WAS HOLLYWOOD NICHT ERLAUBT - Sissy
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von rüdiger suchsland<br />
Sophie laloys glänzendes Kinodebüt „Emma & Marie“,<br />
ein Psychothriller über liebe und sexuelles Erwachsen,<br />
durchlöchert die nur scheinbar festgefügte Grenze zwischen<br />
Autorenkino und Genre.<br />
s Harmonische Musik erklingt aus dem Off, man sieht Bilder eines<br />
Aufbruchs, eine Familie fährt im Auto von zu Hause weg. Während<br />
die Filmtitel noch über die Leinwand laufen, zeigen die ersten Bilder<br />
das Auto in der Fahrt: aus der Distanz, von oben, von der Seite. Man<br />
glaubt diese Bilder ganz vage wiederzuerkennen, und vielleicht ist es<br />
ein subtil gesetztes Zeichen der Regisseurin Sophie Laloy, vielleicht<br />
auch nur zufällige Koinzidenz, dass diese allerersten Einstellungen<br />
jenen ähneln, mit denen Michael Haneke seine Funny Games beginnen<br />
lässt. Auch die Musik, die einen hellen, harmonischen Grundklang<br />
mit leichten Disharmonien mischt, betont eher das Vage der Situation,<br />
baut subtil Atmosphären der Unsicherheit, ja: Bedrohung auf.<br />
Noch ist dies versteckt in der Freude der Wiederbegegnung der<br />
beiden Kindheitsfreundinnen Emma und Marie, die sich hier erstmals<br />
nach Jahren sehen. Doch die Blicke sprechen bereits eine andere<br />
Sprache: Verwunderung ist bemerkbar, genaue Beobachtung, Reserve.<br />
Noch weiß Marie vermutlich selbst nicht, wie ihr genau geschieht: zu<br />
überwältigend ist die Macht des Neuen. In Lyon wird sie am Konservatorium<br />
eine Ausbildung zur Pianistin beginnen, darum ist sie bei<br />
Emma eingezogen. „Ich werde im Zimmer meiner Eltern schlafen“,<br />
sagt diese zu Beginn, offenbar ist mit deren schneller Rückkehr nicht<br />
zu rechnen. Marie wird in Emmas alten Raum ziehen. Etwas später<br />
erfahren wir, dass Emmas Vater tot ist, die Mutter in den USA lebt.<br />
So weit der äußere Rahmen. Nach wenigen Minuten schon ist die<br />
Meisterschaft dieses Films offensichtlich: Bewunderswert, wie Laloy<br />
ein spannungsreiches Beziehungsnetz entfaltet, bestimmt von wechselseitiger<br />
Irritation, versteckten Vorwürfen, Misstrauen und heimlichem,<br />
ungelenktem Begehren. Die Beziehung der beiden jungen<br />
Frauen ist nicht aufrichtig. Schon früh steht viel Unausgesprochenes<br />
im Raum: Eine Vergangenheit, die offenbar Narben auf der Seele hinterließ<br />
– Emma habe sich sehr verändert, bemerkt Marie. „Ich war<br />
früher sehr schüchtern“, sagt Emma, und dann der Vorwurf, dass<br />
die Freundin irgendwann nicht mehr angerufen habe… Irgendetwas<br />
scheint vorgefallen. Immer rätselhafter wird das Verhältnis der beiden<br />
– intensiv und großartig gespielt von Judith Davies und Isild Le<br />
Besco – und mündet in einen Zweikampf der Gefühle. Die Musik ist<br />
jeweils als dramaturgisches Zeichen eingesetzt: Ob Ravels „Pavane<br />
pour une enfante défunte“ oder Schumanns „Carnaval“, Mussorgskys<br />
„Bilder einer Ausstellung“ – immer wieder geht es um Parallellwelten<br />
des Phantastischen, um das geheime Geisterreich der Gefühle.<br />
Die beiden sind denkbar unterschiedlich. Marie entspricht dem<br />
Klischees eines jungen Provinzmädchens: neugierig, offen, aber auch<br />
brav und langweilig. Emma gibt dem Betrachter mehr Rätsel auf:<br />
irgendwie spröde und streng, altklug und viel stärker als die Freundin.<br />
Eine Femme Fatale, auf ihre Art. Das entspricht durchaus dem<br />
schon früh angedeuteten Horror-Genre, in dem ein unschuldiges<br />
Wesen das Stahlbad der Todesgefahr überstehen muss, um stark zu<br />
werden – oder mindestens erwachsen.<br />
Aber in der Dynamik, die der Film entfaltet, verändern sich die<br />
Figuren bald, wechseln ihre Rollen. Und so wie im Film Noir die<br />
Dunkelhaarige meist die Femme Fatale und Stärkere, die der Nacht<br />
Verfallene ist, die Blonde dagegen das Unschuldige, Engelhafte,<br />
Reine verkörpert, so bekommt auch hier plötzlich Marie die Oberhand,<br />
erscheint Emma als die Verletzliche, Sensible. Und dann wieder<br />
doch nicht. Und doch wieder… Keine der beiden Seiten scheint<br />
hier klar unterlegen, hin und her reißt der Film die Sympathien der<br />
Zuschauer.<br />
Sophie Laloys glänzendes Kinodebüt Emma & Marie (Je Te Mangerais)<br />
ist ein Psychothriller über sexuelles Erwachen und Begehren.<br />
Nahe der Ästhetik des Horrorkinos durchlöchert dieser Film die nur<br />
scheinbar festgefügte Grenze zwischen Autorenkino und Genre. Ein<br />
eindrucksvolles Debüt, ein Noir-Melo mit Anleihen an Cocteau und<br />
Tourneur, mit dem sich Laloy als neue, eigenständige Stimme im<br />
französischen Kino zu erkennen gibt und zugleich die große Tradition<br />
des französischen Autorenfilms fortsetzt.<br />
Eine ganz radikale Sicht auf den Film würde hervorheben, dass<br />
Emma fast nur als Nachtgestalt existiert, dass sie nur abends auftaucht,<br />
dunkle Kleider trägt… Dass sie also fast ein Phantom ist, vielleicht<br />
zu großen Teilen nur in Maries Einbildung existiert. Emma<br />
& Marie ließe sich ganz und gar aus Maries Sicht beschreiben: Als<br />
Geschichte eines netten, aber etwas unbedarften Provinzgirls, das<br />
seine sexuelle Identität erst noch finden muss, das zwischen den<br />
Gefühlen für die Jungs im Konservatorium und die beste Freundin<br />
nicht recht gewichten kann, das diese Freundin so ungemein bewundert,<br />
dass es eins werden will mit ihr, die Erwachsensein und stilvolles<br />
Leben, Selbstständigkeit und große Welt verkörpert, den Abschied<br />
von den Eltern, den es selbst noch nicht vollzogen hat. Auch als emotionale<br />
Biographie einer Künstlerin, die unter Lampenfieber leidet, und<br />
sich mit der geheimnisvollen Pianistin Brigitte Engerer identifiziert.<br />
Umgekehrt, aus Emmas Sicht, geht es um Aneignung und Verschmelzung:<br />
Sie trägt schwer an einer unbewältigten Vergangenheit,<br />
versteckt ihre Verletzlichkeit hinter spröden, kühlen Gesten – bevor<br />
sie sich in hysterischen Ausbrüchen entlädt. Marie hat für Emma die<br />
unbelastete Normalität und festgefügte Identität, nach der sie sich<br />
sehnt. Sie findet ihren Halt nur im Schein: in Lügen und der Mode.<br />
Nur so erhält sie die Aufmerksamkeit, die sie offenbar so dringend<br />
benötigt.<br />
Ist dies nun eine Liebesgeschichte? Vielleicht. Jedenfalls aber<br />
keine einfache Coming-Out-Geschichte oder eine unglückliche lesbische<br />
Love-Story. Bestimmt aber sind Emma und Marie einander in<br />
einer ganz eigenen Form von Liebe verbunden. Das zeigt sich gerade<br />
am Ende des Films: Da löst sich in einer finalen Erschütterung die<br />
Härte in Maries Blick, und in den letzten Minuten des Films kulminiert<br />
alles, was die Regisseurin Sophie Laloy zuvor über 90 Minuten<br />
aufgebaut hat. s<br />
Emma & Marie<br />
von Sophie Laloy<br />
FR 2009, 96 Min, OmU<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
L-Filmnacht im November<br />
www.L-Filmnacht.de<br />
Danach regulär in den Kinos<br />
14 15<br />
kino