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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 95<br />

DIE ALLMÄHLICHE ENTWICKLUNG<br />

DER ANTIKEN PHILOSOPHIE<br />

IM ZUSAMMENHANG MIT DER ENTWICKLUNG<br />

DES HEIDNISCHEN GLAUBENS<br />

VON OR. NOWIZKI. ERSTER TEIL.<br />

RELIGION UND PHILOSOPHIE DES ALTEN ORIENTS,<br />

KIEW, UNI VERSITÄTSDRUCKEREI, 1860 1<br />

Eine der unvermeidlichen Begleiterscheinungen großer Feldzüge sind die Mengen der <strong>Zur</strong>ückbleibenden,<br />

deren Zahl in dem Maße wächst, wie die Armee mit dem Generalstab immer<br />

weiter und weiter vorrückt. Bei schnellen Angriffshandlungen kommt es dahin, daß die<br />

Mehrzahl der Soldaten weit hinten zurückbleibt. Zahlenmäßig übersteigen diese Mengen bei<br />

weitem jenen Teil des Heeres, der unter den Fahnen marschiert; aber sie nehmen nicht im<br />

geringsten mehr an den Schlachten teil und sind nur eine Bürde für ihre einstigen Kameraden,<br />

auf deren Schultern die ganze Last des Kampfes liegt, denen allein dafür aber auch der Ruhm<br />

zufällt. Das gleiche spielt sich bei der geistigen Bewegung der Menschheit zur Erringung der<br />

Wahrheit ab. Anfänglich schreiten alle Völker in einer Reihe. Die Vorfahren des Aristoteles<br />

haben einst im gleichen Zustand gelebt wie heute noch die Hottentotten und hatten die gleichen<br />

Begriffe. Aber dann beschleunigt sich die geistige Bewegung bei einigen Stämmen, und<br />

die große Mehrzahl des Menschengeschlechts bleibt hinter ihnen zurück. Die Griechen, wie<br />

Homer sie uns beschreibt, sind schon weit hinaus über die Troglodyten, Lästrygonen und die<br />

anderen Stämme, von denen Ilias und Odyssee als von kläglichen Wilden sprechen, deren<br />

Grausamkeit aus der äußersten geistigen und materiellen Armut entspringt. Noch einige<br />

Übergänge, und die Mehrzahl dieser selben Griechen bleibt hinter den weiter [239] vorgeschrittenen<br />

Stämmen zurück. <strong>Zur</strong> Zeit Solons waren die Athener bereits um vieles über den<br />

Zustand hinaus, in dem sie sich zu Zeiten Homers befanden, während die Spartaner fast keinen<br />

Schritt vorwärtsgekommen und die anderen Stämme überhaupt stehengeblieben waren.<br />

Noch ein paar Übergänge, und im Innern der athenischen Stämme wiederholt sich die gleiche<br />

Erscheinung: die Weisheit Solons war noch für jeden Bürger Athens leicht zu verstehen,<br />

während Sokrates dagegen der Mehrheit seiner Landsleute bereits als Freigeist erscheint: nur<br />

wenige verstehen ihn, die übrigen verurteilen ihn ruhigen Gewissens als Gottlosen zu Tode.<br />

Das gleiche spielt sich in der neueren Geschichte ab. Es beginnt damit, daß die gesamte Menschenmasse,<br />

die die Provinzen des einstigen Weströmischen Reichs bewohnt und aus einer<br />

Mischung von germanischen Eroberern und einstigen römischen Untertanen besteht, noch<br />

dieselben Anschauungen hat: sie sind alle gleichermaßen Katholiken und haben alle, vom<br />

Höchsten bis zum Niedrigsten, die gleiche Auffassung vom Katholizismus: der Papst unterscheidet<br />

sich im 7. oder 8. Jahrhundert von dem allerungebildetsten französischen oder irischen<br />

Dorfbewohner lediglich dadurch, daß er mehr Texte und Gebete auswendig weiß, nicht<br />

aber dadurch, daß er ihren Sinn anders versteht. Die Wissenschaft hat die Form von Sprüchen<br />

oder Volkssagen, die alle Menschen aller Stände gleich gut kennen; die Dichtung besteht in<br />

Volksliedern, die jedermann gleich bekannt und vertraut sind. Nach einer gewissen Zeit führt<br />

der Unterschied der Stände hinsichtlich ihrer materiellen Lage zu Verschiedenheiten in ihrem<br />

geistigen Leben. Der Reichtum der Kirche erlaubt den Theologen, sich zu bilden; ihre Mehrheit<br />

gilt zwar als der katholischen Tradition treu ergeben, gibt ihr jedoch eine Auslegung, die<br />

von den beim einfachen Volk erhalten gebliebenen Begriffen verschieden ist. Einige beson-<br />

1 Der Aufsatz erschien erstmalig in der Zeitschrift „Sowremennik“, 1860, Heft 81, Nr. 6. Tschernyschewski<br />

schrieb ihn, als sein Kampf gegen seine ideellen Gegner aus dem Lager der Leibeigenschaftsanhänger und Liberalen<br />

in vollem Gange war. Der Aufsatz entlarvt den Versuch des reaktionären Professors der Kiewer Universität<br />

O. M. Nowizki, die Entwicklung des menschlichen Wissens mit der Religion in Einklang zu bringen.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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