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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 96 ders begabte Theologen gehen in dieser Umbildung der Tradition so weit, daß ihre Auffassungen von der Mehrheit der anderen Fachleute abgelehnt werden, dafür aber von den Laien der mittleren und unteren Stände jener Gegenden angenommen werden, wo besonders günstige Umstände für die Entwicklung der Massen bestehen. So lösen sich die [240] Albigenser und andere Ketzer aus der katholischen Gemeinschaft heraus. Auch die Wissenschaft nimmt nach und nach eine Form an, die den Massen unbekannt ist, und entwickelt Inhalte, die für Nichtfachleute unverständlich sind. Aus den gemeinsamen Vorstellungen von den Sternbildern entwickelt sich etwas, was der Astronomie nahekommt, und selbst die Astrologie wird zu einem Wissen, das sehr viel umfassender ist als der einfache Volksglauben, aus dem sie hervorgegangen ist. Diese Erfolge beruhen auf den materiellen Mitteln, über die die Geistlichkeit und der Mittelstand verfügen; die Städter nehmen auch an der Hervorbringung einer neuen Dichtung teil, die bereits nicht mehr für das ganze Volk verständlich ist, welches seinerseits bei den alten Märchen und Liedern bleibt: in den städtischen Zünften entstehen Genossenschaften von Meistern des Gesanges, die Meistersinger; noch mehr jedoch wird diese Wandlung durch den Reichtum der Feudalherren gefördert, in deren Gefolge Hofdichter – die Troubadoure – auftreten. Es vergeht noch einige Zeit, und der Abstand zwischen der Masse und den fortgeschrittenen Menschen wird noch größer: was zuerst Ketzerei war, erweist sich für einige weltliche Herrscher als vorteilhaft, und in einigen Ländern werden Lehren als herrschende erklärt, die von der katholischen Tradition abweichen. Zu Beginn des Mittelalters waren alle Landesherren der katholischen Geistlichkeit bei der Verfolgung der Ketzer behilflich; zu Beginn der zweiten Hälfte des Mittelalters treten die Grafen von Toulouse bereits als Beschützer der Albigenser auf, wagen jedoch noch nicht, sich selbst als Albigenser zu bekennen, und sind bald außerstande, die Ketzer und sich selbst gegen die Verfolgungen zu schützen, mit denen ihnen die Menschen der alten Auffassungen nachstellen. Die Hussiten können gegen Ende des Mittelalters den Verfolgungen durch die Katholiken bereits standhalten; hundert Jahre später treten die neuen Auffassungen bereits offiziell an die Stelle des Katholizismus: viele Landesherren ziehen Luther dem Papst vor. Dadurch aber wird der Abstand zwischen den fortgeschrittenen Menschen und den Massen nicht nur in jenen Ländern immer größer, die unter der Sklaverei des Katholizismus verblieben sind, sondern selbst im protestan-[241]tischen Teil Europas: der Enthusiasmus des einfachen Volkes, der der weltlichen Macht die Kraft gab, sich vom Papst loszusagen, wird abgelöst durch die frühere geistige Lethargie, und in den protestantischen Ländern verfällt fast das ganze Volk in eine geistige Routine, die dem Katholizismus sehr ähnlich ist. Dafür stoßen jedoch kleine Teile des Volkes sehr weit vor: aus dem Luthertum entwickeln sich schnell die Wiedertäufer und andere protestantische Sekten. Auch die Mehrzahl der protestantischen Theologen behält den Geist der starren Unbeweglichkeit bei, womit sie es ihren katholischen Konkurrenten gleichtut; einige besonders begabte Leute jedoch, wie zum Beispiel Socinus, entwickeln die Auffassungen, die den Bedürfnissen der progressiven Minderheit der einfachen Leute entsprechen, wissenschaftlich weiter. Ebenso entwickelt sich die weltliche Wissenschaft in den Kreisen der Fachleute mit bemerkenswerter Geschwindigkeit, während die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bis heute überall auf einer Stufe der Ignoranz stehengeblieben ist, die sehr den Zuständen, sagen wir, des 9. und 10. Jahrhunderts ähnelt. Die Dichtung der gebildeten Stände entwickelt sich mit der gleichen Geschwindigkeit, während die Masse überall bei entstellten Fetzen der einstigen allgemeinen Volksdichtungen des Mittelalters verharrt. Das gleiche Verhältnis besteht zwischen der Masse der Fachleute und der gebildeten Stände einerseits und einer kleinen Zahl fortschrittlicher Gelehrter sowie einer unbedeutenden Zahl von Menschen, die deren Auffassungen anzunehmen imstande sind, andererseits. Wir können beobachten, daß sehr wenige englische Dichter des vorigen Jahrhunderts Shakespeare verstanden und daß sehr wenige Menschen des gebildeten Publikums diese Dichter und Shakespeare selbst zu schätzen wußten, während die Mehrheit des englischen Publikums und der OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 97 englischen Dichter sehr lange für die aufgeblasene Rhetorik und die kühle Gelecktheit schwärmte, die zu einer tief unter Shakespeares naturhafter Kunst stehenden Entwicklungsstufe der Dichtung gehörten. Dasselbe spielte und spielt sich immer noch auf allen Gebieten des geistigen Lebens ab. Bei uns zum Beispiel hält die überwiegende Mehrheit der Dichter und des Publikums auch weiter-[242]hin Puschkin für den besten Repräsentanten der russischen Dichtung, obwohl die Zeiten Puschkins längst vorüber sind. In Deutschland war zur Zeit Kants immer noch die Wolffsche Scholastik herrschend, und die Philosophie Kants kam zur Herrschaft, als die Wissenschaft in der transzendentalen Philosophie die Kantsche Phase ihrer Entwicklung bereits weit hinter sich gelassen hatte; die Mehrheit der Gelehrten und des gebildeten Publikums huldigt in Deutschland jetzt den Auffassungen der transzendentalen Philosophie, wo die Wissenschaft doch längst diese ihre frühere Entwicklungsform abgelegt hat. Zurückbleiben ist das ewige Los der Mehrheit. So war es bisher; so ist es auch jetzt; daraus darf man jedoch nicht den Schluß ziehen, daß es in alle Ewigkeit so bleiben wird. Kehren wir zu unserem ersten Vergleich zurück. Nur ein kleiner Teil des ursprünglichen Bestands einer Armee ist fähig, während eines schnellen Vormarsches nicht hinter den Fahnen zurückzubleiben, nur er allein nimmt an den Schlachten teil und vollzieht Eroberungen; die zurückgebliebenen einstigen Kameraden dieser Krieger liegen in Spitalern oder schleppen sich ausgemergelt weit hinten nach. Aber diese Zersplitterung hat doch mal ein Ende. Mit Hilfe des kleinen Teils des ursprünglichen riesigen Heeres ist der Kampf entschieden, ist die Eroberung durchgeführt, sind die Feinde unterworfen, und die Sieger ruhen aus; und nun kommen Tag für Tag, um die Früchte des Sieges mit ihnen zu teilen, die hintennach gebliebenen Massen zu ihnen. Am Ende des Feldzuges hat sich die ganze Armee wieder um die Fahnen geschart, wie es zu Beginn des Feldzuges der Fall war. So muß auch die geistige Bewegung enden: die eroberte Wahrheit erweist sich als so einfach, für jedermann verständlich und den Anforderungen der Masse entsprechend, daß es viel leichter ist, sie zu übernehmen, als mit ihrer Neuentdeckung Zeit zu verlieren. Die Übergangsstufen sind immer schwierig, die einseitigen Erscheinungsformen der Wahrheit schwer faßbar, aber mit der vollen Wahrheit ist es anders: selbst die Schwachen sind stark genug, um sie in sich aufzunehmen, wenn sie erst einmal entdeckt ist. Wir sehen, wie die Theorie jeder Wissen- [243]schaft im Maße ihrer Vervollkommnung einfacher wird. Hier spielt sich etwas Ähnliches ab wie dort, wo die Dichtung der gebildeten Stände es zu einer sehr hohen Entwicklung bringt: diese Dichtung nimmt schließlich Formen an, die für einfache Menschen verständlich sind. Nur eine zahlenmäßig kleine Klasse von Leuten, die eine sehr mühselige Erziehung erhalten hatten, kannte und verstand Corneille und Racine. Selbst Rousseau, der für einen zehnmal weiteren Kreis zugänglich war, blieb für die Mehrheit der lese- und schreibkundigen Masse unverständlich: als die gebildeten Leute die „Nouvelle Héloïse“ und den „Contrat social“ lasen, bestand die Lektüre der lese- und schreibkundigen einfachen Leute Frankreichs in billigen Volksausgaben der entstellten Überreste der mittelalterlichen Literatur. Die Lieder Bérangers und Pierre Duponts werden aber schon vom gemeinen Volk der französischen Städte gesungen, das durchweg schon George Sand liest. Gewiß gibt es daneben in Frankreich noch weitere zwei Drittel lese- und schreibkundige Leute, nämlich die Dorfbewohner, die nicht in diesen sich schnell erweiternden Kreis einbezogen sind, wo die Auffassungen der fortgeschrittensten und der ganz einfachen Leute eins werden; gewiß trifft auch zu, daß noch die ganze Hälfte der Einwohnerschaft Frankreichs nicht lesen und schreiben gelernt hat. Aber wir sehen bereits, wohin die Entwicklung geht. Man kann sich bereits an den Fingern abzählen, wie viele Jahre es noch dauern wird, bis jeder Franzose, jede Französin zu lesenden Menschen geworden sind und jeder Leser seine Bildung nicht mehr aus den üblen Büchern schöpfen wird, mit denen sich die Mehrheit der französischen Dorfbewohner heute zufrieden gibt, sondern aus den Werken von erstklassigen Vertretern von Wissenschaft und Dichtung. Das ist eine Entwicklung auf noch ziemlich lange Sicht, aber ihr Ende läßt sich schon absehen. Selbst bei uns gibt OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 96<br />

ders begabte Theologen gehen in dieser Umbildung der Tradition so weit, daß ihre Auffassungen<br />

von der Mehrheit der anderen Fachleute abgelehnt werden, dafür aber von den Laien<br />

der mittleren und unteren Stände jener Gegenden angenommen werden, wo besonders günstige<br />

Umstände für die Entwicklung der Massen bestehen. So lösen sich die [240] Albigenser<br />

und andere Ketzer aus der katholischen Gemeinschaft heraus. Auch die Wissenschaft nimmt<br />

nach und nach eine Form an, die den Massen unbekannt ist, und entwickelt Inhalte, die für<br />

Nichtfachleute unverständlich sind. Aus den gemeinsamen Vorstellungen von den Sternbildern<br />

entwickelt sich etwas, was der Astronomie nahekommt, und selbst die Astrologie wird<br />

zu einem Wissen, das sehr viel umfassender ist als der einfache Volksglauben, aus dem sie<br />

hervorgegangen ist. Diese Erfolge beruhen auf den materiellen Mitteln, über die die Geistlichkeit<br />

und der Mittelstand verfügen; die Städter nehmen auch an der Hervorbringung einer<br />

neuen Dichtung teil, die bereits nicht mehr für das ganze Volk verständlich ist, welches seinerseits<br />

bei den alten Märchen und Liedern bleibt: in den städtischen Zünften entstehen Genossenschaften<br />

von Meistern des Gesanges, die Meistersinger; noch mehr jedoch wird diese<br />

Wandlung durch den Reichtum der Feudalherren gefördert, in deren Gefolge Hofdichter – die<br />

Troubadoure – auftreten. Es vergeht noch einige Zeit, und der Abstand zwischen der Masse<br />

und den fortgeschrittenen Menschen wird noch größer: was zuerst Ketzerei war, erweist sich<br />

für einige weltliche Herrscher als vorteilhaft, und in einigen Ländern werden Lehren als herrschende<br />

erklärt, die von der katholischen Tradition abweichen. Zu Beginn des Mittelalters<br />

waren alle Landesherren der katholischen Geistlichkeit bei der Verfolgung der Ketzer behilflich;<br />

zu Beginn der zweiten Hälfte des Mittelalters treten die Grafen von Toulouse bereits als<br />

Beschützer der Albigenser auf, wagen jedoch noch nicht, sich selbst als Albigenser zu bekennen,<br />

und sind bald außerstande, die Ketzer und sich selbst gegen die Verfolgungen zu schützen,<br />

mit denen ihnen die Menschen der alten Auffassungen nachstellen. Die Hussiten können<br />

gegen Ende des Mittelalters den Verfolgungen durch die Katholiken bereits standhalten; hundert<br />

Jahre später treten die neuen Auffassungen bereits offiziell an die Stelle des Katholizismus:<br />

viele Landesherren ziehen Luther dem Papst vor. Dadurch aber wird der Abstand zwischen<br />

den fortgeschrittenen Menschen und den Massen nicht nur in jenen Ländern immer<br />

größer, die unter der Sklaverei des Katholizismus verblieben sind, sondern selbst im protestan-[241]tischen<br />

Teil Europas: der Enthusiasmus des einfachen Volkes, der der weltlichen<br />

Macht die Kraft gab, sich vom Papst loszusagen, wird abgelöst durch die frühere geistige<br />

Lethargie, und in den protestantischen Ländern verfällt fast das ganze Volk in eine geistige<br />

Routine, die dem Katholizismus sehr ähnlich ist. Dafür stoßen jedoch kleine Teile des Volkes<br />

sehr weit vor: aus dem Luthertum entwickeln sich schnell die Wiedertäufer und andere protestantische<br />

Sekten. Auch die Mehrzahl der protestantischen Theologen behält den Geist der<br />

starren Unbeweglichkeit bei, womit sie es ihren katholischen Konkurrenten gleichtut; einige<br />

besonders begabte Leute jedoch, wie zum Beispiel Socinus, entwickeln die Auffassungen, die<br />

den Bedürfnissen der progressiven Minderheit der einfachen Leute entsprechen, wissenschaftlich<br />

weiter. Ebenso entwickelt sich die weltliche Wissenschaft in den Kreisen der Fachleute<br />

mit bemerkenswerter Geschwindigkeit, während die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung<br />

bis heute überall auf einer Stufe der Ignoranz stehengeblieben ist, die sehr den Zuständen,<br />

sagen wir, des 9. und 10. Jahrhunderts ähnelt. Die Dichtung der gebildeten Stände<br />

entwickelt sich mit der gleichen Geschwindigkeit, während die Masse überall bei entstellten<br />

Fetzen der einstigen allgemeinen Volksdichtungen des Mittelalters verharrt.<br />

Das gleiche Verhältnis besteht zwischen der Masse der Fachleute und der gebildeten Stände<br />

einerseits und einer kleinen Zahl fortschrittlicher Gelehrter sowie einer unbedeutenden Zahl<br />

von Menschen, die deren Auffassungen anzunehmen imstande sind, andererseits. Wir können<br />

beobachten, daß sehr wenige englische Dichter des vorigen Jahrhunderts Shakespeare verstanden<br />

und daß sehr wenige Menschen des gebildeten Publikums diese Dichter und Shakespeare<br />

selbst zu schätzen wußten, während die Mehrheit des englischen Publikums und der<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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