und wieder erklingt<br />
dieses Terzett aus Mozarts gewagter und<br />
gerade dadurch so hellsichtiger Oper „Così<br />
fan tutte“. Die Stimmen von Pilar Lorengar,<br />
Yvonne Minton und Barry McDaniel begleiten<br />
den Arzt Dr. Daniel Hirsh in diesen letzten<br />
zehn Tagen seiner Affäre mit dem jungen<br />
Künstler Bob Elkin auf Schritt und Tritt.<br />
Der Abschied, den er möglichst verhindern<br />
oder wenigstens hinausschieben will und der<br />
doch kommen muss – in da Pontes Versen ist<br />
er schon vollzogen. Die perfekte Harmonie<br />
dieses Trios, das aber eben auch die Lüge und<br />
den Verrat in sich trägt, ist zugleich Balsam<br />
und Gift, weckt Hoffnungen und Träume,<br />
schürt Ängste und Zweifel. Schließlich weiß<br />
Daniel ganz genau, dass er den sich nach<br />
Erfolg und den Staaten verzehrenden Jüngling<br />
nie für sich alleine hatte. Er musste ihn<br />
von Anfang an mit der geschiedenen Alex<br />
Greville teilen.<br />
Nur einmal, ganz am Schluss, als das<br />
opake Objekt ihrer Begierde schon in einem<br />
Flugzeug nach New York sitzt, stehen sich<br />
der von Peter Finch gespielte erfolgreiche<br />
Arzt und die nur noch vor sich hintreibende<br />
Tochter aus reichem Haus (Glenda Jackson)<br />
gegenüber. Es ist eine Begegnung zweier<br />
Verlierer, die immer schon auf den Falschen<br />
gehofft und gesetzt hatten. Die von Mozart<br />
und da Ponte beschworene Wankelmütigkeit<br />
der Liebe hat in Murray Heads Bob Elkin<br />
eine moderne Gestalt angenommen. Sie<br />
ist nicht mehr an den Reiz der Verführung<br />
und eine momentane Schwäche des Gefühls<br />
geknüpft.<br />
Im London des Jahres 1970, als die<br />
Träume der Swingin’ Sixites der harschen<br />
Realität der Rezession nicht trotzen konnten,<br />
wird auch Liebe zu einem Problem der<br />
Ökonomie. Es gilt, zu haushalten, nicht zu<br />
viel anzulegen und Gewinn aus dem ewigen<br />
Wankelmut zu ziehen. Also hält Bob seine<br />
Gefühle im Gleichgewicht. Daniel und Alex,<br />
beide bekommen sie ihren Teil, aber eben nur<br />
so viel, wie er zu geben bereit ist. Der jüdische<br />
Arzt in den Fünfzigern und die immer<br />
noch gegen ihren kühl distanzierten Vater<br />
rebellierende Enddreißigerin wollen natürlich<br />
alles haben. Allerdings investieren auch<br />
sie nur gerade so viel wie eben nötig: „Weht<br />
leise, ihr Winde, / Seid milde, ihr Wogen /<br />
Und all ihr Elemente / entsprecht gütig /<br />
unserm Verlangen.“<br />
Ein <strong>Film</strong> der kleinen Wunder und der leisen,<br />
der sehr leisen alltäglichen Trauer, die<br />
tiefer trifft als jede schicksalhafte Tragik.<br />
„Così van tutte“ ist ein Balanceakt zwischen<br />
Komödie und Tragödie. Am Ende haben sich<br />
alle wieder, und doch ist nichts mehr im<br />
Lot. Der Zweifel ist gesät und wird einmal<br />
Früchte tragen. In Sunday, Bloody Sunday<br />
stehen am Ende zwei Menschen alleine da,<br />
die auch vorher schon einsam waren. Viel ist<br />
also nicht geschehen, verändert hat sich auch<br />
kaum etwas. Nur die Hoffnung, die sie in den<br />
flatterhaften, aber in seiner Oberflächlichkeit<br />
absolut ehrlichen Künstler gesetzt hatten, ist<br />
CMV LASErViSioN<br />
noch etwas brüchiger, noch haltloser geworden.<br />
Alex wird sich mit ihrem Vater nicht<br />
versöhnen und ihre Mutter nie wirklich verstehen.<br />
David wird weiter zwei Leben führen.<br />
Wenn er mit Freunden und Bekannten<br />
zusammen ist, ist er ganz offen. Aber seinen<br />
Eltern und seiner Familie wird er für immer<br />
den Junggesellen vorspielen, der bisher einfach<br />
nicht die Richtige gefunden hat.<br />
Selbst in der privilegierten Welt, in der<br />
sich David, Bob und Alex bewegen, scheinen<br />
die in den 60er Jahren gelebten Freiheiten<br />
nach und nach zu schwinden. Der Traum<br />
einer ganzen Gesellschaft von einem Leben<br />
in Offenheit ist schon wieder zu einem Vorrecht<br />
einer Klasse geworden, und deren Vertreter<br />
verkehren ihn wie Alex’ und Davids<br />
so überaus liberale Freunde systematisch<br />
ins lächerlich Absurde. Aber in John Schlesingers<br />
<strong>Film</strong> bleibt er trotz allem lebendig,<br />
in der Selbstverständlichkeit, mit der David<br />
und Bob ihr Begehren ausleben, und in dem<br />
innigen, von Liebe und Zärtlichkeit erfüllten<br />
Kuss, mit dem Peter Finch und Murray Head<br />
Kinogeschichte geschrieben haben. s<br />
Sunday, Bloody Sunday<br />
von John Schlesinger<br />
UK 1971, 110 Minuten, OmU<br />
Auf DVD<br />
CMV Laservision,<br />
www.cmv-laservision.de<br />
Der moment<br />
von mIchael Sollorz<br />
Michael Sollorz hat Drehbücher („Banale Tage“), Kolumnen (Siegessäule, Queer), erotische Literatur und<br />
romane geschrieben, die – wie sein letzter, „Die Eignung“, – weit über die Nischengrenzen hinaus von der<br />
Kritik gefeiert wurden. im September erscheint sein neuer Erzählband „Piratenherz“.<br />
s So ein hoffnungsvoller Anfang! Jockel und Stefan, zwei hübsche<br />
junge Kerle aus dem linksautonomen Berliner Wagenburgmilieu kurz<br />
nach Mauerfall, ein liebenswertes Paar. Sie schieben ihre Fahrräder<br />
durch den Kiez und kleben Plakate gegen Drogen-Dealer. Dabei werden<br />
sie aus einem Auto heraus von zwei Männern beobachtet. Zivilbullen,<br />
meint Stefan. Ledertrinen, befindet Jockel und folgt dem Ruf<br />
der Wildnis, als die Männer aussteigen, in einen Hinterhof, in einen<br />
halbdunklen Keller. Die Gefahr ist Teil der Erregung, und dort unten<br />
nehmen und benutzen die Männer ihn, so wie er sie benutzt für eine<br />
kleine Glückseligkeit, während sein Stefan kurz nachschaut, ob alles<br />
okay ist, und dann oben herumsteht und wartet, an eine Hauswand<br />
gelehnt, allein.<br />
„Wie wars?“, fragt er hinterher. „Klasse“, antwortet Jockel, und<br />
man wünscht den Beiden, dass sie es schaffen. Doch sie scheitern,<br />
weil das Drehbuch es so will, ihre Liebe geht die Spree runter, und am<br />
Müggelsee gibt’s noch Kloppe von Ost-Skins. Ein schmutziges, grausames<br />
Märchen, um Wahrhaftigkeit ringend, und mitten drin Jockel,<br />
der Prinz, zum Fressen süß, das Versprechen seines hungrigen Körpers,<br />
den er martert mit Heroin, das ihn am Ende tötet.<br />
Dann ging das Licht an und das Publikum klatschte, vor siebzehn<br />
Jahren im klirrend winterlichen Saarbrücken. Wir hatten uns für<br />
Zeitungen beim Nachwuchs-<strong>Film</strong>festival Max Ophüls akkreditieren<br />
lassen, mein Freund und ich. Beide selber kaum älter als die Helden,<br />
hockten wir nach der Vorführung in einer Bar, und irgendwas hing<br />
auf einmal schräg. Zwar standen noch weitere <strong>Film</strong>e auf unserm<br />
Programm, bis tief in die Nacht – sie liefen ohne uns. Wir blieben in<br />
der Bar und machten Notizen für unsere Artikel. Stocks Kreuzberger<br />
Junkie-Märchen sei wütendes Kino für wenig Geld, schrieb ich<br />
Tage darauf in der Wochenpost. Frei von romantischem Voyeurismus<br />
lasse er die Kamera durch die Protest-Demo vom 3. Oktober fahren,<br />
durch die Fixer am Kottbusser Tor, Menschengesichter, voller Not.<br />
Wir überboten einander in trefflichem <strong>Film</strong>geschwätz, zwei erhitzte<br />
Jung-Journalisten, und tranken zügiger als sonst, absolut außerstande,<br />
miteinander endlich darüber zu sprechen, was uns vorhin im<br />
Kino wirklich so berührt hatte und verstörend nachwirkte.<br />
Es war die Kellerszene – sie warf einen Schatten. Sie kam höchst<br />
ungelegen, indem sie daran erinnerte, dass unsere Begierde etwas<br />
Ungezähmteres war, als wir beide in unserm rosigen zweiten Jahr<br />
wahrhaben wollten. Wir hatten uns wiedererkannt in Jockel, wie er<br />
in den Keller runtersteigt, dieser kleine Moment von Anarchie, süchtig<br />
und instinktsicher wie ein Tier. War es das nicht, worüber wir<br />
schließlich miteinander so wortreich schwiegen, der Wunsch, alle<br />
Kontrolle fahren zu lassen, sich wegzuschmeißen, aufzulösen in einer<br />
größeren Geborgenheit, als die Umarmung des Geliebten sie jemals<br />
zu bieten vermag? Und war unsere Sexualität nicht tatsächlich auch<br />
den Drogen verwandt, weil sie in Bereiche unseres innersten Selbst<br />
führen kann, zu denen wir sonst keinen Zugang finden? Ist es das, was<br />
uns magisch anzieht und zugleich zurückweichen lässt wie vor einer<br />
unaussprechlichen Wahrheit?<br />
Noch heute, das erste Grau in den Bärten, erinnern wir uns<br />
manchmal an unsere Hilflosigkeit damals auf dem Festival. Seither<br />
hat jeder ein paar Lebenssachen ausprobiert und ist dabei zumindest<br />
nicht nachweislich dümmer geworden, ruhiger jedenfalls, manchmal.<br />
Aber die kleine, an sich banale Kellerszene, sie brennt noch. Dabei ist<br />
die Frage, die sie am Ende stellt, nicht mal mehr besonders mysteriös:<br />
Wie kann ich dich loslassen, wenn ich dich liebe? Das Loslassen überhaupt,<br />
heute nicken wir artig, ist die große Lektion unseres Lebens.<br />
Doch wem hätte Einsicht je geholfen? Was wäre anders gekommen,<br />
wenn wir damals beherzt hätten sprechen können? Die Furcht ist<br />
stärker gewesen, ihre Zerstörungskraft, von der wir in Saarbrücken<br />
vielleicht schon dunkel ahnten, dass sie auch uns ein paar Jahre später<br />
als Paar würde scheitern lassen. s<br />
Prinz in Hölleland<br />
von Michael Stock<br />
DE 1993, 90 Minuten, dt. OF<br />
Auf DVD<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Die Eignung<br />
von Michael Sollorz<br />
Roman, 160 Seiten<br />
film-flirt<br />
Piratenherz<br />
von Michael Sollorz<br />
Erzählungen, 136 Seiten<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
beide bei Männerschwarm Skript,<br />
www.maennerschwarm.de<br />
38 39
frisch ausgepackt<br />
Neu auf DVD<br />
von Maike schultz, Paul schulz und Jan küneMund<br />
DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY<br />
GB 2009, regie: oliver Parker, Concorde Home Entert.<br />
Diesmal gibt Ben Barnes<br />
den Dorian Gray, der<br />
Prinz Kaspian von Narnia.<br />
Er ist alles andere als<br />
eine Schlampe. Eher einer<br />
dieser kein-Sex-vor-der-<br />
Ehe-Vampir-Typen. Wie<br />
grenzenlos naiv er sich<br />
durch die zynische Londoner<br />
Gesellschaft stottert. Wie süß er sich in<br />
die Spelunken verirrrt, ohne wirklich getrieben<br />
zu sein. Wie er beim Verkauf seiner Seele<br />
einfach nur zu denken scheint: ewige Jugend,<br />
ja, warum eigentlich nicht? Ist das nicht eigentlich<br />
die perfekte Castingidee, diese Oberfläche<br />
eines jungen Mannes in die oberflächengeile<br />
Welt zu schicken, auf die filmisch oberflächlichste<br />
Art und Weise? Die Teenies kreischen:<br />
„Ein <strong>Film</strong> mit Ben Barnes!“ Und der Verleih<br />
empfiehlt ihn der SISSY mit den Worten: „Die<br />
Kostüme sind so schön!“ Das Bildnis aber<br />
faucht und sabbert und die Maden kriechen aus<br />
ihm heraus. „Die Anstrengungen in der Welt<br />
des <strong>Film</strong>s, das eigene jugendliche Ideal-Bild zu<br />
konservieren, haben – welch böse Ironie – oftmals<br />
dazu geführt, sich nicht die Merkmale<br />
Dorian Grays, sondern die seines Zauber-Porträts<br />
anzueignen, nämlich maskenhafte Erstarrung<br />
und fratzenhafte Entstellung.“ (Christoph<br />
Meyring in SISSY 1/10)<br />
DIE REGENSCHIRME<br />
VON CHERBOURG<br />
Fr 1964, regie: Jacques Demy, Arthaus Kinowelt<br />
„Wie trist!“, sagt die in<br />
bonbonrosa ausstaffierte<br />
Mutter der Protagonistin<br />
vor einer lachsroten Tapete<br />
und gießt Tee in ein<br />
weißes Service mit rosaroten,<br />
floralen Mustern.<br />
Und falsch: Sie sagt es<br />
nicht, sie singt es! Wie<br />
auch der Automechaniker die Frage nach der<br />
Überstunde singend beantwortet, die Geliebte<br />
den Kriegsbericht ihres Freundes aus einem<br />
Brief vorsingt und der Briefträger sein „Bonjour<br />
Madame“ trällert. In Die Regenschirme<br />
von Cherbourg, dem französischen Hitmusical<br />
der 1960er Jahre, wird tatsächlich alles gesungen,<br />
alles in Knallfarben dekoriert, in jedem<br />
40<br />
(auch sehr ernsten) Moment eine atemberaubende<br />
Künstlichkeit zelebriert, dem das puppenhaft<br />
in Perfektion erstarrte Gesicht von Cathérine<br />
Deneuve in ihrer ersten Rolle wie von<br />
Ferne zuschaut. Selbst der Regen in der Titelsequenz<br />
scheint direkt von der Kamera herunterzufließen,<br />
nicht vom Himmel. Diese kleine<br />
Geschichte vom insolventen Regen schirmladen<br />
und einer Liebe, die vom Algerienkrieg vereitelt<br />
wird, stammt von Jacques Demy, dem französischen<br />
Queer-<strong>Film</strong>-Pionier und Träumer<br />
der Nouvelle Vague, auf den sich heute Ozon<br />
und Honoré berufen, und erscheint hiermit<br />
zum ersten Mal auf DVD (zusammen mit einem<br />
Porträt des Regisseurs von seiner Frau Agnès<br />
Varda, die sich seit dem Aids-Tod Demys<br />
1990 darum bemüht, dass seine <strong>Film</strong>e angemessen<br />
gewürdigt werden). Die Knalligkeit der<br />
Farben konnte man leider nur annähernd rekonstruieren,<br />
aber die Musik strahlt noch und<br />
der Hauptdarsteller Nino Castelnuovo auch.<br />
Und der Camp des <strong>Film</strong>s zeigt sich nicht zuletzt<br />
im Vermögen, Kitsch ernst zu nehmen<br />
und sich gleichzeitig über sich lustig zu machen:<br />
„Aus Liebe stirbt man nur in <strong>Film</strong>en“,<br />
sagt die Mutter zur armen Cathérine Deneuve.<br />
Und: Er hasse „alle Sachen, in denen nur gesungen<br />
wird“, singt (!) ein Automechaniker und<br />
empfiehlt als Alternative: das Kino! jk<br />
MEIN SÜSSER KLEINER ARSCH<br />
CH 1997, regie: Simon Bischoff, GM<strong>Film</strong>s<br />
In der Welt drehe sich ja<br />
alles nur um das Geld und<br />
um den Arsch, findet Jean<br />
Neuenschwander. In seiner<br />
kleinen Welt ist das<br />
tatsächlich so. Neuenschwander<br />
ist ein rüstiger<br />
Frührentner, der dauerhaft<br />
nach Tanger gezogen<br />
ist, wo Geld und Ärsche keine Probleme mehr<br />
bereiten. Seine Freunde sind ein Zirkel europäischer<br />
Herren in ähnlicher Situation, für die<br />
Hubert Fichte mal den Ausdruck „Ricard-Tanten“<br />
geprägt hat: Sie genießen das Leben, teilen<br />
sich die Jungs, sorgen für Ordnung (Neuenschwander<br />
war mal Postangestellter) und<br />
schwärmen von den großen „Riemen“. Simon<br />
Bischoffs <strong>Film</strong> lässt sich ganz auf ihre Welt ein,<br />
lauscht ihrer Selbstdarstellung, findet die naheliegenden<br />
Bilder zu ihrer etwas angestrengt<br />
deftigen Sprache. Hat sich Neuenschwander im<br />
Verlauf von dreizehn Jahren angewöhnt, seine<br />
Liebhaber gleichen Namens durchzunummerieren,<br />
so listet auch der <strong>Film</strong> Mohammed 1,<br />
Mohammed 2 und Mohammed 3 als Protagonisten<br />
auf. Ein einziger Marokkaner darf nach<br />
70 Minuten auch mal seine Geschichte erzählen<br />
(ohne dass es dabei um mehr als um Geld<br />
oder Ärsche ginge). Und so wächst die Faszination<br />
dieses <strong>Film</strong>s, gerade weil er im Ricard-Tanten-Milieu<br />
so völlig verloren geht. Er zeigt europäische<br />
Ordnungsfanatiker, die das Begehren<br />
in die chaotische Fremde treibt, gestandene<br />
Männer, die sich auf ihren Arsch reduzieren.<br />
Und Paul Bowles (über den eine großartige Geschichte<br />
erzählt wird) blickt für einen kurzen<br />
Augenblick alt und stumm in die Kamera. Der<br />
Regisseur lebt jetzt angeblich auch in Marokko<br />
und hat wohl mit dem <strong>Film</strong>en aufgehört. jk<br />
VERzAUBERt<br />
D 1993, regie: diverse, Edition Salzgeber<br />
1977 kam der Dokumentarfilm<br />
„Word is Out“ in<br />
den USA heraus und setzte<br />
damit einen Trend.<br />
Schwule und Lesben erzählten<br />
darin von ihren<br />
Erfahrungen und aus ihren<br />
Erinnerungen und damit<br />
setzte sich für die lesbischschwule<br />
Community ein selbstbewusstes<br />
Bild des eigenen Lebensstils zusammen, das<br />
man den Vorurteilen und Klischees der (<strong>Film</strong>-)<br />
Geschichte entgegensetzen konnte. Anfang der<br />
1990er begannen Studentinnen und Studenten<br />
der Uni Hamburg etwas ähnlich Naheliegendes<br />
und Verdienstvolles: sie fragten ältere Lesben<br />
und Schwule in ihrer Stadt, wie sie ihre<br />
Jugend erlebt haben. Also: als Verfolgte, Illegale,<br />
Verfemte und erst spät (wenn überhaupt)<br />
Rehabilitierte in den 1930er bis 1950er Jahren.<br />
Da fallen Sätze wie: „Eigentlich war ja unser<br />
ganzes Leben auf ständigen Lügen aufgebaut“.<br />
Es wird vom Rosa Winkel gesprochen, von<br />
„Schutzhaft“, von Anschwärzungen, Selbstmorden<br />
und „Freundesehen“. Und auch davon,<br />
dass viele Homosexuelle, die halbwegs heil<br />
durch die NS-Zeit gekommen waren, schließlich<br />
im ebenso repressiven Nachkriegsdeutschland<br />
zugrunde gegangen sind. Aber das Bild ist<br />
facettenreicher, es schließt mit ein, wie tatsächlich<br />
der Alltag aussah, wie man „verzaubert“<br />
ausgehen, sich verlieben, lange Partnerschaften<br />
eingehen konnte. Die <strong>Film</strong>emacher<br />
stellen die richtigen Fragen und halten sich an-<br />
genehm zurück, und die Protagonisten erzählen<br />
stolz, mit Witz und Würde. Nur einmal<br />
setzt man sich über sie hinweg. Da erzählt<br />
Wally, die mal auf der Reeperbahn gearbeitet<br />
hat, was für ein „alter Wichser“ Hans Albers in<br />
Wahrheit gewesen war, doch ausgerechnet ihm<br />
gehört das letzte Wort: sein „Goodbye, Johnny“<br />
liegt als verklemmte und ungeplante Homohymne<br />
über den Abschlusstiteln. Ein <strong>Film</strong><br />
für jedes DVD-Regal von selbstbewussten Lesben<br />
und Schwulen! jk<br />
POStCARD tO DADDY<br />
DE 2010, regie: Michael Stock, Edition Salzgeber<br />
„Michael Stock suchte<br />
den Kontakt zum Vater,<br />
besuchte den inzwischen<br />
längst in einer neuen Familie<br />
lebenden, schwer<br />
kranken Mann, stellte die<br />
Kamera auf und forderte<br />
eine Stellungnahme,<br />
mehr noch: eine Entschuldigung<br />
ein. Der Selbstmord eines Freundes,<br />
der Ähnliches mit seinem Vater erlebt<br />
hatte und an dessen Kälte zerbrach, löste diese<br />
Initiative aus. Das Mindeste geschah, der Alte<br />
gab die Einwilligung, diese Szene der Selbstentblößung<br />
im <strong>Film</strong> zu verwenden. Was er<br />
über sich und den Missbrauch an seinem Sohn<br />
sagt, ist erschütternd. In Postcard to Daddy<br />
spielt es keine Rolle, dass es äußerst schwer<br />
ist, adäquate Bildebenen für das Erzählte zu<br />
finden, die nicht von den Genre-Konventionen<br />
kontaminiert sind. Michael Stocks <strong>Film</strong> berührt,<br />
weil er bei seinen glaubwürdigen persönlichen<br />
Ausdrucksmitteln bleibt.“ (Clara<br />
Brink in SISSY 2/10)<br />
PRINz IN HöLLELAND<br />
DE 1993, regie: Michael Stock, Edition Salzgeber<br />
Nachdem Regisseur Michael<br />
Stock seit der diesjährigen<br />
Berlinale für seinen<br />
autobiografischen<br />
D o k u m e n t a r fi l m Postcard<br />
to Daddy ganz zu Recht<br />
einen <strong>Film</strong>preis nach dem<br />
anderen bekommt und<br />
das öffentliche Interesse<br />
an seinem Werk groß ist, wird nun dankenswerter<br />
Weise auch Prinz in Hölleland, sein<br />
Spielfilmdebüt, wieder veröffentlicht. Das ist<br />
inzwischen 17 Jahre alt, aber erstaunlicherweise<br />
noch genauso sehenswert wie zu Beginn<br />
der 90er Jahre, wenn auch aus anderen Gründen.<br />
Was seinerzeit scheinbar vor allem als<br />
komplett gelungene Momentaufnahme eines<br />
schwulen Nachwende-Westberlins zu faszinieren<br />
schien, entpuppt sich jetzt einfach als<br />
hervorragendes Drama, wunderbar gebaut,<br />
großartig gespielt und fein beobachtet. Natür-<br />
lich kann der <strong>Film</strong> aber auch einfach als nostalgischer<br />
Trip an Orte und in Umstände gesehen<br />
werden, die längst Geschichte sind. Aber<br />
dafür ist das herzzerreißende Kasperletheater<br />
und böse Junkiemärchen, das Stock hier erzählt<br />
und in einer der Hauptrollen auch selber<br />
spielt, fast zu schade. ps<br />
tIMIMOUN<br />
DE/Dz 2010, regie: Michael roes, Edition Salzgeber<br />
Zwei Freunde auf einer<br />
Reise. Laid und Nadir sind<br />
auf dem Weg ins algerische<br />
Hinterland, zu Laids<br />
Familie, in Laids Vergangenheit.<br />
Nadir kommt<br />
mit, weil er Laids Freund<br />
ist. Und diese Freundschaft<br />
wird mehr und<br />
mehr zur Möglichkeit, aus den alten Familienstrukturen<br />
auszubrechen, in der immer wieder<br />
nur die Ehre beschädigt wird und gewaltsam<br />
wiederhergestellt werden muss. Die Reise<br />
der beiden Freunde behält gegen dieses starre<br />
System ihre Leichtigkeit, ihre Beweglichkeit<br />
und ihren Humor. Wie auch dieser <strong>Film</strong>, der<br />
mit einfachsten Mitteln Großes wagt. Ob das<br />
noch Freundschaft ist oder schon Liebe, bleibt<br />
dahingestellt. Auf jeden Fall eine Utopie. Mehr<br />
auf Seite 36.<br />
ANDER<br />
ES 2009, regie: roberto Castón, Bildkraft<br />
Die „Süddeutsche Zeitung<br />
fand: „Ein richtiger<br />
Schwulenfilm ist Ander<br />
nicht.“ und hat ein bisschen<br />
Recht damit. Nichts<br />
an der langsam, in der<br />
großartigen Kulisse des<br />
spanischen Baskenlandes<br />
erzählten Bauer-sucht-<br />
Mann-Geschichte, erinnert an den lärmenden,<br />
ironisch unterfütterten Habitus, mit dem<br />
Storys über moderne Homosexuelle gemeinhin<br />
erzählt werden. Ander ist 40 und bricht<br />
sich bei der Arbeit mit den Tieren ein Bein,<br />
weshalb der junge peruanische Hilfsarbeiter<br />
auf dem Hof ankommt, um das Vieh zu versorgen.<br />
Die beiden verlieben sich ineinander und<br />
am Ende kann auch Anders Rabenaas von alter<br />
Mutter nichts daran ändern, dass die Beziehungsmoderne<br />
Einzug hält und alle irgendwie<br />
glücklich werden. Regisseur Roberto<br />
Castón ist für Ander mit Lob und Preisen überhäuft<br />
worden, weil er keine Angst vor der Stille<br />
hat, mit der die Liebe manchmal eben einfach<br />
passiert und vor der Kraft, mit der seine<br />
Schauspieler den totalen Wandel in ihren Leben<br />
ruhig und gelassen darstellen. Ein bemerkenswertes,<br />
ganz und gar wunderbares Stück<br />
spanisches Kino, das es auf Anhieb in den Ka-<br />
non der schönsten schwulen <strong>Film</strong>e aller Zeiten<br />
schafft, egal, was in der „Süddeutschen“<br />
steht. ps<br />
SPINNIN’<br />
ES 2007, regie: Eusebio Pastrana, Edition Salzgeber<br />
„In Form einer recht losen<br />
Erzählstruktur mit unzähligenNebenschauplätzen<br />
umreißt der <strong>Film</strong> die<br />
Schwierigkeiten, mit denen<br />
sich ein schwules<br />
Paar mit Kinderwunsch<br />
herumschlägt. Dabei geht<br />
es ihm darum, nachvollziehbar<br />
zu machen, wie kreativ und produktiv<br />
der einzelne Mensch werden kann, wenn er<br />
versucht, für sich eine den eigenen Wünschen<br />
und Sehnsüchten entsprechende Zukunftsperspektive<br />
zu entwickeln. Für dieses Plädoyer für<br />
individuelle Lebenslösungen hat der Regisseur<br />
die Form des mit Skurrilitäten durchsetzten<br />
und zugleich warmherzigen „Feelgood-Movies“<br />
im Geiste von Jean-Pierre Jeunet‘s Amélie<br />
oder Michel Gondrys Science of Sleep gewählt.<br />
Soll heißen, dass gerade in tragischen Situationen<br />
auch gerne mal ältere Herren in Tütüs<br />
durchs Bild tanzen oder munter die <strong>Film</strong>küsse<br />
durch das Hochhalten handgemalter Nummernschilder<br />
gezählt werden. Und natürlich<br />
fehlt auch das für diese Art von <strong>Film</strong>en obligatorische<br />
Plädoyer für die Liebe als alles am<br />
Laufen haltende Urkraft nicht.“ (Hanno Stecher<br />
in SISSY 2/10)<br />
JAY<br />
frisch ausgepackt<br />
HK 2008, regie: Francis Xavier Pasion, CMV Laservision<br />
Auf den Philippinen, einem<br />
politischen Operettenstaat<br />
ohne Kinoszene,<br />
entstehen seit einigen<br />
Jahren ziemlich aufregende<br />
und facettenreiche<br />
<strong>Film</strong>e, die vor allem auf<br />
westlichen Festivals gefeiert<br />
werden. Obwohl<br />
der Blick der <strong>Film</strong>e auf die Realität des Landes<br />
oft präzise und erbarmungslos ist, erschöpfen<br />
sie sich selten im dokumentarischen Stil. Der<br />
Pseudo-Ratgeber „Wie man auf den Philippinen<br />
Dokumentarfilme macht“ liegt auf dem<br />
Nachttisch des TV-Produzenten Jay, dem Helden<br />
des gleichnamigen <strong>Film</strong>s. Das ist eine böse<br />
Pointe. Eigentlich recherchiert er zwar den<br />
Mord an einem anderen Jay, einem schwulen<br />
Lehrer – doch von Recherche kann eigentlich<br />
keine Rede sein. Es soll ein wüstes, manipulatives<br />
Format werden mit heulenden Müttern,<br />
betretenen Kollegen, wilden Verbrecherjagden<br />
und herzzereißenden Liebesbekenntnissen<br />
des Exfreundes. Und wie man es wiederum<br />
in medienkritischen Spielfilmen erwartet,<br />
41
frisch ausgepackt<br />
machen die „einfachen“ Leute nicht nur alles<br />
mit, was der zynische Fernsehmensch von ihnen<br />
verlangt, sondern setzen gerne noch eins<br />
drauf, um vielleicht so in die nächste Casting-<br />
Show zu kommen. Das Ganze ist bitterböse<br />
ausformuliert, auch wenn der letzte Twist des<br />
Drehbuchs, der das Verhältnis von Fiktion und<br />
Realität noch einmal neu ordnet, nicht unbedingt<br />
hätte sein müssen. In dieser durch und<br />
durch korrumpierten Welt gehorchen nämlich<br />
alle der Fiktionsmaschine, dem Sender, der<br />
bezeichnenderweise „Mutter“ genannt wird.<br />
Für diese Erkenntnis wurde Jay auf westlichen<br />
Festivals gefeiert. jk<br />
ANtONIOS GEHEIMNIS<br />
PH 2008, regie: Joselito Altarejos, Bildkraft<br />
Antonio hat alles, was<br />
man als heranwachsender<br />
Homosexueller so<br />
braucht: einen abwesenden<br />
Vater, der als Gastarbeiter<br />
in Dubai das Geld<br />
ranschafft, und eine dominante<br />
Mutter, die keine<br />
weiteren Lebensinhalte<br />
hat als ihre Familie, die nur aus ihrem Sohn<br />
besteht. Aber eigentlich geht es dem 15-Jährigen<br />
nicht schlecht damit: Er weiß was er will,<br />
hat eine Amouresque mit seinem Kumpel Nathan<br />
und hiernach gleich mal sein Coming-<br />
Out im Freundeskreis. Alles könnte so schön<br />
sein, glaubte Mama nicht, Antonio bräuchte<br />
eine Vaterfigur. Die wird mit dem jungen Onkel<br />
Jonbert besetzt, der wenig väterliche Gefühle<br />
für Antonio entwickelt, aber genau weiß,<br />
wie dessen Leben künftig ablaufen soll: Antonios<br />
… psychologisches Strickmuster steuert<br />
direkt in die Katastrophe. Das ist ein bisschen<br />
anstrengend, aber Joselito Altarejos’ <strong>Film</strong> rettet<br />
sich durch die bemerkenswerten Leistungen<br />
aller seiner Darsteller selbst. Kenjie Garcia<br />
als Antonio und Josh Ivan Morales als<br />
Jonbert, liefern sich einen zähen, sehenswerten<br />
Kampf um die Frage, was „schwul“ heißt<br />
und wie das funktioniert. Der <strong>Film</strong> ist eins von<br />
inzwischen gefühlten 500 asiatischen Jugenddramen<br />
der letzten Jahre, gehört aber zu den<br />
besten 20 davon. ps<br />
FEUILLE<br />
CN 2004, regie: Youxin Yang, CMV Laservision<br />
Warum müssen Französinnen<br />
in Lesbenfilmen<br />
eigentlich immer so destruktiv<br />
sein? Schon in<br />
Emma und Marie war die<br />
liebeskranke lesbische<br />
Protagonistin nur schwer<br />
erträglich. Und die in<br />
Feuille macht es nicht<br />
besser: Die Fotografin Stéphanie trifft in Pa-<br />
42<br />
ris die Malerin Meihua. Sie ist aus China nach<br />
Frankreich gekommen, um Kunst zu studieren.<br />
Die beiden verstehen sich auf Anhieb,<br />
doch während Meihua vor allem an Stéphanies<br />
Sprachunterricht und Kunstverständnis<br />
interessiert ist, würde diese gerne auch das<br />
Bett mit der Chinesin teilen. Aus dieser Konstellation<br />
hätte eine poetische Liebesgeschichte<br />
im Spannungsfeld zwischen sexueller und<br />
kultureller Identität werden können. Stattdessen<br />
sieht man sich mit homophoben und<br />
manipulativen Figuren konfrontiert: Weil<br />
ihre Angebetete Homosexualität für eine<br />
Krankheit hält, die man heilen kann, sabotiert<br />
die gedemütigte Stéphanie Meihuas Beziehung<br />
zu ihrem Verlobten. Als wäre das<br />
nicht Drama genug, kommt auch noch die<br />
Aids-Krise ins Spiel – immerhin ein Thema,<br />
das in Frauenbeziehungen so gut wie nie thematisiert<br />
wird. Natürlich kann Meihua ihre<br />
Feuille nicht so leicht vergessen. „Aber was<br />
hat diese Liebe mit Homosexualität zu tun?“,<br />
fragt sie am Ende. „Ich würde sagen, dass so<br />
etwas Anmutiges über den Geschlechtern<br />
steht.“ ms<br />
HANNAH FREE<br />
uS 2009, regie: Wendy Jo Carlton, Pro-Fun Media<br />
Hannah liegt im Altersheim<br />
nur wenige Meter<br />
von ihrer langjährigen<br />
Geliebten entfernt, und<br />
ist ihr doch ferner als je<br />
zuvor. Rachel ist nach einem<br />
Schlaganfall ins<br />
Koma gefallen und wird<br />
von ihrer eifersüchtigen<br />
Tochter bewacht. Ohne jede Rechtsgrundlage,<br />
ihre Partnerin noch einmal sehen zu können,<br />
flüchtet Hannah sich in Tagträume. In Rückblenden<br />
erzählt die Regisseurin Wendy Jo<br />
Carlton in Hannah Free , wie die beiden Frauen<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts gemeinsam<br />
aufwuchsen; wie sich aus Freundschaft Liebe<br />
entwickelte, die in einer puritanischen US-<br />
Kleinstadt im Mittleren Westen doch nie offen<br />
gelebt werden konnte. In Gesprächen, die<br />
Hannah im Geiste mit Rachel führt, arbeiten<br />
sie alte Konflikte auf: Hannah ihre Enttäuschung<br />
über die Angepasstheit der verheirateten<br />
Hausfrau – und die ihre Wut über die vielen<br />
Reisen der abenteuerlustigen Freundin.<br />
Erst die Begegnung mit einer geheimnisvollen<br />
jungen Besucherin bringt sie wieder zusammen.<br />
Das ist nicht nur anrührend anzusehen,<br />
sondern als <strong>Film</strong> über Lesben im Alter auch<br />
eine echte Rarität. Wie erfreulich, dass so viel<br />
Sex darin vorkommt; und welch ein Glücksfall,<br />
dass Golden-Globe-Gewinnerin Sharon<br />
Gless (Queer as Folk) die Hauptrolle spielt. Sie<br />
verleiht Hannah so viel Leidenschaft und trockenen<br />
Humor, dass man sie auf der Stelle als<br />
Oma adoptieren möchte. ms<br />
UNtERWEGS MIt KAtHY K.<br />
uS 2009, regie: Nancy Kissam, Edition Salzgeber<br />
Die vernachlässigte Hausfrau<br />
Anora bekommt von<br />
ihrer neuen Nachbarin,<br />
einer Kosmetikvertreterin,<br />
endlich das was sie<br />
braucht: Handcreme. Und<br />
Liebe. „Soweit das Auge<br />
reicht – alle queer und<br />
verrückt. Vielleicht besser<br />
für Ehemann Cheb, dass man ihn erschießt. In<br />
Nancy Kissams Welt erscheint er wie Charlton<br />
Heston in Planet der Affen – sprich: der letzte<br />
Überlebende. Und da in der Welt des heterosexuellen<br />
Patriarchen kein Platz für queeres Leben<br />
ist, gibt man ihm den Gnadenschuss.“ (Alice<br />
Roberts in SISSY 1/10)<br />
tHREE – DREI SIND KEINER zUVIEL<br />
uS 1996, regie: Stephen Bulfield, CMV Laservision<br />
Howard Roffman ist ja<br />
auch so einer, der die „natürliche<br />
Schönheit“ von<br />
jungen Männern in sinnlichenSchwarzweiß-Fotografien<br />
festhalten will.<br />
„Aktfotograf“, nennt das<br />
Wikipedia nüchtern. Anders<br />
als in den stilisierten<br />
Phantasien seiner Fotobände kommen einem<br />
die Modelle John, Gary und Kris im fast fünfzehn<br />
Jahre später veröffentlichten Begleit-<br />
<strong>Film</strong> durchaus lebensecht und normal vor. Das<br />
Spektakuläre ist ihre Dreierbeziehung, und<br />
die Jungs bemühen sich auch sehr, ihre bisherigen<br />
schönen und traurigen Erfahrungen in<br />
dieser Verbindung auszuloten. Ein wirklich<br />
präzises Bild bekommt man trotzdem nicht<br />
vom Alltag und den konkreten Bedingungen<br />
des Zusammenseins. Und man wüsste auch<br />
gerne, ob die vom Fotografen verkuppelten<br />
Jungs noch immer zusammen sind. Und erkennt<br />
schließlich, dass hier auch „nur“ eine<br />
stilisierte Phantasie geschaffen wird, wenn<br />
auch in Farbe und Digitalvideo. Aber es ist<br />
niedlich, wie das Leben immer wieder in die<br />
Bilder fließt: Wie oft sie denn nun miteinander<br />
Sex haben, will Bulfield wissen; Und John sagt<br />
stolz: zu dritt mindestens einmal am Tag.<br />
Dann kommt Kris nach Hause, John fragt ihn<br />
das gleiche, beisst sich vor Erwartung auf die<br />
Lippe, und Kris bemerkt lakonisch: ein paar<br />
Mal in der Woche vielleicht, aber das sei ganz<br />
unterschiedlich. Ein Rezensent hat tatsächlich<br />
schon bedauert, dass man ja im <strong>Film</strong> erst sieht,<br />
wie tuntig die Jungs sind – was die Aktbilder<br />
wohlweislich verschweigen. Das kann man<br />
aber auch sehr schön finden. Nach fünfzehn<br />
Jahren bleibt das ein lebendiger Eindruck,<br />
während der Fotoband längst zum Antiquariatstitel<br />
geworden ist. jk<br />
NEWCAStLE<br />
Regisseur Ron Oliver<br />
Au/JP 2008, regie: Dan Castle, Pro-Fun Media<br />
wurde schon dreimal für<br />
einen Emmy nominiert.<br />
Es ist relativ egal, was hier über Newcastle<br />
Der Emmy ist der wich-<br />
steht, diesen <strong>Film</strong> werden sich viele schwule<br />
tigste Fernsehpreis der<br />
Männer viele Male ansehen. Beworben wird<br />
USA und eine Prestige-<br />
Dan Castles Streifen mit dem grenzdementen<br />
trächtige Angelegenheit.<br />
Claim: „Top Gun in den Wellen; Rocky mit Sur-<br />
Wer nominiert wird, dem<br />
fern!“ Wer jetzt versucht, sich vorzustellen,<br />
sagt eine Branche, in der<br />
anzeige_schwubus_sissi_09_2009:cover_msk<br />
wie Tom Cruise erfolglos versucht,<br />
10.08.10<br />
ein<br />
11:51<br />
es viel<br />
Seite<br />
Neid<br />
1<br />
und Missgunst gibt: „Fein gemacht,<br />
ck grafik design<br />
MR. RIGHt<br />
GB 2009, regie: Jacqui & David Morris, Pro-Fun Media<br />
„Fancy a fuck?“ Schöne<br />
Abschlussfrage nach einem<br />
Beziehungsgespräch.<br />
Irgendwie merkt man<br />
gleich – man ist in Großbritannien.<br />
Hipperweise<br />
in Soho, um genau zu sein.<br />
Und dort, unter Kreativen,<br />
also Kreativ-TV-Produzenten,<br />
Kreativ-Köchen, Kreativ-Anti quitätenhändlern<br />
und lauter Möchte gernschauspielern,<br />
haben die Männer Probleme und ein paar<br />
Freundinnen, die ihnen dabei zuschauen. Eine<br />
Clique also, Liebessorgen, Bindungsängste,<br />
Seitensprünge und der allgemeine Lebensblues.<br />
Aber das geht auch witzig und ist hier<br />
leicht aufbereitet. Die Dialoge sind spitz, das<br />
Tempo hoch, die Schauspieler gut, nur der<br />
Soundtrack etwas überladen (19 Songs, behauptet<br />
der Abspann). Schon nach kurzer Zeit<br />
mag man die Jungs und ihre unrealistischen<br />
Vorstellungen von Glücksverwirklichung ganz<br />
gerne; bis auf einen, den Galleristen für ausgesprochen<br />
„schwule Kunst“, dem ganz übel mitgespielt<br />
wird – vom Freund und vom Drehbuch.<br />
Doch dann merkt man, dass der Regisseur diese<br />
Rolle mit sich selbst besetzt hat und das ist<br />
dann wieder sehr selbstironisch, britisch<br />
eben. jk<br />
Ob brandneu oder wieder aufgelegter Klassiker…<br />
Maßgeschneidert!<br />
A Single Man<br />
DVD, FSK 12, 15,99 Euro<br />
Surf brett in einen Düsenjet<br />
zu stopfen oder wie<br />
Sylvester Stallone in Boxhandschuhen<br />
im Sonnenaufgang<br />
in die Gischt<br />
kippt, ist selber schuld.<br />
Denn das eigentliche Verkaufsargument<br />
von Newcastle<br />
lautet: „Blonde, surfende<br />
Australier um die 18 laufen 90 Minuten<br />
halb oder ganz nackt rum und einer von denen<br />
ist sogar schwul.“ Das ist für DVD-Boxen zu<br />
lang, zugegeben, dafür aber die Wahrheit.<br />
Newcastle ist einer dieser <strong>Film</strong>e für Männer,<br />
die zu feige für echte Pornografie sind und deswegen<br />
so tun müssen, als würden sie das hier<br />
wegen der gar nicht mal schlechten Coming-<br />
Out-Geschichte oder des Sozialdramas gucken,<br />
das der Regisseur seinen jugendlichen Amateur-Darstellern<br />
zum Spielen am Strand mitgegeben<br />
hat. Wofür man den <strong>Film</strong> hingegen sehr<br />
gut gucken kann: Shane Jacobson als proletarischer<br />
Vater eines schwulen Sohnes, den er genauso<br />
liebt, wie seine anderen beiden und die<br />
absolut spektakulären Unterwasser-Aufnahmen.<br />
Aber wie gesagt, es ist auch völlig egal,<br />
was hier steht. ps<br />
„DONALD StRACHEY: UND RAUS<br />
BISt DU”, „ICE BLUES”,<br />
DONALD-StRACHEY-BOx<br />
uSA 2005–2008, regie: ron oliver, Pro-Fun Media<br />
Erschütternd!<br />
Bent<br />
DVD, FSK 16, 17,99 Euro<br />
frisch ausgepackt<br />
weiter so. Jetzt musst du dir erst mal eine Weile<br />
keine Sorgen um Jobs machen.“ Das war auch<br />
bei Ron Oliver so. Seit er für Goosebumps und<br />
Ultimate Goosepumps fast preisgekrönt wurde,<br />
kann er sich vor Arbeit kaum retten: Er ist seit<br />
fünf Jahren fast ausschließlich für den schwulen<br />
Fernsehsender „here TV“ tätig. Oliver dreht<br />
zwei bis drei <strong>Film</strong>e mit schwuler oder lesbischer<br />
Thematik im Jahr und gehört damit zu<br />
den Fließband-Regisseuren des Genres. Das<br />
Bemerkenswerte: Olivers Durchbruch Goosebumps<br />
war nicht, wie man ob des gänsehäutigen<br />
Titels annehmen könnte, ein Erotik- oder<br />
Horrorstreifen, sondern ein Kinderprogramm<br />
über ein kleines, nettes Wesen Namens, genau,<br />
Goosebumps. Von da aus stieg Oliver über den<br />
Umweg Queer as Folk fast direkt bei „here TV“<br />
ein und bewies: Er weiß, was Jungs wollen,<br />
egal wie alt die sind. In den USA sind das, wie<br />
überall auf der Welt, vor allem Krimis. Deswegen<br />
nahm sich Oliver zwischen 2005 und 2008<br />
gleich viermal den bekanntesten schwulen Privatdetektiv<br />
der Welt Donald Strachey vor und<br />
verfilmte einen der Romane, in denen Richard<br />
Stevenson Strachey unterhaltsam und ganz<br />
und gar offen schwul Räuber, Diebe und Mörder<br />
jagen lässt. Und zwar aus cineastischer<br />
Sicht gar nicht mal schlecht. Die Vorlagen sind<br />
das, was man in Amerika liebevoll „Pulp Fiction“<br />
nennt, Groschenromane, und die Fernsehumsetzung<br />
hat Spaß dabei, sich an diese Vorgabe<br />
zu halten. Chad Allen gibt als Strachey<br />
einen schnuckeligen Detektiv ab, die Fälle sind<br />
von jedem Deppen zu durchschauen, es gibt in<br />
jeder Folge hübsche Gastauftritte camper Gesichtsvermieter<br />
von Matthew Rush bis Morgan<br />
Fairchild und der Ton ist süffisant ironisch.<br />
Warum sich der deutsche DVD-Vertrieb entschieden<br />
hat, die <strong>Film</strong>e in der falschen Reihenfolge<br />
zu veröffentlichen, muss man jetzt nicht<br />
mehr fragen, denn mit Und du bist raus (Teil 1)<br />
und Systemschock erscheinen jetzt die letzten<br />
beiden, der Kunde kann seinen Satz also kom-<br />
Wir haben (fast) alles.<br />
Auch aus dem Ausland.<br />
Und was wir nicht am Lager haben,<br />
besorgen wir gerne.<br />
Auch aus dem Ausland.<br />
Portofrei<br />
www.gaybooks.de<br />
www.lesbianbooks.de<br />
BERLIN - EISENHERZ Lietzenburger Straße 9a | HAMBURG - MÄNNERSCHWARM Lange Reihe 102 | STUTTGART - ERL KOE NIG Nesenbachstraße 52 | MÜNCHEN - MAX & MILIAN Ick statt straße 2
frisch ausgepackt<br />
plettieren. Oder sich gleich die Strachey-Box<br />
kaufen und sich fast acht Stunden kindlichkerlige<br />
Krimikost gönnen. Für die Sonntag-<br />
Abende ohne UFO-Tatort. ps<br />
L-SHORtS<br />
CH/CA/uS/Fr 2004–2009, Edition Salzgeber<br />
Zwei Jahre nach der letzten<br />
Ausgabe von Liebesperlen<br />
freut sich die Kurzfilmverwöhnte<br />
Frau von<br />
Welt auf Nachschub. Und<br />
muss feststellen, dass die<br />
lesbische Welt ganz schön<br />
monothematisch geworden<br />
ist: In L-Shorts, den<br />
sieben beliebtesten Kurzfilmen der L-<strong>Film</strong>nacht,<br />
dreht sich vieles um Kinder, Kinder und<br />
nochmals Kinder. Da klaut Möchtegern-Mom<br />
Lillith in einer nächtlichen Einbruchsaktion<br />
die Spermien ihres Schwagers, den sie per Katzenhypnose<br />
ins Nirvana geschickt hat (Succubus);<br />
zwei Französinnen lassen sich von ihrer<br />
Wissenschaftsverrückten Freundin Fruchtbarkeitsdrinks<br />
andrehen, um eine künstliche<br />
Gebärmutter zu züchten (Pepita, Laura und<br />
Kitty), und eine Tankstellenbesitzerin trifft,<br />
vergessen an der Zapfsäule, die Tochter, die sie<br />
selbst nie hatte (Pit Stop). Wie gut, dass die US-<br />
Regisseurin Laura Terruso mit Dyke Dollar<br />
auch eine wirklich abgedrehte Story beigesteuert<br />
hat: Einst von lesbischen Aktivistinnen gedruckt,<br />
um auf ihre Benachteiligung im patriarchalen<br />
Finanzsystem hinzuweisen, erwacht<br />
ein Geldschein jedes Mal neu zum Leben, wenn<br />
er den Besitzer wechselt. Wie ein Flaschengeist<br />
weicht der „Dyke Dollar“ diesem dann nicht<br />
mehr von der Seite, bis er ihn zu einem homofreundlichen<br />
Menschen erzogen hat – eine<br />
herrlich schräge Utopie. ms<br />
REIFEPRÜFUNG<br />
Fr/uK/uS/CA 2001–2009, Edition Salzgeber<br />
15 ist ein schwieriges Alter.<br />
Man weiß noch nicht<br />
so viel, aber ahnt schon so<br />
manches, kann noch<br />
nichts, aber will schon<br />
mehr als alles. Auf Reifeprüfung<br />
sind gleich sechs<br />
<strong>Film</strong>e über 15-jährige<br />
Jungs drauf, die dem Zuschauer<br />
alles zwischen erstem Mal und letzter<br />
Unschuld erzählen. Lieblingsfilm des Rezensenten:<br />
Danach. Die Verfilmung eines Dennis-<br />
Cooper-Gedichts erzählt von drei jungen Perversen<br />
und einem unschuldigen Footballspieler<br />
und kommt ganz ohne Worte aus. Hübsch bunt<br />
und mit einer hübschen Pointe. Die hat auch<br />
Wofür hältst du mich?, ein kleines schottisches<br />
Proletarierdrama, in dem man nie genau weiß,<br />
wer wen wirklich will. Ein Sonnenstrahl trifft<br />
das Auge ist hübsch naturverbunden, obwohl<br />
es tränentreibend ist, jemandem dabei zuzusehen,<br />
wie er sich einem Baum anvertraut, weil er<br />
sonst niemandem hat, mit dem er über seine<br />
erste große Liebe reden kann. Dafür ist dieses<br />
Kleinod ganz wunderbar gedreht und erzeugt<br />
innerhalb weniger Bilder eine große Intimität<br />
und Nähe zu seinem Protagonisten. Das Jungsein<br />
eine immer schöne und einfache Sache ist,<br />
glaubt man vielleicht dann doch nur im Retrospekt.<br />
Reifeprüfung zeigt warum. ps<br />
KLEINE VANDALEN<br />
DE/CH 2007–2010, Edition Salzgeber<br />
Wenn man Kleine Vandalen<br />
als Indiz für die Qualität<br />
der Ausbildung an<br />
deutschen <strong>Film</strong>hochschulen<br />
anguckt, muss es dort<br />
von Leuten wimmeln, die<br />
genau wissen, wie man<br />
die Kreativität und das<br />
Talent ihrer Schützlinge<br />
in die genau richtigen Bahnen lenkt. Die sechs<br />
Kurzfilme von vor kurzem oder in Bälde von<br />
Hochschulen abgegangenen Herren und Damen<br />
sind ein einziger Grund, sich auf ihre<br />
Langfilme zu freuen. Egal ob Josephine Frydetzkis<br />
Brandenburg-Melodram B96 mit einem<br />
wunderbaren Harry Baer, die Punkromanze<br />
Love Kills von Tor Iben oder das nächtlich-inzestuöse<br />
Bübchen-Schaulaufen Zwillinge von<br />
Florian Gottschick, hier haben sechs <strong>Film</strong>emacher<br />
Geschichten über die schwule Selbstfindung<br />
zu erzählen, die von brüllend komisch<br />
über sozialdramatisch bis hocherotisch jeden<br />
Anspruch bedienen, den man als homosexueller<br />
Kinozuschauer so haben kann. Wer sich in<br />
den nächsten drei Monaten nur eine DVD<br />
kauft, sollte diese kaufen, es lohnt sich über<br />
alle Maßen. (Siehe auch Seite 12.) ps<br />
A SINGLE MAN<br />
uS 2009, regie: Tom Ford, Senator<br />
Tom Fords schwelgerische<br />
und dramatisierte<br />
Isherwood-Verfilmung ist<br />
vor allem ein <strong>Film</strong> über<br />
das Älterwerden – und<br />
über die Unsichtbarkeit<br />
schwuler Lebensentwürfe<br />
in den USA vor den großenEmanzipationsbewegungen.<br />
„Der Vorwurf der Oberflächlichkeit,<br />
der den <strong>Film</strong> seit seiner Premiere bei den <strong>Film</strong>festspielen<br />
von Venedig fortwährend begleitet,<br />
blendet nicht nur konsequent aus, mit welcher<br />
Entschlossenheit Ford hier als schwuler<br />
Künstler Stellung bezieht. Er verfehlt zudem<br />
auch das innerste Wesen seiner filmischen<br />
Strategie. Letztlich gleicht A Single Man dem<br />
mit seinen riesigen Panoramascheiben und<br />
von Glas dominierten Außenwänden allen Blicken<br />
offenen John-Lautner-Haus, in dem der<br />
von Colin Firth gespielte George Falconer<br />
wohnt. Ford löst Isherwoods ‚stream of<br />
consciousness‘-Erzählung konsequent in einen<br />
Strom von Bildern auf, der Georges Innerstes<br />
offenbart. Seine makellosen, beinahe hermetisch<br />
wirkenden Einstellungen sind auf eine<br />
ganz und gar einzigartige Weise selbst gläsern,<br />
also durchsichtig und eben nicht oberflächlich.“<br />
(Sascha Westphal in SISSY 1/10)<br />
Vertrauensort,<br />
leseheimat,<br />
Anlaufstelle<br />
von PhIlIPP wagner<br />
Wer in Wien einen neuen regenbogennapf für den Kater<br />
braucht oder nicht-heterosexuelle Bücher oder DVDs, sollte in<br />
die Buchhandlung Löwenherz gehen. Mama kann man ruhig<br />
mitnehmen.<br />
s „Warum kaufst du eigentlich deine Sachen nur in der Buchhandlung<br />
Löwenherz?“, blickt mich mein Kollege über den Bildschirmrand<br />
hinweg fragend an. Was meint er bloß damit? „Meine Sachen“ ist ein<br />
doch recht weitgefächerter Begriff, und bei Löwenherz handelt es<br />
sich um eine spezielle Fachbuchhandlung.<br />
Aber nach genauer Selbstbetrachtung muss ich bekennen: Er hat<br />
schon recht. Wenn es sich nicht gerade um Flugtickets handelt, sind<br />
die Chancen recht hoch, dass ich die Löwenherzen aufsuche. Eigentlich<br />
bekomme ich da alles, was ich will: gedruckte Wissenschaft und<br />
Belletristik, Soundtracks, Klassik-CDs und Hörbücher, Independent-<br />
<strong>Film</strong>e und Hochglanzpornos auf DVD – und Regenbogennäpfe für<br />
meine Kater, Pins für den Anzug, Fahnen für die Parade.<br />
Meine erste Antwort auf die Frage des Kollegen ist: „Weil ich<br />
immer schon dort eingekauft habe.“ Das ist schon etwas wienerisch,<br />
zugegeben. Es fällt mir jedoch tatsächlich schwer, mich an eine Zeit<br />
„vor Löwenherz“ zu erinnern.<br />
Zum ersten Mal führte mich der Weg im Rahmen meines Studiums<br />
dorthin. Ich begann mich für Homo/Sexualitätsgeschichte zu<br />
interessieren und brauchte Literatur zu diesem Thema. Wer mir die<br />
Buchhandlung Löwenherz empfohlen hat – und ob das überhaupt<br />
passiert ist –, kann ich nicht mehr sagen. Und obwohl ich vorher noch<br />
nie dort gewesen war, wurde mir schnell klar, dass sie die beste Wahl<br />
dafür ist. Auf die Idee, mich in die Uni- und Institutsbibliotheken zu<br />
bemühen, bin ich gar nicht gekommen.<br />
Nichts Besseres konnte mir also passieren. Der helle Laden der<br />
Löwenherzen ist mir seitdem bibliophiler Vertrauensort, Leseheimat<br />
und Anlaufstelle für die vielfältigsten Lebensprobleme (Regenbogennäpfe!)<br />
geworden. Vielleicht bin ich vorbelastet. Meine Eltern haben<br />
einander im Buchhandel kennen gelernt. Und innerfamiliär waren<br />
wir uns immer einig: Bücher kann man/frau gar nicht genug lesen.<br />
Bei den DVDs bin ich bei weitem nicht so suchtgefährdet wie bei<br />
den Büchern, aber die Löwenherzen machen es einem schon schwer:<br />
Der für Buchhändler erstaunlich vorurteilsfreie Umgang mit <strong>Film</strong>en<br />
(schon zu VHS-Zeiten!) hat ein Angebot von vermutlich an die<br />
1.000 schwulen <strong>Film</strong>en wachsen lassen, das auch mich immer wieder<br />
schwach werden lässt.<br />
Mein persönlicher Suchtmittelindex: der viermal jährlich erscheinende<br />
Katalog. Gut aufbereitet und warmherzig werden Neuerscheinungen<br />
vorgestellt, Empfehlungen abgegeben und Veranstaltungen<br />
angekündigt. Denn es versteht sich von selbst, dass die Löwenherzen<br />
ihre Aktivitäten nicht auf den Verkauf von Büchern und anderen Spei-<br />
Jürgen Ostler, Thomas Kriegel und Veit Schmidt<br />
chermedien beschränken. Selbstverständlich sind sie in der Wiener<br />
Szene fest verankert und oft Schauplatz szenepolitischer Treffen. Eng<br />
verbunden ist die Geschichte der Buchhandlung mit der Etablierung<br />
der Regenbogenparade (des Wiener CSD) und des Regenbogenballs.<br />
Erste Ansprechpartner sind die Löwenherzen, wenn es um Projekte<br />
wie Ausstellungen geht, die das schwullesbische Leben in Wien bzw.<br />
Österreich behandeln. Und schließlich zahlt es sich auch immer aus,<br />
auf einen Tratsch vorbeizukommen – sei es mit den Löwenherzen<br />
oder den KundInnen, die gerade da sind. So kann es auch passieren,<br />
dass Beratungsgespräche („Ich suche etwas in Richtung …“) zu Gruppendiskussionen<br />
werden.<br />
StammkundInnen genießen natürlich gewisse Vorteile. Wer öfter<br />
dort einkauft, bekommt gerne auch „ungefragt“ Empfehlungen. Auf<br />
das Wagnis sollte man sich einlassen. Denn die Löwenherzen empfehlen<br />
nicht nur Lektüre aus dem immerselben Topf, sondern schlagen<br />
auch Bücher und <strong>Film</strong>e vor, die mal ganz anders sind, als man sie<br />
ansonsten konsumiert. Diese Buchhandlung ist tatsächlich noch eine<br />
echte Bildungseinrichtung.<br />
Also, es ist wirklich eine seltsame Frage, warum ich alle „meine<br />
Sachen“ nur in der Buchhandlung Löwenherz kaufe. s<br />
PS: Meine Mutter ist mittlerweile auch Stammkundin.<br />
PPS: Löwenherz bietet gerade wieder einen Ausbildungsplatz an.<br />
Bewerbung bitte an buchhandlung@loewenherz.at<br />
Philipp Wagner ist Historiker und Autor von „Homosexualität und<br />
Gesellschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der Homosexuellenbewegung<br />
in Wien nach 1945“.<br />
Homosexualität und<br />
Gesellschaft<br />
von Philipp Wagner<br />
124 Seiten, kartoniert<br />
VDM Verlag Dr. Müller,<br />
www.vdm-verlag.de<br />
44 45<br />
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Nicht-heterosexuelle DVDs erhalten Sie unter anderem in den folgenden Läden. Die Auswahl<br />
wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!<br />
BERLIN B_BOOKS Lübbenerstraße 14, 030/6117844 · BRuNO’S Bülowstraße<br />
106, 030/61500385 · BRuNO’S Schönhauser Allee 131, 030/61500387<br />
· DuSSMANN Friedrichstraße 90 · GALERIE JANSSEN Pariser Straße 45,<br />
030/8811590 · KADEWE Tauentzienstraße 21–24 · MEDIA MARKT ALExA Grunerstraße<br />
20 · MEDIA MARKT NEuKöLLN Karl-Marx-Straße 66 · NEGATIVE-<br />
LAND Dunckerstraße 9 · PRINZ EISENHERZ BuCHLADEN Lietzenburger Straße<br />
9a, 030/3139936 · SATuRN ALExANDERPLATZ Alexanderplatz 7 · SATuRN<br />
EuROPACENTER Tauentzienstraße 9 · VIDEO WORLD Kottbusser Damm 73<br />
· VIDEODROM Fürbringer Straße 17 BOCHuM SATuRN Kortumstraße<br />
72 DARMSTADT SATuRN Ludwigplatz 6 DORTMuND LITFASS DER<br />
BuCHLADEN Münsterstraße 107, 0231/834724 DüSSELDORF BOOKxxx<br />
Bismarckstraße 86, 0211/356750 · SATuRN Königsallee 56 · SATuRN<br />
Am Wehrhahn 1 ESSEN MüLLER Limbecker Straße 59–65 FRANK-<br />
FuRT/MAIN OSCAR WILDE BuCHHANDLuNG Alte Gasse 51, 069/281260<br />
· SATuRN Zeil 121 HAMBuRG BuCHLADEN MäNNERSCHWARM Lange<br />
Reihe 102, 040/436093 · BRuNO’S Lange Reihe/Danziger Straße 70,<br />
040/98238081 · CLEMENS Clemens-Schultz-Straße 77 · EMPIRE MEGASTO-<br />
RE Bahrenfelder Straße 242–244 · MEDIA MARKT Paul-Nevermann-Platz<br />
15 KöLN BRuNO’S Kettengasse 20, 0221/2725637 · MEDIA MARKT Hohe<br />
Straße 121 · SATuRN Hansaring 97 · SATuRN Hohe Straße 41–53 · VIDEO-<br />
TAxI Hohenzollernring 75–77 LEIPZIG LEHMANNS BuCHHANDLuNG<br />
Grimmaische Straße 10 MANNHEIM DER ANDERE BuCHLADEN M2 1,<br />
0621/21755 MüNCHEN BRuNO’S Thalkirchner Straße 4, 089/97603858<br />
· LILLEMOR’S FRAuENBuCHLADEN Barerstraße 70, 089/2721205 · MAx<br />
& MILIAN Ickstattstraße 2, 089/2603320 · SATuRN Schwanthalerstraße<br />
115 · SATuRN Neuhauser Straße 39 NüRNBERG MüLLER Königstraße<br />
26 STuTTGART BuCHLADEN ERLKöNIG Nesenbachstraße 52,<br />
0711/639139 TRIER MEDIA MARKT Ostallee 3–5 TüBINGEN FRAuEN-<br />
BuCHLADEN THALESTRIS Bursagasse 2, 07071/26590 WIEN BuCHHAND-<br />
LuNG LöWENHERZ Berggasse 8, + 43/1/13172982<br />
Dominikanerplatz 4<br />
WüRZBuRG MüLLER<br />
kiNOS<br />
Nicht-heterosexuelle <strong>Film</strong>e können Sie unter anderem in den folgenden Kinos sehen. Die Auswahl<br />
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AALEN KINO AM KOCHER Schleifbrückenstraße 15,<br />
07361/5559994 ASCHAFFENBuRG CASINO FILMTHEATER Ohmbachsgasse<br />
1, 06021/4510772 AuGSBuRG CINEMAxx Willy-Brandt-Platz 2,<br />
01805/24636299 BERLIN ARSENAL Potsdamer Straße 2, 030/26955100<br />
· KINO INTERNATIONAL Karl-Marx-Allee 33, 030/24756011 · xENON KINO<br />
Kolonnenstraße 5–6, 030/78001530 · CINEMAxx POTSDAMER PLATZ Potsdamer<br />
Straße 5, 01805/24636299 · EISZEIT Zeughofstraße 20, 030/6116016<br />
· FSK AM ORANIENPLATZ Segitzdamm 2, 030/6142464 BIELEFELD CI-<br />
NEMAxx Ostwestfalenplatz 1, 0521/5833583 BOCHuM ENDSTATION<br />
KINO IM BHF. LANGENDREER Wallbaumweg 108, 0234/6871620 BRE-<br />
MEN KINO 46 Waller Heerstraße 46, 0421/3876731 · CINEMAxx Breitenweg<br />
27, 01805/24636299 DORTMuND SCHAuBuRG Brückstraße 66,<br />
0231/9565606 DRESDEN KID – KINO IM DACH Schandauer Straße 64,<br />
0351/3107373 · CINEMAxx Hüblerstraße 8, 01805/24636299 ESSEN CI-<br />
NEMAxx Berliner Platz 4–5, 01805/24636299 ESSLINGEN KOMMu-<br />
NALES KINO Maille 4–9, 0711/31059510 FRANKFuRT/MAIN MAL SEH’N<br />
Adlerflychtstraße 6, 069/5970845 · ORFEOS ERBEN Hamburger Allee<br />
45, 069/70769100 FREIBuRG KOMMuNALES KINO Urachstraße 40,<br />
0761/709033 · CINEMAxx Bertholdstraße 50, 01805/24636299 GöT-<br />
TINGEN KINO LuMIèRE Geismar Landstraße 19, 0551/484523 HAM-<br />
BuRG METROPOLIS KINO Steindamm 52–54, 040/342353 · CINEMAxx<br />
WANDSBEK Quarree 8–10, 01805/24636299 HANNOVER APOLLO STuDIO<br />
Limmerstraße 50, 0511/452438 · CINEMAxx Nikolaistraße 8, 01805/24636299<br />
· KINO IM KüNSTLERHAuS Sophienstraße 2, 0511/16845522 KARLSRu-<br />
HE KINEMATHEK KARLSRuHE KINO IM PRINZ-MAx-PALAIS Karlstraße<br />
10, 0721/25041 KIEL DIE PuMPE – KOMMuNALES KINO Haßstraße 22,<br />
0431/2007650 · CINEMAxx Kaistraße 54–56, 01805/24636299 · TRAuM<br />
KINO Grasweg 48, 0431/544450 KöLN FILMPALETTE Lübecker Straße 15,<br />
0221/122112 · KöLNER FILMHAuS Maybachstraße 111, 0221/2227100 KON-<br />
STANZ ZEBRA KINO Joseph-Belli-Weg 5, 07531/60162 LEIPZIG PAS-<br />
SAGE KINO Hainstraße 19 a, 0341/2173865 MAGDEBuRG CINEMAxx<br />
Kantstraße 6, 01805/24636299 MANNHEIM CINEMA QuADRAT Collinistraße<br />
5, 0621/1223454 MARBuRG CINEPLEx Biegenstraße 1a,<br />
06421/17300 MüNCHEN NEuES ARENA FILMTHEATER Hans-Sachs-<br />
Straße 7, 089/2603265 · CITy KINO Sonnenstraße 12, 089/591983 · CINE-<br />
MAxx Isartorplatz 8, 01805/24636299 MüNSTER CINEMA FILMTHEA-<br />
TER Warendorfer Straße 45–47, 0251/30300 NüRNBERG KOMMKINO<br />
Königstraße 93, 0911/2448889 OFFENBACH CINEMAxx Berliner Straße<br />
210, 01805/24636299 OLDENBuRG CINE K Bahnhofstraße 11,<br />
0441/2489646 · CINEMAxx Stau 79–85, 01805/24636299 POTSDAM<br />
THALIA ARTHOuSE Rudolf-Breitscheid-Straße 50, 0331/7437020 RE-<br />
GENSBuRG WINTERGARTEN Andreasstraße 28, 0941/2980963 · CINEMAxx<br />
Friedenstraße 25, 01805/24636299 SAARBRüCKEN KINO ACHTEINHALB<br />
Nauwieser Straße 19, 0681/3908880 · KINO IM FILMHAuS Mainzer Straße<br />
8, 0681/372570 SCHWEINFuRT KuK – KINO uND KNEIPE Ignaz-Schön-<br />
Straße 32, 09721/82358 STuTTGART CINEMAxx AN DER LIEDERHALLE<br />
Robert-Bosch-Platz 1, 01805/24636299 TRIER BROADWAy FILMTHEATER<br />
Paulinstraße 18, 0651/96657200 WEITERSTADT KOMMuNALES KINO<br />
Carl-Ulrich-Straße 9–11 / Bürgerzentrum, 06150/12185 WuPPERTAL CI-<br />
NEMAxx Bundesallee 250, 01805/24636299 1181<br />
Veitshöchheimer Straße 5a, 01805/24636299<br />
WüRZBuRG CINEMAxx<br />
46<br />
IMPRESSuM<br />
herausgeber Björn Koll<br />
Verlag Salzgeber & Co. Medien GmbH<br />
Mehringdamm 33 · 10961 Berlin<br />
Telefon 030 / 285 290 90 · Telefax 030 / 285 290 99<br />
Redaktion Jan Künemund, presse@salzgeber.de<br />
Art Director Johann Peter Werth, werth@salzgeber.de<br />
Autoren Richard Dyer, Michael Eckhardt, Jessica Ellen, Richard Garay, Gunther<br />
Geltinger, Patrick Heidmann, Jan Künemund, Dietrich Kuhlbrodt,<br />
Gerhard Midding, Angelika Nguyen, Jana Papenbroock, Bert Rebhandl,<br />
Maike Schultz, Paul Schulz, Michael Sollorz, Hannt Stecher, Philipp<br />
Wagner, André Wendler, Sascha Westphal<br />
Anzeigen Jan Nurja, nurja@salzgeber.de<br />
Es gilt die Anzeigenpreisliste 2/2010 (www.sissymag.de/media).<br />
Druck Möller Druck, Berlin<br />
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Verteilung deutschlandweit in den schwul-lesbischen Buchläden, in den CinemaxX-<br />
Kinos in Augsburg, Berlin, Bielefeld, Bremen, Dresden, Essen, Freiburg,<br />
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<strong>Film</strong> und Fernsehen „Konrad Wolf“ (Potsdam), Deutsche <strong>Film</strong>- und<br />
Fernsehakademie Berlin, Orlando (Bochum), Birdcage (Kiel), Café Gnosa<br />
(Hamburg), Café ERA (Köln), Kunsthochschule für Medien Köln. Wenn<br />
Sie die SISSY ebenfalls auslegen möchten: Kurze Mail genügt!<br />
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Oktober/November. Auflage: 40.000 Exemplare (Druckauflage).<br />
Auch das noch …<br />
ISSN 1868-4009<br />
Eine 16mm-<strong>Film</strong>kopiebüchse, ganz frisch aus unserem Keller. Nach 23 Jahren schicken wir „5 Ways To Kill<br />
Yourself“ an Gus van Sant zurück – seine eigene Kopie war ihm abhanden gekommen.<br />
„Brokeback Tempelberg!“ JUNGLE WORLD<br />
„Eindringlich und berührend!“ NZZ<br />
„Ein zärtlicher Tabubruch!“ EMOTION<br />
„Ein Werk, das auf die Macht<br />
des Kinos vertraut.“ TIP<br />
AB 30.9. AUF DVD!<br />
www.dusollstnichtlieben.de<br />
www.salzgeber.de
JEMAND WARTET AUF DICH.<br />
Es wird Zeit, dass sich die Wege kreuzen.<br />
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