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film-flirt<br />
der moment<br />
SchriftSteller Sehen filme: Simon froehling<br />
Sein romandebüt „Lange nächte Tag“ war 2010 eine kleine<br />
Sensation <strong>auf</strong> dem Buchmarkt. Vorher war der australischschweizerische<br />
Doppelstaatsbürger und Wahl-züricher Simon<br />
Froehling schon als Autor preisgekrönter Theaterstücke bekannt<br />
geworden. Für die SISSY und für André Téchinés Film „Wilde<br />
Herzen“ hat er für einen Moment seine Angst, über Filme zu<br />
schreiben, besiegt.<br />
s Ich schreibe nicht gerne über Filme. Es ist das Jahr 1997, und ich<br />
soll für mein Nebenfach eine Arbeit über Rainer Werner Fassbinder<br />
verfassen. 15.000 Wörter. Ich studiere an der University of Queensland<br />
in Australien, wohin ich mit achtzehn aus der mittelständischen<br />
Schweizer Enge und vor meinem Coming-Out geflüchtet war.<br />
In Brisbane behaupte ich eine studentische Bohème, die beinhaltet,<br />
in Groß-WGs unten am Fluss zu wohnen, Fächer wie Filmwissenschaften<br />
zu belegen und vehement für oder gegen etwas zu sein –<br />
sowie jeden Freitagabend ins Schonell Theatre zu gehen, damals das<br />
einzige Kino der Stadt, das europäische Autorenfilme zeigt.<br />
Als ich Wilde Herzen (Les Roseaux Sauvages) von André Téchiné<br />
zum ersten Mal sehe, im Beisein meiner Bezugsgruppe, beherrsche<br />
ich mich. Aber in der Matinee am folgenden Tag heule ich<br />
ohne Scham los. Ich weiß, dass ich mich sowohl in den Bauernsohn<br />
Serge, verkörpert vom göttlichen Stéphane Rideau, als auch<br />
in den Bücherwurm François, gespielt vom engelhaften Gaël Morel,<br />
verliebt habe, will aber mit jeder Faser meines Seins der Ideologin<br />
Maïté verfallen sein – den Brüsten, den Lippen, der hohen Stirn von<br />
Elodie Bouchez.<br />
Schnitt ins Jahr 2011. Wochenlang klicke ich mich <strong>auf</strong> meinem Laptop<br />
durch die Nachrichten zu den Aufständen in Nordafrika und dem<br />
Nahen Osten: Tunesien, Ägypten, wo ich nach meiner Australienzeit<br />
eine Weile lang lebte, Algerien … Gerade als die Protestwelle Syrien<br />
erreicht, verbringen mein Freund und ich ein verlängertes Wochenende<br />
im malerischen Appenzellerland. Les Roseaux Sauvages sei der<br />
erste schwule Film, den ich je sah, sage ich, als ich die DVD spätabends<br />
ins L<strong>auf</strong>werk ebendieses Laptops schiebe. Ich erschrecke<br />
noch im Sprechen ob der Behauptung, ein einziger Film hätte meine<br />
persönliche sexuelle Revolution ausgelöst. Meine Liebe zum französischen<br />
Kino ja, aber –<br />
SCrEEnSHoT<br />
Was in meiner Erinnerung hängen geblieben war: Serge und François<br />
beim gemeinsamen Masturbieren; Serge und François beim Herumtollen<br />
<strong>auf</strong> den Ufersteinen der Garonne, ihre nassen weißen Unterhosen<br />
an ihren Lenden klebend; François, wie er sich während einer<br />
Motorradfahrt an Serges Rücken schmiegt; das erotische Knistern,<br />
das auch von Maïté ausgeht; der Wunsch, die beiden Jungs mögen<br />
sich finden; das Schmutzgefühl darüber, dem Mädchen ihr eigenes<br />
Glück – sprich ihre Liebe zu François – nicht gönnen zu wollen.<br />
Schnitt in den Sommer des Jahres 1962. Der von Frankreich <strong>auf</strong><br />
äußerst grausame Weise geführte Unabhängigkeitskrieg Algeriens<br />
geht seinem Ende zu. François, Serge und Maïté bereiten sich <strong>auf</strong>s<br />
Abitur vor und ringen mit ihren sexuellen und schulischen Problemen<br />
sowie der komplexen politischen Situation. In der Anlage also<br />
ein klassischer Coming-of-Age-Film. Auftritt Henri, ein <strong>auf</strong>sässiger<br />
Algerienfranzose, dessen Vater im Gefecht gestorben ist, und der<br />
alle angelegten Konflikte zwischen den Figuren zu verschärfen weiß<br />
– und den ich komplett ausgeblendet hatte. Wie auch die Kriegsgeschichte.<br />
Also doch eine politische Allegorie? Eine Charakterstudie von<br />
vier Individuen, gefangen in einem Liebesviereck? Eine Ode an die<br />
Freundschaft?<br />
André Téchiné drehte die ursprüngliche, einstündige Version<br />
für eine „Arte“-Reihe, nachdem der Sender verschiedene Regisseure<br />
gebeten hatte, Filme über die Zeit ihrer Jugend einzureichen.<br />
Die Zeitschrift „Film-Dienst“ feierte die Kinoversion von 1993, die<br />
mit einer Vielzahl der französischen Filmpreise César ausgezeichnet<br />
wurde, als ein „autobiografisch-authentisches Zeit-, Milieu- und<br />
Generationenporträt, das sich jeder Sentimentalität enthält“.<br />
Mich selber hatte Les Roseaux Sauvages bei der ersten Sichtung<br />
überfordert, bei der zweiten erschüttert und beim dritten Mal<br />
verstand ich ihn unter anderem als eindrückliche Hintergrundgeschichte<br />
für die gegenwärtigen arabischen Aufstände – Nachwehen<br />
der europäischen Kolonialgeschichte.<br />
Vielleicht sträube ich mich dagegen, diesen eindringlichen, intensiven<br />
und vielschichtigen (sowie gleichzeitig erfolgreichsten) Film<br />
von Téchiné zu sezieren und in Schubladen zu pressen, weil die herausragenden<br />
Kunstwerke jene sind, in denen man ein Leben lang<br />
immer wieder etwas <strong>Neu</strong>es sehen kann.<br />
Weshalb ich die Arbeit zu Fassbinder damals nicht gepackt habe,<br />
kann ich mir bis heute nicht wirklich erklären. Mein Nebenfach<br />
schloss ich in jenem Semester <strong>auf</strong> jeden Fall nicht ab. Aber meine<br />
Angst, über Filme zu schreiben, soll mit diesem Text als überwunden<br />
gelten. Danke SISSY. s<br />
Les Roseaux Sauvages<br />
von André Téchiné<br />
FR 1994, 110 Min, OF<br />
Auf DVD als Import<br />
Lange Nächte Tag<br />
von Simon Froehling<br />
Roman, 196 Seiten, Bilgerverlag 2010,<br />
www.bilgerverlag.ch<br />
<strong>Neu</strong> <strong>auf</strong> <strong>dvd</strong><br />
von paul SchulZ (paSch), maike SchultZ (mS), manuel Schubert (Schub), chriStoph meyrinG (cm) und Jan künemund (Jk)<br />
BEAUTIFUL THING<br />
UK 1996, regie: Hettie MacDonald, Edition Salzgeber<br />
Jamie und Ste, zwei Nachbarjungs<br />
aus einer englischen<br />
Hochhaussiedlung,<br />
verlieben sich und werden<br />
zu den Hauptfiguren<br />
eines der schönsten Coming-Out-Filme<br />
aller<br />
Zeiten. „Zuvor aber noch<br />
dieses unvergessliche<br />
Schlussbild, mit dem sich Beautiful Thing in<br />
die Filmgeschichte einschreibt. ‚Komm, tanz<br />
mit mir‘, sagt Jamie nach all dem durchlittenen<br />
Kummer mit der Selbstannahme, und als<br />
sein Liebster im Hof vor aller Augen der Aufforderung<br />
folgt, betreten wir das Reich Utopia,<br />
ohne das niemand wirklich menschenwürdig<br />
leben kann. Dieses Schlussbild ist ein<br />
großes Gleichnis. Wer davon nicht berührt<br />
wird, dem hat sein Leben noch keinen Mut abverlangt,<br />
zum Beispiel den Mut, draußen die<br />
Hand des anderen nicht loszulassen, oder den<br />
Mut, sich zu küssen, <strong>auf</strong> einer belebten Straße<br />
und bitte nicht bloß zu Karneval. Selbst wer<br />
die Verfolgung des Andersartigen in der Ära<br />
Westerwelle & Wowereit für überwunden erklärt,<br />
weil ihm das Opfer-Gebarme unsexy<br />
scheint, wird still für sich einsehen, wie zielsicher<br />
diese einfache Szene der beiden eng umarmt<br />
tanzenden Jungs in das Herz unserer<br />
gemeinsamen Erfahrung vordringt. Denn die<br />
Kinder sind, noch immer, in Gefahr.“ (Michael<br />
Sollorz in SISSY 4/10)<br />
ICH KANN NICHT SCHLAFEN<br />
Fr 1993, regie: Claire Denis, Edition Salzgeber<br />
„Hauptfigur ist ein schwuler<br />
Serienkiller, das war<br />
Mitte der 90er, als man<br />
die positiven, identitätsstiftenden<br />
Szenebilder<br />
satt hatte, durchaus nicht<br />
selten. Doch wie diese Figur<br />
eingewebt ist in eine<br />
Stadt und wie sie darin<br />
zum Tanzen gebracht wird, ist nach wie vor<br />
ziemlich einzigartig. Erotisch sind die Filme<br />
von Claire Denis immer, weil sie an den Körpern<br />
hängen und sich mitbewegen. Zum einzigen<br />
Mal bislang zeigt sie hier dezidiert schwule<br />
Erotik – obwohl sie auch einen der schönsten<br />
Filme über einen pubertierenden Jungen (Nénette<br />
et Bonie) und den vielleicht schärfsten<br />
Film über eine Männergruppe (Beau Travail)<br />
gedreht hat. Das Schwulsein in Ich kann nicht<br />
schlafen hat eine metaphorische Ebene (es passt<br />
zur urbanen Fremdheit, zur Außenseiterstudie,<br />
zum Thema der ‚gelösten Verbindungen‘ zu<br />
Heimat, Kultur, Familie) – aber auch eine konkrete,<br />
körperliche. Es erzählt den ausgestellten<br />
männlichen Körper, schutzlos und gewalttätig<br />
zugleich, objekthaft und narzisstisch mit sich<br />
selbst beschäftigt, begehrt und fremd.“ (Jan<br />
Künemund in SISSY 1/11)<br />
THE KIdS ArE ALL rIGHT<br />
US 2010, regie: Lisa Cholodenko, Universal<br />
Jede lesbische Frau, die<br />
einmal Mutter werden<br />
will, muss sich irgendwann<br />
die Frage aller Fragen<br />
stellen: Woher nur<br />
nehme ich die Spermien?<br />
Und später dann: Was sage<br />
ich meinem Kind? Wie<br />
stark die <strong>Neu</strong>gier <strong>auf</strong> den<br />
Vater werden kann, bekommen auch Nic (Annette<br />
Bening) und Jules (Julianne Moore) zu<br />
spüren, als ihre Sprösslinge Joni und Laser eines<br />
Tages beschließen, ihren Erzeuger kennen<br />
lernen zu wollen. Kurzerhand rufen sie bei der<br />
Samenbank an und plötzlich gibt es da IHN:<br />
Paul (Mark Ruffalo), Motorradfahrer, alternativer<br />
Restaurantbetreiber und notorischer Frauenheld.<br />
Die Ergebnisse seiner Samenspende<br />
schließt er sofort ins Herz. Und als wäre der<br />
plötzliche Familienzuwachs nicht kompliziert<br />
genug, sucht Paul auch noch einen Designer für<br />
seinen Garten – ein Job, der für die frisch gebackene<br />
Landschaftsarchitektin Jules wie gerufen<br />
kommt. Ja, auch sein Bett lernt sie im L<strong>auf</strong>e<br />
der Handlung zur Genüge kennen. Und doch ist<br />
Lisa Cholodenkos Komödie The Kids Are All<br />
Right (man beachte das schöne Wortspiel) alles<br />
andere als eine Lesbe-wird-Hete-Geschichte.<br />
Die Schöpferin des Arthouse-Klassikers High<br />
Art erzählt vielmehr herzerfrischend davon,<br />
wie das Leben nun einmal so spielt: Inklusive<br />
jener vielfältigen Spielarten von Sexualität, wie<br />
sie eine grandiose Ich-erkläre-meinen-Kindern-warum-wir-schwule-Pornos-gucken-<br />
Szene von Annette Bening <strong>auf</strong> den Punkt bringt.<br />
Ansonsten sind die Probleme, die Kontrollfreak<br />
Nic und ihre nach Selbstverwirklichung gie-<br />
rende Hausfrauengattin so haben, normaler<br />
Beziehungsalltag. So charmant normal, dass<br />
Cholodenko mit ihrer Hollywood-Komödie den<br />
Sprung in den Mainstream geschafft hat: Sogar<br />
für den Oscar war der Teddy-Preisträger The<br />
Kids Are All Right nominiert. Zu Recht. ms<br />
THE BOYS OF ST. VINCENT<br />
frisch ausgepackt<br />
CA 1992/93, regie: John n. Smith, Pro-Fun Media<br />
In St. Vincent, einem katholischen<br />
Waisenhaus<br />
für Knaben im kanadischen<br />
<strong>Neu</strong>fundland,<br />
herrscht ein noch rauheres<br />
Klima als in der umgebenden<br />
Natur. Denn jeder<br />
noch so kleine Fehltritt<br />
der Zöglinge wird von den<br />
Glaubensbrüdern mit grausamen Züchtigungen<br />
geahndet. Das ist aber nicht alles. Noch viel<br />
schlimmer nämlich als die Schläge <strong>auf</strong> die zarten<br />
Körper wirken sich die sexuellen Übergriffe<br />
der pervertierten Seelsorger <strong>auf</strong> die Seelen<br />
der Kinder aus. Darunter hat vor allem der kleine<br />
Kevin Reevey zu leiden, der häufig noch spät<br />
abends in das Büro des diabolischen Anstaltsleiters<br />
Pater Lavin gerufen wird. Von dem, was<br />
dort hinter der schweren Eichentür vor sich<br />
geht, ahnt nur der freundliche Hausmeister etwas.<br />
Die polizeilichen Ermittlungen, die <strong>auf</strong><br />
seine Veranlassung hin ein engagierter Kommissar<br />
einleitet, werden jedoch wegen des massiven<br />
Drucks der kirchlichen Obrigkeit und ihr<br />
ergebener Lokalpolitiker rasch wieder eingestellt<br />
– und Lavin wird lediglich versetzt. Erst<br />
15 Jahre später muss er sich – inzwischen aus<br />
dem Kirchendienst ausgeschieden und selbst<br />
Familienvater – für seine Untaten vor Gericht<br />
verantworten. Dabei verfolgt er – bar jeden<br />
Schuldbewusstseins – die perfide Strategie, seine<br />
ehemaligen Schutzbefohlenen im Zeugenstand<br />
einzuschüchtern und von seinem Anwalt<br />
verunglimpfen zu lassen. Als eines der Opfer<br />
sich im Zuge dessen das Leben nimmt, muss<br />
sich der im Erwachsenenalter immer noch von<br />
Albträumen geplagte Kevin überlegen, ob er<br />
seinen Entschluss, nicht im Verfahren auszusagen,<br />
wirklich verantworten kann …<br />
John N. Smiths zweiteilige kanadische TV-<br />
Produktion aus dem Jahr 1992/93, die nun als<br />
deutsche Synchronfassung in Form einer Doppel-DVD<br />
vorliegt, erlaubt sich keinen Bruch mit<br />
konventioneller Fernsehfilmästhetik und -dra-<br />
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