Neu auf dvd - Sissy

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12.11.2012 Aufrufe

kino Regisseur Xavier Dolan genauso begehrt wurde wie von Frauen, zieht auch er die Blicke und Begierden aller auf sich und bleibt davon ganz ungerührt. Aber auch der Betrachter unten im Kinosaal wandelt auf Narcissus’ Spuren: Die Leinwand ist sein Spiegel, auf den sich all sein Begehren richtet. Die projizierten Bilder werden von seinen eigenen Projektionen übermalt. Mit dieser Ambivalenz, diesen beiden Spielarten einer auf sich selbst gerichteten Liebe, spielt Xavier Dolan meisterhaft. Dazu gehört selbstverständlich, dass er sich selbst und sein Äußeres plakativ in Szene setzt: J’ai tué ma mère ist eben nicht nur das Dokument einer obsessiven Mutter-Sohn-Hassliebe, er ist auch ein Liebesbrief, den Dolan sich selbst geschrieben hat. Aber entscheidender ist am Ende dann doch das Spiel, das er mit dem Betrachter treibt. Mit all seinen Verweisen auf die Nouvelle Vague und Wong Kar-wai, die schon sein Debüt prägten und nun in Les amours imaginaires, dieser von Godard-Zitaten durchsetzten queeren Überschreibung von François Truffauts Jules et Jim, noch einmal einen tieferen Resonanzraum erhalten, bedient er virtuos den Cinenarzissmus des globalen Kunstkinopublikums. All die kleinen filmischen Spielereien, die extrem schnellen Zooms in den direkt in die Kamera gesprochenen, pseudo-dokumentarischen Interviewsequenzen, die monochromen Bettszenen sind dabei genauso Teil von Dolans postmodern ironischem Konzept wie all die salopp eingestreuten Kunst- und Pop-Verweise. Natürlich muss die von Monia Chokri gespielte Marie, eine 50 Jahre zu spät geborene Wiedergängerin Audrey Hepburns, in Nicolas gleich Michelangelos David sehen, während für Dolans Francis, diesen James Dean der Post-Histoire, mit ihm die Zeich- 8 nungen und Skizzen Jean Cocteaus Gestalt angenommen haben. Style ist alles in Dolans Welt- und Lebensentwurf wie in dem seiner beiden spiegelbildlichen Alter-Ego-Protagonisten. Die 60er Jahre werden zum Fluchtpunkt aller Sehnsüchte, die in der profanen Wirklichkeit des frühen 21. Jahrhunderts unerfüllt bleiben müssen: Dalidas italienische Version von „Bang Bang“ ist nicht nur der ideale Soundtrack eingebildeter Liebe, sie ist auch das grandiose Vintage-Leitmotiv eines Rückzugs in die Vergangenheit, in eine Zeit der überhöhten und idealisierten Gefühle. Retro ist die einzige Zukunft, die noch bleibt, zumindest für den Schwärmer Dolan und all die, die wiederum ihn umschwärmen. Wieder und wieder stehen Marie und Francis vor Spiegeln, vertieft in ihr eigenes Antlitz. Ihre Blicke in den Spiegel sind wie ihre Blicke auf Nicolas, daran lässt Xavier Dolan keinen Zweifel. Darin liegt ihr Schmerz, aber letzten Endes eben auch ihr Glück. Ein Jahr danach, ihre Kämpfe um das gemeinsame Objekt ihrer Begierde sind Vergangenheit und nur mehr Stoff für launige Anekdoten, werden sie Nicolas auf einer Party zufällig wiedertreffen. Von ihrer Leidenschaft ist nicht mehr übriggeblieben als Hohn, dem Francis dann auch in bizarren Lauten Ausdruck verleiht. Die Verschmähten verschmähen ihn, um sich wenige Momente später schon gemeinsam einem neuen Nicolas zuzuwenden. Wie sie zusammen in Zeitlupe – wie sollte es auch anders sein – auf ihn zugehen, hat etwas beinahe Raubtierhaftes. Dazu erklingt noch einmal Dalidas „Bang Bang“. Das Spiel kann von vorne beginnen. Ein riesiges Spiegelkabinett des Narzissmus, so ließe sich Les amours imaginaires wohl am besten beschreiben. Ein Entkom- KooL FILM men gibt es nicht, aber das will in Wahrheit auch gar keiner. Auf der Oberfläche hat Niels Schneider als Nicolas die Rolle des Narcissus von Xavier Dolan übernommen, der nun einen der Verschmähten spielt. Doch so einfach war es noch nie mit diesem Mythos. Der schöne Jüngling und seine zurückgewiesenen Verfolger waren letztendlich immer eins: Happiness in stalking, und jeder, vor wie hinter der Kamera, auf der Leinwand wie vor ihr, liebt seine amours imaginaires, seine Projek tionen und Wunschbilder. Das weiß Xavier Dolan, und so bietet er sich der rein narzisstischen Schaulust des Kinopublikums als Objekt wie auch als Subjekt an. Er ist Ideal und Identifikationsfigur, unerreichbar und doch eins mit seinen Bewunderern. Nun bleibt abzuwarten, wie lange Dolan ihnen, diesen Traum-Stalkern, noch einen Schritt voraus bleiben kann. Aber zumindest bis es soweit ist, müssen wir uns Narcissus als glücklichen Menschen vorstellen. s Herzensbrecher von Xavier Dolan CA 2010, 95 Min, DF/OmU Kool Film, www.koolfilm.de Im Kino ab 7. Juli 2011 Pink Narcissus von James Bidgood US 1971, 71 Min, ohne Dialog Beide auf DVD bei der Edition Salzgeber, www.salzgeber.de I Killed My Mother von Xavier Dolan CA 2009, 100 Min, DF/OmU Auf DVD bei Kool Film, www.koolfilm.de Im Spiegel des Sommers von Étienne Desrosiers CA 2006, 14 Min, OmU erschienen auf „Junge Helden“

kino<br />

Regisseur Xavier Dolan<br />

genauso begehrt wurde wie von Frauen, zieht<br />

auch er die Blicke und Begierden aller <strong>auf</strong><br />

sich und bleibt davon ganz ungerührt. Aber<br />

auch der Betrachter unten im Kinosaal wandelt<br />

<strong>auf</strong> Narcissus’ Spuren: Die Leinwand ist<br />

sein Spiegel, <strong>auf</strong> den sich all sein Begehren<br />

richtet. Die projizierten Bilder werden von<br />

seinen eigenen Projektionen übermalt.<br />

Mit dieser Ambivalenz, diesen beiden<br />

Spielarten einer <strong>auf</strong> sich selbst gerichteten<br />

Liebe, spielt Xavier Dolan meisterhaft. Dazu<br />

gehört selbstverständlich, dass er sich selbst<br />

und sein Äußeres plakativ in Szene setzt: J’ai<br />

tué ma mère ist eben nicht nur das Dokument<br />

einer obsessiven Mutter-Sohn-Hassliebe, er<br />

ist auch ein Liebesbrief, den Dolan sich selbst<br />

geschrieben hat. Aber entscheidender ist am<br />

Ende dann doch das Spiel, das er mit dem<br />

Betrachter treibt. Mit all seinen Verweisen<br />

<strong>auf</strong> die Nouvelle Vague und Wong Kar-wai,<br />

die schon sein Debüt prägten und nun in Les<br />

amours imaginaires, dieser von Godard-Zitaten<br />

durchsetzten queeren Überschreibung<br />

von François Truffauts Jules et Jim, noch<br />

einmal einen tieferen Resonanzraum erhalten,<br />

bedient er virtuos den Cinenarzissmus<br />

des globalen Kunstkinopublikums.<br />

All die kleinen filmischen Spielereien, die<br />

extrem schnellen Zooms in den direkt in die<br />

Kamera gesprochenen, pseudo-dokumentarischen<br />

Interviewsequenzen, die monochromen<br />

Bettszenen sind dabei genauso Teil<br />

von Dolans postmodern ironischem Konzept<br />

wie all die salopp eingestreuten Kunst- und<br />

Pop-Verweise. Natürlich muss die von Monia<br />

Chokri gespielte Marie, eine 50 Jahre zu spät<br />

geborene Wiedergängerin Audrey Hepburns,<br />

in Nicolas gleich Michelangelos David sehen,<br />

während für Dolans Francis, diesen James<br />

Dean der Post-Histoire, mit ihm die Zeich-<br />

8<br />

nungen und Skizzen Jean Cocteaus Gestalt<br />

angenommen haben. Style ist alles in Dolans<br />

Welt- und Lebensentwurf wie in dem seiner<br />

beiden spiegelbildlichen Alter-Ego-Protagonisten.<br />

Die 60er Jahre werden zum Fluchtpunkt<br />

aller Sehnsüchte, die in der profanen<br />

Wirklichkeit des frühen 21. Jahrhunderts<br />

unerfüllt bleiben müssen: Dalidas italienische<br />

Version von „Bang Bang“ ist nicht nur der<br />

ideale Soundtrack eingebildeter Liebe, sie ist<br />

auch das grandiose Vintage-Leitmotiv eines<br />

Rückzugs in die Vergangenheit, in eine Zeit<br />

der überhöhten und idealisierten Gefühle.<br />

Retro ist die einzige Zukunft, die noch bleibt,<br />

zumindest für den Schwärmer Dolan und all<br />

die, die wiederum ihn umschwärmen.<br />

Wieder und wieder stehen Marie und<br />

Francis vor Spiegeln, vertieft in ihr eigenes<br />

Antlitz. Ihre Blicke in den Spiegel sind<br />

wie ihre Blicke <strong>auf</strong> Nicolas, daran lässt<br />

Xavier Dolan keinen Zweifel. Darin liegt ihr<br />

Schmerz, aber letzten Endes eben auch ihr<br />

Glück. Ein Jahr danach, ihre Kämpfe um<br />

das gemeinsame Objekt ihrer Begierde sind<br />

Vergangenheit und nur mehr Stoff für launige<br />

Anekdoten, werden sie Nicolas <strong>auf</strong> einer<br />

Party zufällig wiedertreffen. Von ihrer Leidenschaft<br />

ist nicht mehr übriggeblieben als<br />

Hohn, dem Francis dann auch in bizarren<br />

Lauten Ausdruck verleiht. Die Verschmähten<br />

verschmähen ihn, um sich wenige Momente<br />

später schon gemeinsam einem neuen Nicolas<br />

zuzuwenden. Wie sie zusammen in Zeitlupe<br />

– wie sollte es auch anders sein – <strong>auf</strong> ihn<br />

zugehen, hat etwas beinahe Raubtierhaftes.<br />

Dazu erklingt noch einmal Dalidas „Bang<br />

Bang“. Das Spiel kann von vorne beginnen.<br />

Ein riesiges Spiegelkabinett des Narzissmus,<br />

so ließe sich Les amours imaginaires<br />

wohl am besten beschreiben. Ein Entkom-<br />

KooL FILM<br />

men gibt es nicht, aber das will in Wahrheit<br />

auch gar keiner. Auf der Oberfläche hat Niels<br />

Schneider als Nicolas die Rolle des Narcissus<br />

von Xavier Dolan übernommen, der nun<br />

einen der Verschmähten spielt. Doch so einfach<br />

war es noch nie mit diesem Mythos. Der<br />

schöne Jüngling und seine zurückgewiesenen<br />

Verfolger waren letztendlich immer<br />

eins: Happiness in stalking, und jeder, vor wie<br />

hinter der Kamera, <strong>auf</strong> der Leinwand wie<br />

vor ihr, liebt seine amours imaginaires, seine<br />

Projek tionen und Wunschbilder. Das weiß<br />

Xavier Dolan, und so bietet er sich der rein<br />

narzisstischen Schaulust des Kinopublikums<br />

als Objekt wie auch als Subjekt an. Er ist<br />

Ideal und Identifikationsfigur, unerreichbar<br />

und doch eins mit seinen Bewunderern. Nun<br />

bleibt abzuwarten, wie lange Dolan ihnen,<br />

diesen Traum-Stalkern, noch einen Schritt<br />

voraus bleiben kann. Aber zumindest bis<br />

es soweit ist, müssen wir uns Narcissus als<br />

glücklichen Menschen vorstellen. s<br />

Herzensbrecher<br />

von Xavier Dolan<br />

CA 2010, 95 Min, DF/OmU<br />

Kool Film, www.koolfilm.de<br />

Im Kino ab 7. Juli 2011<br />

Pink Narcissus<br />

von James Bidgood<br />

US 1971, 71 Min, ohne Dialog<br />

Beide <strong>auf</strong> DVD bei der Edition<br />

Salzgeber, www.salzgeber.de<br />

I Killed My Mother<br />

von Xavier Dolan<br />

CA 2009, 100 Min, DF/OmU<br />

Auf DVD bei Kool Film,<br />

www.koolfilm.de<br />

Im Spiegel des Sommers<br />

von Étienne Desrosiers<br />

CA 2006, 14 Min, OmU<br />

erschienen <strong>auf</strong> „Junge Helden“

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