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kino kino<br />
Es bleibt beim einsamen Vorglühen für ihre behauptete Geburtstagsfeier<br />
mit ein paar Freunden. Wenig später liegt Miss Kicki, so<br />
heißt die Dame, schlafend-trunken <strong>auf</strong> ihrem klappbaren Zweisitzer.<br />
Man spürt es bereits, und man erfährt es kurz dar<strong>auf</strong>: Sie<br />
hat hier keine Freunde, ist ziemlich allein, war wohl lange weg.<br />
Am nächsten Tag bleiben nur das Wegräumen der Weinpulle, das<br />
Zusammendrücken der Pizzaschachtel, das Putzen der Herdplatten.<br />
Doch dann kommt Leben in die Bude: Kickis Mutter taucht <strong>auf</strong>,<br />
kurzer Austausch von einigen sanften Gemeinheiten, dann ist Viktor<br />
da. Etwas schüchtern, linkisch, sympathisch verloren und mit<br />
ein paar Geschenken. Die zwei singen Kicki ein wenig hölzern ein<br />
Geburtstagsständchen, dann nimmt die Mutter ihre Tochter kurz<br />
zur Seite. Man sieht, wie Kicki sich windet, wie schwer es ihr fällt,<br />
und fragt sich, was ist da eigentlich geschehen? Doch Håkon Liu mit<br />
seinem beeindruckenden Gespür für filmische Syntax verrät nichts<br />
zu früh, Kicki erfüllt ihrer Mutter den Wunsch und lädt Viktor zu<br />
einer gemeinsamen Reise ein. Zum Kennenlernen, Anvertrauen,<br />
Beschnuppern. Eine Woche nach Taipeh. Kicki hat die Anschrift von<br />
Chang dabei, ihrem Chatflirt.<br />
Natürlich hat man so seine Ahnung, die Blicke, die ungelenken,<br />
von scheuer Liebe geprägten Umarmungen verraten es, doch Håkon<br />
Liu als Freund der Ellipse löst seine Aussparungen fristgerecht <strong>auf</strong>.<br />
Kicki war sehr lange im Ausland, bei ihrer Mutter ließ sie den vierjährigen<br />
Viktor zurück – ihren Sohn. Das Wissen darum stellt Kicki<br />
in ein differenziertes Licht. Warum tut eine Frau, eine Mutter so<br />
etwas? Um darüber mehr zu erfahren, gibt es eben Filme wie diesen,<br />
die einen an die Hand nehmen, in dem Fall in ein fernes Land führen,<br />
um Seelen zu entblättern, in einer Sorgfalt, wie es allenfalls großen<br />
Romanciers zuzutrauen wäre.<br />
In einer Absteige kommen Kicki und Viktor unter, „very cheap!“,<br />
versichert der umtriebige Betreiber. Es ist schön, welch einfache Mit-<br />
tel greifen, um die <strong>Neu</strong>gier <strong>auf</strong>einander, die Scheu voreinander, die<br />
Angst umeinander zu bebildern – die dünnen Zimmerwände, durch<br />
die liebevolle und noch etwas unsichere Gutenacht-Rufe kriechen.<br />
Der nächste Tag bringt eine Trennung – Viktor erkundet die Stadt,<br />
Kicki sucht das Büro von Chang <strong>auf</strong>. Hier entstehen nun Parallelgeschichten:<br />
Der Junge verläuft sich, trifft <strong>auf</strong> den hilfsbereiten Didi,<br />
auch er im Teen-Alter. Viktor misstraut der Hilfe des Taiwanesen –<br />
ein gebranntes Kind. Doch Didi kann er vertrauen, man sieht es an<br />
dessen Augen. Er nimmt ihn mit in seine Bude, kocht ihm Nudeln,<br />
zeigt ihm das Meer, Viktor bringt ihm dafür Schwedisch bei. Dann<br />
gibt es da immer wieder diese merkwürdig-eindeutigen Blicke zwischen<br />
den beiden.<br />
Kicki hingegen wagt nicht den letzten Schritt, sie beobachtet<br />
Chang nur aus der Ferne. Sie braucht sicher einen zweiten Anl<strong>auf</strong>.<br />
Dass sie damit Viktor unverblümt brüskiert, ihm regelrecht wehtut,<br />
indem sie abends vorschlägt, am nächsten Tag wieder getrennte<br />
Wege zu gehen, passt zu ihrem auch egoistischen Wesen. Kicki ist ein<br />
großes Kind, das um Aufmerksamkeit buhlt, das Zärtlichkeit braucht,<br />
selbst wenn es die nur im Suff mit dem durchaus sympathischen<br />
Hotelbetreiber gibt. Der hat übrigens Kickis Wesen ganz gut erkannt:<br />
„Sad inside, happy outside!“ Er tickt wohl ganz ähnlich. Viktor enttarnt<br />
die Pläne seiner Mutter, er fühlt sich instrumentalisiert, ist verletzt<br />
und richtig sauer. Kicki kriegt von Chang eine Abfuhr, die ihr<br />
zusetzt, die sie aber auch für ihre mädchenhafte Naivität und ihren<br />
mütterlichen Egoismus abstraft. Chang gibt ihr Geld, mit der Bitte,<br />
ihn nie wieder zu kontaktieren. Diskret im Schutzumschlag vor den<br />
Augen seiner Frau und Kinder … Life sucks!<br />
Hier nun explodiert der Film förmlich zu einer ganz großen Ballade<br />
über zerbrochenes Vertrauen, verletzte Seelen und diese ewig<br />
pochende Sehnsucht. Da scheut sich Håkon Liu auch nicht vor der<br />
ungebremsten Symbolik aus einsamen Hotelzimmern, dem dazu pas-<br />
senden Platzregen und den richtigen Songs. Doch das Leben geht weiter, und so fahren die<br />
beiden mit Didi kurz dar<strong>auf</strong> an den Sun Moon Lake. Håkon Liu weigert sich auch hier, dem<br />
Märchenhaften seiner Geschichte <strong>auf</strong> den Leim zu gehen. So lässt er Viktor im Boot ein wenig<br />
träumen, Didi streichelt ihm in diesem sehr schönen Moment zärtlich den Bauch, nur um ihm<br />
kurz dar<strong>auf</strong> zu sagen, dass es da trotzdem ein ganz nettes Mädchen gibt.<br />
Miss Kicki entpuppt sich als herzzerreißende Parabel über das Glück in seiner ganzen Zerbrechlichkeit.<br />
Ohne Pilcher-Anstrich wird davon erzählt, wie schwer es zu finden und wie<br />
viel schwerer es zu halten ist. Vom Ponyhof wagte sich Viktor ohnehin nicht zu träumen, da<br />
ist er schon Realist genug, aber die eigene Insel mit Didi als Präsident, die hätte doch drin sein<br />
dürfen!<br />
Es ist Liu hoch anzurechnen, dass er sich nicht für die Blaupause einer Schmonzette entschied,<br />
denn wie kann es anders sein, als dass es richtig kracht, wenn sich eben Mutter und<br />
Sohn, dieses untrennbare Gestirn, neu begegnen, nach so langer Zeit, nach so vielen unterschiedlichen<br />
Erfahrungen und dennoch im richtigen Moment, als beider Leben neue Fahrt<br />
braucht und richtig Fahrt gewinnt. Und auch wenn Kicki manchmal ein großes Kind, eine<br />
ziemliche Bitch gar ist, sie weiß genau, was mit ihrem Sohn gerade passiert, was mit ihm und<br />
Didi geschieht. Das ist so angenehm selbstverständlich und ohne all das sattgehörte Outing-<br />
Gedöns erzählt. Und auch Didi ist keineswegs nur Randfigur. Seine Geschichte ist zentral,<br />
sie schwebt über dem zerbrechlichen Glück von Viktor und Kicki, denn er hat seine Mama<br />
früh verloren. Der Vater trinkt und spielt. Es gibt ihn eigentlich gar nicht. Das ist auch eine<br />
Parallele zu Viktors Leben. Damit wird Miss Kicki fast nebenher auch zu einem Film über<br />
die Absenz, das Versagen der heutigen Väter. Das hier zu vertiefen, führte zu weit, nur das<br />
gehört jetzt noch hierhin: Miss Kicki ist atemberaubend gespielt. Von allen! Ludwig Palmell<br />
spielt als Viktor seine erste große Kinorolle. In dieser Mischung aus Unsicherheit, Hoffnung,<br />
Verliebtheit und Misstrauen rührt er den Zuschauer an, dieser Blick, dieses Hände-in-den-<br />
Taschen, diese vorgeschobene Oberlippe – perfekt. Der junge Huang He River hält da gut mit<br />
– da reicht ein Blick aus den auch von Kicki als schön erkannten Augen, die Didis zerrissenen<br />
Familienhintergrund bestens illustrieren! Und dann natürlich Pernilla August! Eine große,<br />
die bisher vielleicht größte Pernilla August. Unvergleichbar, wie uneitel, wie kämpferisch,<br />
wie selbstvergessen sie die sture, die ängstliche, die liebeshungrige und über Umwege zu<br />
echter Mutterliebe fähige Kicki spielt. Man könnt beim Schreiben schon wieder heulen. s<br />
BARNSteiNeR FiLM (2)<br />
Miss Kicki<br />
von Håkon Liu<br />
SE/TW 2009, 85 Minuten,<br />
Originalfassung mit deutschen UT<br />
Barnsteiner Film,<br />
www.barnsteiner-film.de<br />
Im Kino<br />
ab 26. Juli 2012<br />
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