Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
profil<br />
halleluja, die gibt’s noch!<br />
von chriStine Wunnicke<br />
Literatur, DVDs und schwullesbischen Schnickschnack kann man ja überall bestellen, auch von zu Hause aus. Aber wer sich als<br />
MünchenerIn oder München-TouristIn die Gelegenheit entgehen lässt, in den schätzungeweise 27 Ecken des Buchladens „Max<br />
& Milian“ <strong>auf</strong> Entdeckungsreise zu gehen, hat wirklich etwas verpasst. natürlich stößt man dort auch <strong>auf</strong> die so ganz eigenen<br />
romane von Christine Wunnicke, die ihrem Lieblingsladen in der SISSY ein ganz wunderbares Porträt widmet; einer – wenn auch<br />
in zeiten der Amazonen gefährdeten – Münchner Institution.<br />
Miriam Leitner und Jan Kowalczyk in einer von siebenundzwanzig Ecken ihres Buchladens.<br />
PrIVAT<br />
s Ich wohne seit siebzehn Jahren siebzig<br />
Schritte vom Buchladen entfernt. (Für mich<br />
ist er schlicht „der Buchladen“, weil er in<br />
meinem Leben die absolute Buchladenshoheit<br />
hat; außerdem habe ich damals, als ich<br />
neu war, natürlich die Standardfrage gestellt,<br />
welcher von den beiden Herren denn nun der<br />
Max sei und welcher der Milian, und dieser<br />
Mangel an Abstraktionsfähigkeit ist mir<br />
noch heute peinlich.)<br />
Der Laden ist 1989 von Jan Kowalczyk<br />
und Rolf Klaiber gegründet worden, zweimal<br />
umgezogen (die erste Vermieterin in Schwabing<br />
kündigte nach einem Aha-Erlebnis dem<br />
„Schweineladen“ schon am Tag der Eröffnung)<br />
und seit 1994 in der Ickstattstraße. Er<br />
ist Herz und Nabel des Viertels und die linke<br />
Gehirnhälfte der Szene. Er ist kompakt und<br />
stabil. Er überlebt Amazon, er überlebt den<br />
ameisenartigen Zuzug gebärfreudiger junger<br />
Familien ins Glockenbachviertel, er überlebt<br />
auch den für mich noch immer unentschuldbaren<br />
Abmarsch des Gründungsvaters<br />
Klaiber in den Schwarzwald, und wenn die<br />
Welt verpufft, wird man gelassen aus der Tür<br />
schauen und das Verpuffte mit Regenbogengirlanden<br />
verzieren, wie man es sonst mit<br />
Baugerüsten tut. (Apropos Weltuntergang:<br />
Ich werde nie vergessen, wie im August 1999<br />
kurz nach der totalen Sonnenfinsternis ein<br />
schwerer Bayer in Tracht aus dem Laden<br />
kam und voller Erleichterung hervorstieß:<br />
Christine Wunnicke ist Autorin und Übersetzerin. Ihr Romandebüt<br />
war „Fortescues Fabrik“ (München 1998). Zuletzt erschienen „Serenity“<br />
(Berlin 2008, Tukan-Preis) und die Novelle „Nagasaki, ca. 1642“<br />
(Zürich 2010). Sie lebt und arbeitet in München.<br />
„Halleluja, die gibt’s noch!“, bevor er seine<br />
Pappsonnenbrille zerknautschte. Das ist bis<br />
heute mein liebster Max-und-Milian-Satz<br />
geblieben.)<br />
Der Buchladen ist wie die Tasche von<br />
Mary Poppins, außen klein, innen bodenlos.<br />
Ich weiß nicht, wie viele Ecken er hat,<br />
mindestens siebenundzwanzig. In fast allen<br />
kann man sitzen und bleiben. Es gibt Bücher,<br />
Filme, Musik, schwul, lesbisch, queer, quer<br />
und anders. Es gibt die wunderlichsten Postkarten<br />
der Republik, liebevoll handverlesen,<br />
und zwar ungefähr eine halbe Million.<br />
Es gibt alle drei Nummern der englischen<br />
Zeitschrift „Meat“, Auflage 100, signiert,<br />
mit beigelegtem Gimmick, und die Ausgabe<br />
des Briefwechsels von Donald Windham<br />
und Tennessee Williams von 1976, weil es ja<br />
schließlich viel zu einfach wäre, nur Windhams<br />
deutsche <strong>Neu</strong>erscheinungen zu verk<strong>auf</strong>en.<br />
Lange gab es eine wandernde Riesenschneekugel<br />
mit Kaiserin Sissi darin, die<br />
dann abwanderte, wie auch die weihnachtlichen<br />
Keks-Attrappen mit Ejakulatdekor, die<br />
ich echt nicht vermisse. In einer der vielen<br />
Ecken liegt ein goldenes Prinzessinnen-<br />
Krönchen. „Erstaunlich viele Kunden setzen<br />
das <strong>auf</strong>“, sagt Jan, „das scheint ein Bedürfnis<br />
zu sein.“<br />
Bedürfnisse sind hier wichtig. Oft entdeckt<br />
man welche, die man vorher nie ahnte,<br />
findet ein Buch, das das Leben verändert,<br />
Fortescues Fabrik<br />
Roman, 444 Seiten, Knaus<br />
1998/btb 2000,<br />
www.randomhouse.de/btb<br />
oder Sextipps von Edith Schröder aus <strong>Neu</strong>kölln.<br />
Sie werden staunen, womit Sie den<br />
Laden verlassen, wenn Sie nur schnell „Tipping<br />
the Velvet“ k<strong>auf</strong>en wollten oder Alain<br />
Claude Sulzer. Und man betütelt keinen<br />
(außer vielleicht mit altrosa Eink<strong>auf</strong>snetzen,<br />
die von irgendetwas der Restbestand<br />
sind). Und man verbreitet nicht dauernd<br />
gute Laune. Dafür liebe ich den Laden wahrscheinlich<br />
am meisten. Empfiehlt Miriam<br />
Leitner einen Roman, in dem ein deprimierender<br />
Loser sein Leben in Selbstmordphantasien<br />
verdämmert, wird sie die Tatsachen<br />
gewiss nicht marketingstrategisch umhäkeln.<br />
Ich wünschte, Miriam gäbe Seminare<br />
zum Thema Klappentext. Sie ist erst seit drei<br />
Jahren hier und bringt frischen Wind in die<br />
Firma – weiblich, post-gay, jung.<br />
Meine Manieren im Umgang mit dem<br />
Buchladen haben über die Jahre ein wenig<br />
die Fasson verloren. Wären nicht diese siebzig<br />
Schritte im Freien, ich käme längst im<br />
Nachthemd. Ich stürze dort hinein mit meinen<br />
großen und kleinen Lebensfragen, als<br />
gäbe es keine Kundschaft, die verborgen in<br />
den siebenundzwanzig Ecken nistet, und<br />
mache mich zum Affen, oder zur Marketingstrategie.<br />
Wenn jemand fragt „Wer war<br />
denn das?“, sagt Jan „Das war die Christine<br />
Wunnicke“, und verk<strong>auf</strong>t ihm schnell ein<br />
Buch von mir, solange er noch am Wundern<br />
ist. Halleluja! s<br />
Serenity<br />
Roman, 240 Seiten, Osburg<br />
Verlag 2000,<br />
www.osburg-verlag.de<br />
Nagasaki, ca. 1642<br />
Novelle, 112 Seiten, Edition<br />
Epoca 2010, www.epoca.ch<br />
44 45<br />
profil