Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>dvd</strong> <strong>dvd</strong><br />
balaNce<br />
<strong>auf</strong><br />
kIPPeNdem<br />
gRuNd<br />
von michael eckhardt<br />
Gedanken zum Kino von Sébastien Lifshitz anlässlich der DVD-<br />
Veröffentlichung seines Debütfilms „offene Herzen“ („Les<br />
Corps ouverts“).<br />
s Nein, mit dem ganz großen Erfolg wird es wohl nie klappen. Dabei<br />
gehören die Werke des Filmemachers Sébastien Lifshitz zu den besten<br />
des jüngeren europäischen Kinos. Dennoch werden sie von einer<br />
fast verschwindend geringen Minorität überhaupt wahrgenommen.<br />
Zumindest in Deutschland blieb dem Regisseur, Jahrgang 1968, die<br />
große Gefolgschaft aus; einzig sein Film Sommer wie Winter … (Presque<br />
Rien) ließ sich immerhin an 25.000 Zuschauer vermitteln. Das<br />
liegt zehn Jahre zurück, danach drehte Lifshitz den Dokumentarfilm<br />
La Traversée, der gar nicht in den deutschen Kinos lief oder als<br />
DVD erschien, und seinen vielleicht beeindruckendsten Film Wild<br />
Side (2004) sahen gerade mal knapp 400 Leute in den Kinos, trotz<br />
Teddy-Awards <strong>auf</strong> der Berlinale, trotz Gast<strong>auf</strong>tritt von Antony and<br />
the Johnsons, obwohl von geradezu poetischer Qualität. Denn genau<br />
die zeichnet Lifshitz’ Filme aus.<br />
Das Kino eines Sébastien Lifshitz stellt hohe Ansprüche. An sich<br />
selbst, an die Entwicklung seiner Protagonisten, an ein <strong>auf</strong>geschlossenes<br />
Publikum. Lifshitz hat sein Thema gefunden: Meist geht es um<br />
Entwurzelung, das Finden einer Balance, das Klarkommen in instabilen<br />
Familien, Partnerschaften oder Lebensabschnitten. Und instabil<br />
ist in der Phase der Adoleszenz an sich alles: schulisch, beruflich,<br />
persönlich, sexuell. Und so ist die Hauptfigur in Offene Herzen, dem<br />
nun <strong>auf</strong> DVD erscheinenden Erstling von Sébastien Lifshitz, eine wie<br />
viele spätere in seinen Filmen: ein Suchender. Rémi, 18, nordafrikanischer<br />
Abstammung, empfindet Langeweile. Auf dem Gymnasium,<br />
beim Gelegenheitsjob, in der dunklen Wohnung. Da kommt das Casting<br />
bei Marc, dem Regisseur, gerade richtig. Hier kann Rémi kurz<br />
entfliehen: der Monotonie seines Lebens, dem kranken Vater, den er<br />
zwar <strong>auf</strong>richtig liebt, dessen Versehrtheit ihn aber sehr fordert. Beim<br />
Schauspiel zeigt Rémi Talent, da verschwindet kurz die Perspektivlo-<br />
EDITIon SALzGEBEr<br />
sigkeit als ständiger Begleiter. Und der Junge taucht ein<br />
in ganz neue Erfahrungen, auch sexueller Art. Mit Marc<br />
wird er schlafen, dann wieder mit Frauen, und dar<strong>auf</strong>hin<br />
trotzdem neue Männer kennenlernen. Die Straßen von<br />
Paris sind nun sein Spielplatz …<br />
Es ist im Gegensatz zu Sommer wie Winter … oder<br />
Plein Sud, Lifshitz’ bisher letzter Arbeit, nicht nur durch<br />
das nächtliche Paris ein recht düsterer Film geworden.<br />
Weil auch seine Hauptfigur, der die Zuneigung ihres<br />
Schöpfers sicher ist, trotz seiner Jugend abgründiger<br />
angelegt ist: Rémi findet sich in Pornokinos wieder, er<br />
wird die Schule schwänzen, dem eifersüchtigen Marc aus<br />
dem Weg gehen, nach dem nächsten schnellen schwulen<br />
Fick wieder am Esstisch beim sterbenskranken Vater sitzen.<br />
Da irritiert und rührt es an, wenn der ihm mit großer<br />
Zärtlichkeit den Kopf streichelt. Rémi schließlich ist reifer,<br />
aber noch lange nicht angekommen.<br />
Dieses Thema des Ausprobierens, des Suchens, des<br />
Mäanderns, des Bewusstwerdens seiner Herkunft, seiner<br />
Zugehörigkeit – das ist Lifshitz’ Thema. Auch in Wild<br />
Side ist es das.<br />
Und auch hier gab es das poetische Moment, das über<br />
den klaglosen Neorealismus, den das Kino des Franzosen<br />
auszeichnet, schwebt. Hier dient zur Ouvertüre das vibrierende<br />
Falsett von Antony Hegarty, um von einer leidenschaftlichen<br />
Liebe zu einem toten Jungen zu singen.<br />
Dieser Performance wohnt auch die schöne Transsexuelle<br />
Stéphanie bei. Sie verdingt sich als Nutte, lebt mit einem<br />
Russen und dem Stricher Djamel. Eine Art Ersatzfamilie,<br />
die richtige verlor sie in einer Zeit, als sie es endgültig <strong>auf</strong>gab,<br />
Pierre zu sein. Doch sie kehrt noch einmal zu ihren<br />
Wurzeln zurück, da ihre Mutter im Sterben liegt. Auch<br />
hier bestechen die Echtheit atmenden Bilder, das Beobachten<br />
von Außenseitern, das Erzählen vom Zurechtkommen<br />
und der Sehnsucht nach Akzeptanz. Wenn auch<br />
nicht ganz so eindringlich wie bei Sommer wie Winter …<br />
gelang Lifshitz ein einfühlendes Porträt ungewöhnlicher<br />
Leben. In klug fotografierten Bildern, in geschickt montierten<br />
Rückblenden steht Lifshitz für eine Intensität,<br />
die im Kino selten ist. Das löst sein erfolgreichster und<br />
sicherlich auch bester Film eindrucksvoll ein: In Sommer<br />
wie Winter … dachte Mathieu, es sei die Liebe seines<br />
Lebens. Den attraktiven Cédric lernte er während eines<br />
Sommerurlaubs an den endlosen Stränden der Bretagne<br />
kennen. Durch die leidenschaftliche Beziehung fühlte<br />
sich der introvertierte Junge stark genug, sein Coming-<br />
Out zu leben. Im dar<strong>auf</strong>folgenden Winter trennen sich<br />
die beiden, ohne wirklich zu wissen warum. Jetzt geht es<br />
Mathieu richtig scheiße. Er versucht sich umzubringen …<br />
Und hier zeigt sich Lifshitz’ Talent im Schaffen einer<br />
geradezu fühlbaren Authentizität am besten. Ohne die<br />
realitätsfremde Schweinchenrosatüncherei der üblichen<br />
schwulen, meist komödiantischen Luftsprünge erzählt<br />
der Regisseur von der Schwierigkeit, Balance zu halten,<br />
wenn der Boden kippt. Das Ausleben des Hochgefühls und<br />
das verletzte Insichkehren sind ihm weitaus wichtiger,<br />
als durch endlose Dialoge die erste Liebe zu zerquasseln.<br />
Sprachliche Reduktion steht auch für den Erstling Offene<br />
Herzen, es geht ums Suchen und Probieren. Auch wenn<br />
für Rémi das Coming-Out nicht das alleinige Thema ist.<br />
Er ist aber jetzt jemand, der begehrt und begehrt wird,<br />
der Liebe und Zuneigung sucht und zumindest Spielarten<br />
der Liebe und der Körperlichkeit findet. Und mit<br />
dem Verlust des Vaters, mit dem drohenden Zerbrechen<br />
der Familie, gibt es durchaus eine Parallele zu Lifshitz’<br />
letztem Film Plein Sud, wenn auch hier Integration nicht<br />
das Thema und Coming-Out nur das einer Nebenfigur<br />
ist: Plein Sud ist ein faszinierender Mix aus Roadmovie,<br />
Familiendrama und Liebesfilm. Sam musste als Kind<br />
ansehen, wie sich sein Vater beim Streit mit der Mutter<br />
im Auto eine Kugel in den Kopf jagte. Fortan erleben sein<br />
jüngerer Bruder und er, wie Maman zu trinken anfängt<br />
und geradezu schizophren wird. Die Waffe des Vaters hat<br />
Sam behalten, hat sie im Gepäck, als er mit den Trampern<br />
(und Geschwistern) Lea und Mathieu in Richtung Meer<br />
fährt. Mathieu verliebt sich in Sam, dem aber fällt es<br />
schwer, Gefühle zuzulassen. Es gibt wie in Sommer wie<br />
Winter … lichtstarke Szenen am Strand, die Hauptfiguren<br />
sind allesamt hübsch anzusehen, die Nacktszenen sind<br />
wild-romantisch und natürlich, und Lifshitz entflicht<br />
seine Konflikte in gewohnter Subtilität. Und trotz der<br />
krassen Kindheitsgeschichte, des schwierigen Kampfes<br />
ums Liebenkönnen und Liebenlassen kriegt der Film<br />
gerade zum Ende hin etwas Besänftigendes. Vielleicht,<br />
weil er schlussendlich einfach über die Möglichkeit von<br />
Vergebung räsoniert. Plein Sud bleibt ein wenig rätselhaft,<br />
das ist durchaus gewollt so.<br />
Das ist aber ohnehin eine Eigenart des queeren französischen<br />
Films, dieses Aussparen, Lückenlassen – im<br />
Fragmentarischen liegt eben jene unleugbare Poesie. Es<br />
bleibt Deutungsraum. Das tut gut. Darin begründet sich<br />
aber auch die eher zögerliche Aufnahme durch das Publikum.<br />
Man mag es wohl eindeutiger. Ein Erfolgsfilmer<br />
wie François Ozon ist da klarer, wenn auch bei ihm dieses<br />
Augenzwinkern, das Überzeichnen und Pathetische<br />
Methode haben. Ozons Filme oder die seines spanischen<br />
Kollegen Almodóvar sind breiter angelegt. Vielleicht auch,<br />
weil sie emotionaler und dramatisierender sind und meist<br />
von Frauen erzählen. Das tut Lifshitz nicht. Er erzählt<br />
von Männern und auch ein wenig von sich. In Offene Herzen<br />
taugt dafür auch ein Auftritt Lifshitz’ als Sébastien,<br />
der mit Rémi anonymen Sex im Pornokino hat.<br />
Das Zurückbleiben, die Orientierungslosigkeit, die<br />
Einsamkeit sind bei Lifshitz wiederkehrende Motive:<br />
Mathieu wird allein sein, die Transe Stéphanie nach<br />
dem Tod der Mutter letztendlich auch und ebenso Rémi.<br />
Das Leben als Glücksthese interessiert Lif shitz nicht.<br />
Er strebt nicht nach einem Echtheitszertifikat, sondern<br />
erzählt einfach das, was ihn bewegt. Dadurch sind seine<br />
Geschichten „echt“, dadurch wirkt auch Offene Herzen<br />
bisweilen dokumentarisch. Doch um diese Lebensnähe<br />
<strong>auf</strong> Zelluloid zu bannen, braucht es auch die passenden<br />
Gesichter. Deswegen arbeitete Sébastien Lifshitz mit dem<br />
jungenhaften und dennoch virilen Yasmine Belmadi auch<br />
nach Offene Herzen mehrfach zusammen. Dies waren<br />
durch das Charisma Belmadis in starker Erinnerung bleibende<br />
Rollen. Auf ihn wird Sébastien Lifshitz und das<br />
Kino leider verzichten müssen, da er vor zwei Jahren bei<br />
einem blödsinnigen Mopedunfall mit gerade 33 Jahren<br />
verunglückte. Als er sich in voller Fahrt eine Zigarette<br />
anzündete, kam er von der Straße ab und krachte an eine<br />
Laterne. Wenn man das weiß, denkt man sofort an Rémi.<br />
Was weniger mit sentimentalem Kitsch zu tun hat, eher<br />
mit dieser anrührenden, verletzbaren Figur. s<br />
Offene Herzen<br />
von Sébastien Lifshitz<br />
DE 2010, 105 Min, OmU<br />
Auf DVD bei der Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Sommer wie Winter …<br />
von Sébastien Lifshitz<br />
DE 2010, 100 Min, OmU<br />
Auf DVD bei der Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Plein Süd –<br />
Auf dem Weg nach Süden<br />
von Sébastien Lifshitz<br />
DE 2010, 87 Min, OmU<br />
Auf DVD bei der Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Wild Side<br />
von Sébastien Lifshitz<br />
FR/BE 2004, 91 Min, OmU<br />
Auf DVD bei Pro-Fun Media,<br />
www.pro-fun.de<br />
32 33