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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 97<br />

englischen Dichter sehr lange für die aufgeblasene Rhetorik und die kühle Gelecktheit<br />

schwärmte, die zu einer tief unter Shakespeares naturhafter Kunst stehenden Entwicklungsstufe<br />

der Dichtung gehörten. Dasselbe spielte und spielt sich immer noch auf allen Gebieten<br />

des geistigen Lebens ab. Bei uns zum Beispiel hält die überwiegende Mehrheit der Dichter<br />

und des Publikums auch weiter-[242]hin Puschkin für den besten Repräsentanten der russischen<br />

Dichtung, obwohl die Zeiten Puschkins längst vorüber sind. In Deutschland war zur<br />

Zeit Kants immer noch die Wolffsche Scholastik herrschend, und die Philosophie Kants kam<br />

zur Herrschaft, als die Wissenschaft in der transzendentalen Philosophie die Kantsche Phase<br />

ihrer Entwicklung bereits weit hinter sich gelassen hatte; die Mehrheit der Gelehrten und des<br />

gebildeten Publikums huldigt in Deutschland jetzt den Auffassungen der transzendentalen<br />

Philosophie, wo die Wissenschaft doch längst diese ihre frühere Entwicklungsform abgelegt<br />

hat. <strong>Zur</strong>ückbleiben ist das ewige Los der Mehrheit.<br />

So war es bisher; so ist es auch jetzt; daraus darf man jedoch nicht den Schluß ziehen, daß es<br />

in alle Ewigkeit so bleiben wird. Kehren wir zu unserem ersten Vergleich zurück. Nur ein<br />

kleiner Teil des ursprünglichen Bestands einer Armee ist fähig, während eines schnellen Vormarsches<br />

nicht hinter den Fahnen zurückzubleiben, nur er allein nimmt an den Schlachten teil<br />

und vollzieht Eroberungen; die zurückgebliebenen einstigen Kameraden dieser Krieger liegen<br />

in Spitalern oder schleppen sich ausgemergelt weit hinten nach. Aber diese Zersplitterung hat<br />

doch mal ein Ende. Mit Hilfe des kleinen Teils des ursprünglichen riesigen Heeres ist der<br />

Kampf entschieden, ist die Eroberung durchgeführt, sind die Feinde unterworfen, und die Sieger<br />

ruhen aus; und nun kommen Tag für Tag, um die Früchte des Sieges mit ihnen zu teilen,<br />

die hintennach gebliebenen Massen zu ihnen. Am Ende des Feldzuges hat sich die ganze Armee<br />

wieder um die Fahnen geschart, wie es zu Beginn des Feldzuges der Fall war. So muß<br />

auch die geistige Bewegung enden: die eroberte Wahrheit erweist sich als so einfach, für jedermann<br />

verständlich und den Anforderungen der Masse entsprechend, daß es viel leichter ist,<br />

sie zu übernehmen, als mit ihrer Neuentdeckung Zeit zu verlieren. Die Übergangsstufen sind<br />

immer schwierig, die einseitigen Erscheinungsformen der Wahrheit schwer faßbar, aber mit<br />

der vollen Wahrheit ist es anders: selbst die Schwachen sind stark genug, um sie in sich aufzunehmen,<br />

wenn sie erst einmal entdeckt ist. Wir sehen, wie die Theorie jeder Wissen-<br />

[243]schaft im Maße ihrer Vervollkommnung einfacher wird. Hier spielt sich etwas Ähnliches<br />

ab wie dort, wo die Dichtung der gebildeten Stände es zu einer sehr hohen Entwicklung bringt:<br />

diese Dichtung nimmt schließlich Formen an, die für einfache Menschen verständlich sind.<br />

Nur eine zahlenmäßig kleine Klasse von Leuten, die eine sehr mühselige Erziehung erhalten<br />

hatten, kannte und verstand Corneille und Racine. Selbst Rousseau, der für einen zehnmal<br />

weiteren Kreis zugänglich war, blieb für die Mehrheit der lese- und schreibkundigen Masse<br />

unverständlich: als die gebildeten Leute die „Nouvelle Héloïse“ und den „Contrat social“ lasen,<br />

bestand die Lektüre der lese- und schreibkundigen einfachen Leute Frankreichs in billigen<br />

Volksausgaben der entstellten Überreste der mittelalterlichen Literatur. Die Lieder Bérangers<br />

und Pierre Duponts werden aber schon vom gemeinen Volk der französischen Städte gesungen,<br />

das durchweg schon George Sand liest. Gewiß gibt es daneben in Frankreich noch weitere<br />

zwei Drittel lese- und schreibkundige Leute, nämlich die Dorfbewohner, die nicht in diesen<br />

sich schnell erweiternden Kreis einbezogen sind, wo die Auffassungen der fortgeschrittensten<br />

und der ganz einfachen Leute eins werden; gewiß trifft auch zu, daß noch die ganze Hälfte der<br />

Einwohnerschaft Frankreichs nicht lesen und schreiben gelernt hat. Aber wir sehen bereits,<br />

wohin die Entwicklung geht. Man kann sich bereits an den Fingern abzählen, wie viele Jahre<br />

es noch dauern wird, bis jeder Franzose, jede Französin zu lesenden Menschen geworden sind<br />

und jeder Leser seine Bildung nicht mehr aus den üblen Büchern schöpfen wird, mit denen<br />

sich die Mehrheit der französischen Dorfbewohner heute zufrieden gibt, sondern aus den<br />

Werken von erstklassigen Vertretern von Wissenschaft und Dichtung. Das ist eine Entwicklung<br />

auf noch ziemlich lange Sicht, aber ihr Ende läßt sich schon absehen. Selbst bei uns gibt<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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