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Neu auf DVD! - Sissy

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kino<br />

WiR Sind<br />

Kein<br />

PRoduKT<br />

von JAn küneMund<br />

Zwei jungs fahren nach paris, gehen in einen Club und verl<strong>auf</strong>en<br />

sich im Wald. Was sie an Zurückweisungen, Desillusionierungen<br />

und Faustschlägen erfahren, wird durch den Zauber der<br />

Filmsprache <strong>auf</strong>gehoben. Hélèna Klotzs magisches Spielfilmdebüt<br />

„Atomic Age“ schafft ihren jugendlichen Helden einen<br />

poetischen Freiraum für große Gesten und große Worte und<br />

grenzt sich damit selbst vom handelsüblichen Coming-of-Age-<br />

Film ab. im Kino ab 18. August.<br />

atomic age<br />

von Héléna Klotz<br />

FR 2011, 70 Minuten, französische OF<br />

mit deutschen UT<br />

Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />

Im Kino<br />

ab 16. August 2012<br />

s Songs. An einem kalten und grauen Morgen in Chicago wird ein<br />

armes Baby geboren und die Mutter denkt: nicht noch eins. In the<br />

Ghetto. As the snow falls … singt Victor <strong>auf</strong> der Zugfahrt nach Paris,<br />

beim Vorglühen mit Wodka Red Bull und seinem Freund Rainer.<br />

Aber eigentlich hört er gerade die Stone Roses. Diese Band aus Manchester,<br />

aus einer Zeit, als er noch lange nicht geboren war. Kindheit<br />

und Jugend im urbanen Zusammenhang, ob in Chicago, Manchester<br />

oder Paris – dieses Thema ist schnell gesetzt in diesem schnellen<br />

Film.<br />

groß und klein. Zum ersten Mal taucht der Eiffelturm <strong>auf</strong>, ein unwirkliches<br />

Bild am Nachthimmel, weit weg. Ein großes Zeichen für eine<br />

kleine Geschichte, zumal <strong>auf</strong> der Tonspur ein amerikanischer Präsident<br />

(Reagan? Bush Sr.?) gerade ungläubig davon erzählt, dass man in<br />

der UdSSR zehn Jahre lang <strong>auf</strong> ein Auto warten musste. Aus diesen<br />

Andeutungen großer Gesten bahnt sich die unglaublich tolle Kamera<br />

von Hélène Louvart (Pina, Im Alter von Ellen) im Gefolge von Victor<br />

und Rainer ihren Weg in die bunte Höhle eines Pariser Clubs und<br />

filmt das Tanzlicht wie einen Eiffelturm. Reflexe von Stroboskopblitzen<br />

<strong>auf</strong> verschwitzter jugendlicher Haut, in kunstvoll verwuschelten<br />

Haaren von Mädchen und Jungs, einige schauen, andere haben die<br />

Augen geschlossenen, die Kamera blinzelt ins Licht, der Ton geht<br />

von der Tanzfläche ab und mischt im Off Dialoge und Musik. Zum<br />

ersten Mal blitzt Victor bei einem Mädchen ab. Er weiß, dass sie ihn<br />

will, aber sie redet nicht mit ihm, also existiert er nicht. Kompliziert.<br />

Erstes Krisengespräch der beiden Jungs. Victor, der <strong>auf</strong>brausende<br />

Schönling, der in unbeobachteten Momenten noch ein Kind ist, geht<br />

<strong>auf</strong> Konfrontation mit der Welt. Rainer, der Fremde, Introvertierte,<br />

Orts- und Elternlose, die „Schwuchtel“ (wie ihn jeder sofort etikettiert)<br />

zieht sich zurück, lernt im Einschlafen Gedichte und macht sich<br />

dadurch seine Träume selbst. Am Anfang, noch im Zug, schenkt er<br />

Victor seinen Schal und streicht ihm über’s Haar.<br />

abgrenzungen. Für Rainer ist der Sänger der Stone Roses ein Affe und<br />

der Junge, der ihn <strong>auf</strong> der Tanzfläche anmacht, hat einen Fischblick.<br />

– Wor<strong>auf</strong> stehst du? – Jedenfalls nicht <strong>auf</strong> dich. Alle anderen haben<br />

scheiß Klamotten an, alle dieselben. Alle Mädchen wollen Jennifer<br />

oder Loana heißen, bloß nicht Rose, ein schöner & altmodischer Name.<br />

Doch so klar das Urteil über „die anderen“ ist – die beiden Jungs kommen<br />

doch nicht an sie heran. Und was sie selbst sind, wissen sie nicht<br />

und wollen sie nicht wissen, Hauptsache, die innere Leere geht weg,<br />

etwas passiert oder etwas wird besser. Victor blitzt ein zweites Mal<br />

ab, er sagt: „Du bist schön“, das Mädchen antwortet: „Warum?“ Rainer<br />

möchte ein schwuler Matrose sein und niemals das Schiff verlassen,<br />

vielleicht doch lieber nicht schwul, aber <strong>auf</strong> jeden Fall Matrose.<br />

Die Kamera erfasst diese tanzenden Ich-Rätsel in ausgeschnittenen<br />

Porträts vor beweglichen Lichtern, am Ende vervielfältigen sich die<br />

Gesichter in Kaleidoskopen. Sie folgt Victor und Rainer raus aus dem<br />

Club, in die schwarze Pariser Nacht.<br />

Sprache und fäuste. Auftritt Theo, gespielt von Niels Schneider, dem<br />

„Herzensbrecher“ aus Xavier Dolans gleichnamigem Film. Eine<br />

Szene wie aus einem Koltès-Stück, brutal, großkotzig, verzweifelt<br />

und verletzend. Theo und Victor zünden sich Zigaretten an und liefern<br />

sich einen Kampf, erst mit Worten, dann mit Fäusten. Wer hat’s<br />

raus, wer ist cooler, wer trifft den anderen am empfindlichsten. Theo<br />

protzt mit Auto und Check, Victor verleumdet ihn als „Produkt“: der<br />

gleiche Haarschnitt, die gleichen Klamotten, die gleichen Träume, die<br />

gleichen Bauchmuskeln wie alle, zum Gebrauch und anschließendem<br />

Wegwurf, wenn du kein Parfüm <strong>auf</strong>legst, stinkst du nach Scheiße. Die<br />

Traurigkeit über sich wird zum Hass <strong>auf</strong> andere, der schöne Schal,<br />

das Geschenk von Rainer, geht dabei dr<strong>auf</strong>. Diese Szene dauert ewig,<br />

ein rasender Stillstand. Orientierungslos, handlungsunfähig scheinen<br />

Jungs und Kamera, kein Mätzchen à la Dolan, kein Rollen-Posing,<br />

kein Sehnsuchtsbilderklau aus der umliegenden Filmgeschichte. Atomic<br />

Age traut zwei unsicheren Jungs große Worte zu, große Bilder,<br />

große Blicke. „Hohle Pseudo-Philosophie“, stöhnte da das Auf-dem-<br />

Teppich-Bleiber-Feuilleton. Dabei ist die Sprache das einzige, was<br />

Victor und Rainer zur Verfügung haben <strong>auf</strong> ihrem Drift durch die<br />

Nacht. Die Dinge existieren nicht, wenn man nicht darüber spricht<br />

(Victor). Bei Rainer sind das Träume oder Gedichte, er redet von toten<br />

Soldaten, die vom Gras gewiegt werden, von Selbstmördern, die sich<br />

in die Seine stürzen, dann aber von dort bis nach Afrika schwimmen,<br />

von der einzig wahren Amour Fou, die sich zwischen Wind, Sternen,<br />

Totems und Zauberern enthüllt. Der Eiffelturm scheint wieder <strong>auf</strong>,<br />

sein Scheinwerferlicht wird vom Nebel verschluckt.<br />

Kernspaltung. In der blauen Stunde nehmen die beiden eine Abkürzung<br />

zu Victor nach Hause, wo aus Ideen endlich Körper werden<br />

dürfen. Da kommt der Film allerdings nie an. Die Abkürzung führt<br />

schnurstracks und märchengemäß durch einen Zauberwald, in dem<br />

Käuze rufen, Bäche plätschern und Bäume rascheln. Der Stadt sollten<br />

die Lichter ausgehen, wünscht sich Rainer. Und endlich können sich<br />

zwei Menschen sagen, dass sie sich lieben, sich beruhigen und einschlafen.<br />

Nach der ersten Kernspaltung war für die Menschen alles<br />

anders. Seitdem befindet man sich im Atomzeitalter und weiß nicht,<br />

wann es wieder <strong>auf</strong>hört.<br />

atomic age ist ein eigenwilliger Film, intim und großspurig, formlos<br />

und konsequent zugleich. Er nimmt seine Protagonisten ernst und ist<br />

entschieden in sie verliebt, enthebt sie aber gleichzeitig einer scharf<br />

konturierten Welt. Die poetische Nachtstimmung, die mitatmende<br />

Kamera und der knisternde Soundtrack liegen wie ein melancholischer<br />

Hauch über der kleinen Geschichte, in der es eigentlich um<br />

Jugendliche geht, bei denen noch gar nichts passiert ist. Die bewusstseinsverändernde<br />

Filmsprache er innert an Werner Schroeter, der ja<br />

zuletzt auch nur noch entrückte Nächte verfilmt hat. Gleichzeitig will<br />

dieser Film mehr, er will ein Statement sein gegen die Logik hübsch<br />

<strong>auf</strong>gelöster Coming-of-Age-Geschichten, mag seine Jugendlichen<br />

nicht ambitionslos, angepasst, unpolitisch oder rebellisch finden,<br />

sondern spielt die Flucht in die Hipster-Unverbindlichkeiten (kein<br />

Produkt sein, kein Labelträger, kein User) als traurige Rettungsmaßnahme<br />

vor der drohenden Bewegungslosigkeit zurück. Die Poesie des<br />

Films ist mitfühlend: Sie ist als Freiraum für Sprache, Identitäten und<br />

Körper gedacht. Und wenn das auch nur heißen sollte, dass sie sich<br />

für einen kurzen Moment verl<strong>auf</strong>en dürfen. s<br />

20 21<br />

kino<br />

pRO-FuN MeDiA (2)

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