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WAS HOLLYWOOD NICHT ERLAUBT - Sissy

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kino<br />

s Stavanger, eine norwegische Stadt im<br />

Jahre 1989. Es ist das Jahr, in dem die Berliner<br />

Mauer fällt. Doch das ist Jarle Klepp ziemlich<br />

egal. Er befindet sich gerade mitten in der<br />

Pubertät, die eigenen Befindlichkeiten sind<br />

wichtiger als die Weltpolitik. „Eher fällt die<br />

Berliner Mauer, als dass wir in einen coolen<br />

Club kommen“, sagt einer aus Jarles Clique zu<br />

Beginn des Films, nachdem die Freunde mal<br />

wieder von Türstehern nach Hause geschickt<br />

worden sind. Die Betonung liegt auf den<br />

„coolen Clubs“, Berlin dagegen ist weit weg.<br />

Etwas später fällt die Mauer dann tatsächlich,<br />

Fernsehbilder von dem Ereignis flackern<br />

im Hintergrund, als Jarle und seine Mutter<br />

im Wohnzimmer sitzen. Beide beachten den<br />

Fernseher kaum, Jarle schießen ganz andere<br />

Dinge durch den Kopf. Er will seiner Mutter<br />

endlich gestehen, dass er in zwei Menschen<br />

gleichzeitig verliebt ist, in ein Mädchen und in<br />

einen Jungen. Doch wieder einmal bringt er es<br />

nicht über die Lippen…<br />

Stian Kristiansen klammert die historischen Ereignisse von 1989<br />

in seinem Spielfilmdebüt Der Mann, der Yngve liebte nicht aus, sondern<br />

legt den Schwerpunkt auf das, was für die Jugendlichen in dieser<br />

Zeit tatsächlich eine Rolle spielte. Man hatte sich zu entscheiden: cool<br />

oder uncool. Punk oder Popper. Skateboard oder Tennis. Nietengürtel<br />

oder pastellfarbene Lacoste-Hemden. Sonic Youth oder Synthiepop.<br />

Für Jarle ist die Entscheidung von Anfang an klar, er fällt sie in<br />

den ersten Minuten des Filmes – Jarle will zu den Coolen zählen. Bei<br />

einem Klassenausflug geht er auf seinen Mitschüler Helge zu, der mit<br />

seinen halblangen Haaren und dem verwaschenen Parka bereits zu<br />

den Coolen gehört. Beide tasten einander ab, typische Checker-Fragen<br />

werden ausgetauscht. Nachdem sie sich darüber einig sind, dass<br />

„Psychocandy“ von The Jesus And Mary Chain zu den besten Alben<br />

der Achtziger gehört, kommt es zum Handschlag, die neue Freundschaft<br />

ist besiegelt.<br />

Mit Liebe zum Detail rekonstruiert Regisseur Kristiansen eine<br />

Zeit, als Jugendkulturen noch übersichtlich waren. Die Trennlinie<br />

verlief zwischen Angepassten und Nichtangepassten. Zwischenstufen<br />

und Ambivalenzen schienen auf den ersten Blick nicht zu existieren.<br />

Die Wahl der Musik war bereits ein klarer Ausdruck von<br />

POP ALS<br />

LEBENSHILFE<br />

von marTin büsser<br />

Jarle, ein norwegischer teenie und angehender Popstar, schreibt für seine Freundin<br />

ein liebeslied und nimmt es auf tonband auf. Dann verliebt er sich in Yngve und<br />

schenkt stattdessen ihm die cassette. Weil in „Der Mann, der Yngve liebte“ coming-<br />

Out und Popmusik untrennbar miteinander verbunden sind, ist unser Autor diesem<br />

zusammenhang mal auf den Grund gegangen.<br />

Weltanschauung. Wer Punk und Indie-Rock hörte, gab sich als Nonkonformist<br />

zu erkennen, war politisch tendenziell eher links. „Wahrer<br />

Kommunismus hat ja nie existiert“, wirft Helge beispielsweise im<br />

Schulunterricht ein, als der Lehrer mit glänzenden Augen das Ende<br />

des Sowjetkommunismus verkündet. Die anderen hingegen, die Disco<br />

und Elektropop hören, gelten als angepasste Konsum-Kids, unreflektiert,<br />

unkritisch, schnöselige Kinder reicher Eltern. So zum Beispiel<br />

ein Mitschüler, stets in hellblauem Anorak gekleidet, der Jarle und<br />

Helge hinterher läuft, auch zu den Coolen gehören möchte, aber deren<br />

Codes nicht kennt. Als er mitbekommt, dass die Band, in der Jarle und<br />

Helge spielen, demnächst einen Auftritt hat, fragt er allen Ernstes:<br />

„Klingt eure Musik so wie die Dire Straits?“<br />

Mit den Dire Straits hat die Mathias Rust Band rein gar nichts zu<br />

tun. Sie spielen Punk, ihr heimlicher Hit heißt „Pussy Satan Anarchy<br />

Commando“, eine Aneinanderreihung von allem, was sich irgendwie<br />

skandalös und verrucht anhört. Selbstverständlich handelt es sich<br />

um eine reine Jungs-Combo. Die einzige Frau im Proberaum, Jarles<br />

Freundin Cathrine, darf lediglich zuhören und kritische Kommentare<br />

zur Musik beisteuern, die bei den Jungs allerdings auf taube<br />

Ohren stoßen.<br />

ARSENAl<br />

Bereits in diesen Proberaum-Szenen deutet Kristiansen<br />

mit subtilem Humor an, dass die Coolen vielleicht doch<br />

nicht so nonkonformistisch sind, wie sie gerne wären. Die<br />

Verbissenheit, mit der sie für ihren ersten Liveauftritt<br />

proben, hat eher etwas von protestantischem Arbeitsethos<br />

als von lockerer Scheißegal-Haltung. Ähnlich verbissen,<br />

nämlich als reines Pflichtprogramm, erscheint<br />

längst auch die Beziehung von Jarle zu seiner Freundin<br />

Cathrine. In einer Band zu spielen und eine Freundin zu<br />

haben, erweisen sich als unhinterfragte hetero normative<br />

Statussymbole, die für Jarle erst ins Wanken geraten, als<br />

ein neuer Mitschüler auftaucht – Yngve. Der spielt hervorragend<br />

Tennis, liebt die „Synthiepop“-Band Japan<br />

und gehört damit eigentlich zu den Uncoolen, zu den<br />

Poppern. Trotzdem fühlt sich Jarle zu Yngve hingezogen,<br />

eines Nachmittags besucht er ihn, beide liegen in Yngves<br />

Zimmer, lauschen der leicht ätherischen Stimme von<br />

Japan-Sänger David Sylvian, während Yngve verträumt<br />

in den Himmel blickt und Jarle erzählt, was für Figuren<br />

er gerade in den Wolken sieht. Um Jarle ist es geschehen.<br />

Er verliebt sich in diesen Mitschüler, der so gar nicht in<br />

das Bild des angepassten Poppers passen will, sondern<br />

eine Fähigkeit besitzt, die der Punk-Clique völlig fremd<br />

ist: den Tagtraum, das Abschweifen, die poetische Flucht<br />

aus der provinziellen Enge.<br />

Es gehört zu den Stärken von Der Mann, der Yngve<br />

liebte, dass alle Gender-Fragen, die der Film aufwirft,<br />

auch auf der Ebene der Musik und der jugendkulturellen<br />

Codes aufgegriffen werden, ohne dass die Musik dabei<br />

nur illustrierenden oder nostalgischen Soundtrack-Charakter<br />

hat. Sie demonstriert vielmehr auf einer zweiten<br />

Ebene, dass ein bestimmter Sound, ein bestimmter Habitus<br />

und ein bestimmtes Outfit unmittelbar mit Gender-<br />

Positionierung einhergehen. Es gibt keinen von Gender<br />

losgelösten Pop. Und es gelingt Regisseur Kristiansen,<br />

die Coolness-Codes seiner Protagonisten infrage zu stellen,<br />

denn Jarle wird immer stärker von Zweifeln über seinen<br />

bisherigen Lebensentwurf heimgesucht.<br />

Die Punk-Clique und das Auftreten der Mathias Rust<br />

Band erweisen sich letztlich als das, was der Musikwissenschaftler<br />

Matthew Bannister in seinem Buch „White<br />

Boys, White Noise: Masculinities and 1980s Indie Guitar<br />

Rock“ als „homosoziale Gemeinschaften“ bezeichnet hat.<br />

„Homosozialität“, führt er aus, „bedeutet eine männlich<br />

definierte soziale Hierarchie, die darauf aufbaut, dass<br />

man jederzeit der Homosexualität bezichtigt werden<br />

kann“. Es ist ein wenig wie im Fußball: Männerkörper reiben<br />

aneinander, prallen aufeinander, sie duschen gemeinsam,<br />

doch gerade wegen dieser extremen körperlichen<br />

Nähe wird homosexuelles Begehren zum größten Tabu.<br />

Obwohl „Punk“ ursprünglich eine Slang-Bezeichnung<br />

für ein homosexuelles Vergewaltigungsopfer im Gefängnis<br />

war, ist Punk sehr schnell zu einer heteromaskulinen<br />

Bewegung geworden. Hatten Mitte der 1970er noch<br />

Punk-Musikerinnen wie The Slits oder der transsexuelle<br />

Musiker Wayne/Jayne County herkömmliche Geschlechterrollen<br />

in Frage gestellt, so sollte sich Punkrock – mit<br />

Betonung auf Rock – im Laufe der 1980er endgültig<br />

zu einem maskulinen Stil entwickeln, der kaum mehr<br />

Gefühle jenseits von Aggressivität zuließ. Genau dieses<br />

Bild spiegelt auch die Mathias Rust Band im Film wider,<br />

kontrastiert von der eigenartig amorphen Musik Japans,<br />

die dem gegenüber so flüchtig und fragil erscheint wie<br />

die Bewegung der Wolken, die Yngve beobachtet. Der<br />

Gesang von David Sylvian steht für das Brüchige, Tastende,<br />

Nicht-Festgelegte, ist deswegen also tendenziell<br />

queer. Denn erst mit dem von vielen Punks abgelehnten<br />

Synthiepop, mit New Wave und so genanntem Postpunk,<br />

kam es in den 1980ern zu einer gravierenden Verqueerung<br />

der Popmusik. Im Vorwort zu Simon Reynolds<br />

Postpunk-Exegese „Rip It Up And Start Again“, schreibt<br />

Klaus Walter: „Die Auswirkungen der von Postpunk ausgelösten<br />

geschlechter- und stilpolitischen Erschütterungen<br />

lassen sich in den Achtzigern bis an die Spitze der<br />

Charts nachverfolgen. Nie zuvor – und auch danach nie<br />

wieder – gab es derart viele Hits von Acts, die so offensichtlich<br />

von der heterosexuellen Norm abwichen: Soft<br />

Cell, Bronski Beat, Frankie Goes To Hollywood, Culture<br />

Club, Wham!, Marilyn… und selbst Heterojungs wie die<br />

Gebrüder Kemp kamen mit Spandau Ballet daher, als<br />

wollten sie beim Maskenball der Friseur innung auftreten.“<br />

Zu diesen exzentrisch frisierten Heterojungs zählte<br />

auch David Sylvian von Japan.<br />

Die hier nur kurz skizzierte Widersprüchlichkeit des<br />

1980er-Pop zwischen schwulen und androgynen Chartstürmern<br />

und nonkonformistischen, aber heteronormativen<br />

Punkrockern wird in Der Mann, der Yngve liebte in<br />

ihrer ganzen Komplexität anhand von Jarles Coming-Out<br />

durchgespielt – ein Wechselbad der Gefühle, hin- und<br />

hergerissen zwischen schwuler Hingabe und zwanghaft<br />

aufrecht erhaltener Homophobie, von Darsteller Rolf<br />

Kristian Larsen so brillant gespielt, als sei es sein eigenes<br />

Dilemma.<br />

Pop und Alltag koexistieren im Film wie zwei einander<br />

umkreisende, aber doch höchst unterschiedliche<br />

Planeten. Pop ist Verheißung, bunte und abenteuerliche<br />

Glam-Welt, die so gar nichts mit dem eigenen Lebensumfeld<br />

gemein hat. Im Pop werden ungelebte und uneingestandene<br />

Träume kompensiert. Jarle traut sich nicht,<br />

seinen Freunden und seinen getrennt lebenden Eltern zu<br />

gestehen, dass er einen Jungen liebt. Doch schon vor dem<br />

Coming-Out hängen in seinem Zimmer homoerotisch<br />

aufgeladene Poster von The Smiths, einer Band, die auch<br />

in Jarles Punk-Clique akzeptiert wird. Solche Details<br />

werden in Der Mann, der Yngve liebte immer wieder eingestreut,<br />

um zu zeigen, wie wichtig Pop zumindest in den<br />

1980ern für die jugendliche Identitätsfindung war und<br />

wie stark über Pop auch sexuelle Präferenzen verhandelt<br />

wurden. Indem man zum Beispiel Fan von The Smiths<br />

sein konnte, ohne deswegen gleichzeitig unter Gleichaltrigen<br />

als schwul zu gelten, half Pop, mit sexuellen Identitäten<br />

zu spielen, bevor man sich zu entscheiden hatte, sie<br />

auch zu leben.<br />

Nach Cam Archers Wild Tigers I Have Known ist mit<br />

Der Mann, der Yngve liebte ein weiterer Film entstanden,<br />

in dem Musik als Begleitung des Coming-Out eine zentrale<br />

Rolle spielt. Während Musik in Archers Film jedoch<br />

Soundtrack bleibt, der die innere Zerrissenheit des jungen<br />

Protagonisten klanglich umsetzt, wird sie in Der Mann,<br />

der Yngve liebte zum Kommunikationsmittel, mit dessen<br />

Hilfe die Protagonisten untereinander mal bewusst, mal<br />

unbewusst sexuelle Identitäten aushandeln. Damit ist der<br />

Film letztlich eine große Liebeserklärung an die symbolpolitische<br />

Kraft des Pop. s<br />

Der Mann, der Yngve liebte von Stian Kristiansen, NOR 2008, 98 Min<br />

Arsenal, www.arsenalfilm.de<br />

Im Kino: Gay-Filmnacht im Oktober, www.gay-filmnacht.de<br />

On the Wild Side. Die wahre<br />

Geschichte der Popmusik.<br />

von Martin Büsser<br />

EVA, www.europaeischeverlagsanstalt.de<br />

Testcard. Beiträge zur Popgeschichte.<br />

Hrsg. Martin Büsser<br />

www.testcard.de<br />

White Boys, White Noise<br />

von Matthew Bannister<br />

Barnes & Noble,<br />

www.barnesandnoble.com<br />

Rip it up and start again<br />

von Simon Reynolds<br />

Faber and Faber, www.faber.co.uk<br />

Wild tigers I have known<br />

von Cam Archer<br />

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />

12 13<br />

kino

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