12.11.2012 Aufrufe

Neu auf DVD! - Sissy

Neu auf DVD! - Sissy

Neu auf DVD! - Sissy

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

wir verreisen<br />

„Hors le murs“ von David Lambert (2012)<br />

es regnet <strong>auf</strong><br />

unsere Liebe<br />

von JAn küneMund<br />

Vorschau <strong>auf</strong> kommende Attraktionen: Streifzüge durch das queere programm der<br />

internationalen Wasserfestspiele von Cannes.<br />

FiLMS BOutiQue<br />

s Regen in Cannes. Stilettos versinken in vollgesogenen roten Teppichen.<br />

Straßenhändler verlangen 30 Euro für Regenschirme, die nur<br />

einen Schauer lang halten. Wichtige Filmbranchenvertreter betreten<br />

mit Mülltüten <strong>auf</strong> dem Kopf das Carlton. Im großen Leichtbau-Aufsatz-Kino<br />

<strong>auf</strong> dem Dach des Festivalpalastes läuft gerade die Premiere<br />

von Sébastien Lifshitz’ Dokumentarfilm Les Invisibles (Wettbewerb,<br />

außer Konkurrenz), in dem bezaubernde alte Schwule und<br />

Lesben von den Stürmen erzählen, die über ihr bewegtes, offen homosexuelles<br />

Leben hinweggefegt sind – während draußen Wind <strong>auf</strong><br />

das Kino prallt, Notausgangtüren <strong>auf</strong>bläht, die Tonspur überdeckt<br />

und den sonst geübt ins sichere Schwarz eines Kinos Flüchtenden<br />

sich angreifbar und ausgesetzt fühlen lässt. In Xavier Dolans neuem<br />

Exzess Laurence Anyways (Un Certain Regard) werden handgreifliche<br />

Bilder für Überwältigungen, ein Wasserfall beispielsweise, der<br />

sich – mitten im Wohnzimmer – über eine von ihren Emotionen fortgespülte<br />

Frau ergießt, gleich mitgeliefert. In De rouilles et d’os (Wettbewerb)<br />

schließlich wird die elfenhafte Marion Cotillard von einem<br />

Wal entzweigeteilt und durch den dauererigierten Drive des Wunderkörperschauspielers<br />

Matthias Schoenaerts wieder heile gemacht.<br />

Der verwehte Zuschauer wird von Bildern mitgerissen, in denen sich<br />

buchstäblich alles überstürzt.<br />

Wie fragil ein Menschenleben ist, wie augenschlagskurz das<br />

Glück, wie vergänglich das Verliebtsein, wie zerbrechlich die Normalität,<br />

wie zart ein Körper, das brach alles als Komplex banger<br />

Fragen des queeren Filmprogramms der stürmischen Filmfestspiele<br />

von Cannes und seiner Marktvorführungen über einen herein, wenn<br />

man sich dem äußeren Sturm und den inneren Angriffen auszusetzen<br />

traute. Wie naturgemäß schwankend die Temperaturen der Filme<br />

selbst auch ausfielen, ausruhen, fallen lassen in abgesicherte Identitätserzählungen<br />

konnte man sich nie.<br />

Zu bösartig und abgrundtief verständnislos reagiert die Umwelt<br />

<strong>auf</strong> die Geschlechtstransformation von Laurence, die Cannes-Darling<br />

Dolan drei Stunden lang in eruptiven hysterischen Anfällen durchexerziert.<br />

Um die Entscheidung geht es, die in einer Autowaschanlage<br />

der verstörten Freundin präsentiert wird, und einen Weg zurück gibt<br />

es danach nicht mehr. Wird die Beziehung halten, das ist die Frage,<br />

wird das nonkonforme, punkige, hübsche, junge Paar zusammenbleiben,<br />

wenn sich die Körper und die inneren Koordinaten ändern, wenn<br />

man plötzlich gemeinsam aus der Welt fällt und die eigene dagegen<br />

noch gar nicht entworfen hat. Dolans oberflächliche und doch so<br />

gefährdete Bilder werden nie zum Schutzraum für seine Geschichte,<br />

keine zweite Haut für den makellosen Jungen, der zur Frau mit Makel<br />

wird. Melvil Poupaud, der glatteste unter den schönen jungen französischen<br />

Schauspielern, ist in seiner plötzlichen Angreifbarkeit kaum<br />

auszuhalten. Der Film kommt nicht von der Stelle, wächst <strong>auf</strong> dieser<br />

Stelle aber über sich hinaus. Wieder liegt ihm ein narzisstisches<br />

Begehren als greller Fixpunkt zugrunde, doch findet er in der Figur<br />

der Frau, die sich leidenschaftlich an ihm abarbeitet, einen grandiosen<br />

Widerspruch.<br />

Ein ganz anderes Paar versinkt in Hors le murs (Semaine de la<br />

Critique) im Strudel seiner Unmöglichkeit. Iliar, Bassist und Kellner,<br />

Post-Coming-Out-Posterboy, legt sich einen betrunkenen Kneipengast<br />

ins Bett, der sich ab sofort mit (porzellanheller) Haut und (blonden)<br />

Haaren kompromisslos an ihn hängt. Paulo ist ein Irrlicht, ständig<br />

<strong>auf</strong> der Suche nach Menschen, die sich um ihn kümmern, doch in<br />

dieser Suche so klar und entschieden, dass Maß und Realismus keine<br />

Größen mehr für ihn darstellen. Wie Matila Malliarakis das spielt,<br />

hat man noch nicht gesehen, ein Strich in der Landschaft, der für das,<br />

was er will, durch Wände zu gehen gewohnt ist und plötzlich damit<br />

klarkommen muss, dass manche Wände ihm standhalten. Was als<br />

charmante Liebesgeschichte anfängt, die für alle Standards (erster<br />

Kuss, erster Sex, erster Zweifel) tatsächlich neue Bilder findet, erhält<br />

in der zweiten Hälfte einen furchtbar traurigen Sog, der dennoch<br />

ganz aus der schönen Eigensinnigkeit der Figuren entwickelt wird.<br />

Aufgewühlt lässt man sich danach vom warmen Regen <strong>auf</strong> der Croisette<br />

weiter <strong>auf</strong>weichen.<br />

Lauter Liebes-Zerreißproben auch in den versteckten Vorführungen<br />

der noch nicht öffentlich präsentierbaren Filme. Da können<br />

zum Beispiel ein israelischer Anwalt und ein palästinensischer Student<br />

einfach nicht ankommen gegen Homophobie, Polizeigewalt,<br />

Erpressung, Mütter, Grenzen, Strukturen. Eine Liebe <strong>auf</strong> den ersten<br />

Blick, eine Beziehung mit letzter Kraft. Woanders hat Eytan Fox seine<br />

Geschichte von Yossi weitererzählt, der sich einst in den Soldaten<br />

Jagger verliebte und diesen durch eine Mine verlor, seitdem in Traurigkeit<br />

versunken, dick, ängstlich, lebensunlustig geworden ist – bis<br />

er einen findet, der diesen Panzer (vielleicht) zu durchbrechen vermag.<br />

Es gibt eine Brokeback-Mountain-Szene darin: wie Yossi zufällig<br />

Jaggers Mutter trifft, sich an deren Wohnzimmertisch setzt, nicht<br />

anders kann als die Liebe zu ihrem toten Sohn zuzugeben, diesen<br />

damit posthum zu outen und alle in seinen Traurigkeitsstrudel mitzureißen<br />

– bis Jaggers Vater die Initiative ergreift und Yossi in Jaggers<br />

unberührtes Jugendzimmer lässt, als stilles Zeichen des Mitgefühls.<br />

Ganz woanders, in einem Film, der noch gar nicht fertig ist, wird<br />

die Liebe zweier kubanischer Jungs schlicht und einfach dadurch<br />

erdrückt werden, dass sie kaum was zu essen haben, die Bedürfnisse<br />

ihrer Familien, ihrer Frauen und ihrer Freier befriedigen müssen und<br />

gar keine Möglichkeiten haben, ihren eigenen nachzugehen. Was <strong>auf</strong><br />

Soap-Niveau erzählt wird, aber zwischendurch eine ungeheure Komplexität<br />

erreicht, in der er diese beiden zerbrechlichen Jungs handlungsunfähig<br />

macht, ohne ihnen seine Liebe zu entziehen.<br />

Und dann gab es da noch im windstillen Raum eines kleinen<br />

Innenstadt-Kinos die Komödie eines lebensunfähigen schwulen<br />

Wirrkopfs, der zu allem Überfluss von traurigen Geistern heimgesucht<br />

wird. Die Geschichte liegt so schief wie ihr Held, aber es kommen<br />

immer wieder Bilder an die Oberfläche, die man vor lauter Verrücktheit<br />

gar nicht an die stürmische Luft lassen möchte. Ein riesiger<br />

Keller voller alternder Transsexueller, die an Nähmaschine sitzen<br />

und über das geheime Wissen der Stadt verfügen, zum Beispiel.<br />

Dass man am Ende in einem Film landet, der in einem Hotel spielt,<br />

an dem ein Hochwasser tragender Mekong vorbeifließt, scheint geradezu<br />

zwangsläufig zu sein. Der Regisseur Apichatpong Weerasethakul<br />

instruiert einen Gitarristen zu einer langen Probe melancholischer<br />

Folksongs, schlägt seinem Lieblingsschauspieler vor, das sexy<br />

Disco-Shirt und die Jeans mit der großen Schrittwölbung für den<br />

Film (Mekong Hotel, Wettbewerb, außer Konkurrenz) anzuziehen,<br />

lässt in einer Dreiergeschichte dann einen Eingeweide fressenden<br />

Geist die Menschenkörper wechseln und entlässt uns am Ende mit<br />

einem Ballett mehrerer Wasserscooter, die den großen schnellen<br />

Fluss im Sonnenuntergang vermessen. Spätestens hier ist man so<br />

hypnotisiert, dass man willenlos in den Fluss springen und sich heraustreiben<br />

lassen möchte aus dem durchnässten Chichi des Festivals.<br />

Wer am Ende die „Queer Palm“, den queeren Filmpreis des Festivals,<br />

gewonnen hat, stand zu Redaktionsschluss noch nicht fest. s<br />

34 35<br />

wir verreisen

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!