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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 92 Diese Beimischung bleibt. Und um sie zu vermindern, müssen die Gelehrten alles Wissen, hinsichtlich dessen auch nur der geringste vernünftige Zweifel möglich ist, ob es wirklich authentisch ist, einer Prüfung unterziehen. Das fordert die Vernunft. Schauen wir uns diese ihre Forderung recht aufmerksam, möglichst aufmerksam an. Angenommen, ein erwachsener Mensch, der wißbegierig ist, aber keine Gelegenheit gehabt hat, rechnen zu lernen, erhält schließlich die Möglichkeit, es zu lernen, und dringt nach und nach zum Einmaleins vor. Was werden wir von ihm sagen, wenn er der Meinung ist, daß er es ohne Prüfung nicht einfach als Wahrheit hinnehmen darf Seine Meinung ist vernünftig. Sie werden ihn, wenn Sie hinzutreten, während er nachrechnet, ob beim Abzählen an Steinchen oder Erbsen wirklich die Ziffern herauskommen, die in den [233] Kästchen des Einmaleins abgedruckt sind, für diese Tätigkeit einen klugen Menschen nennen. Aber jetzt hat er das Einmaleins nachgeprüft. Alle Ziffern in ihm sind richtig. Was werden Sie ihm jetzt raten Mit der Prüfung der Tabelle, die er eben nachgeprüft hat, von vorne anzufangen Er würde Sie auslachen, und er hätte recht. Die Vernunft verlangt von dem Rechenschüler, daß er das Einmaleins überprüft. Hat er es aber einmal überprüft, dann sagt ihm die Vernunft: „Für dein ganzes weiteres Leben bleibt es jetzt völlig unzweifelhaft richtig.“ Und befiehlt die Vernunft dem, der rechnen lernt, alle Kästchen des Einmaleins nachzurechnen Wenn Sie dem erwachsenen und nicht gerade dummen Menschen, den Sie dabei antrafen, wie er das Einmaleins nachrechnete, gefragt hätten, ob er seine Prüfung bei dem ersten Kästchen begonnen habe, würde er ihnen geantwortet haben: „Im ersten Kästchen steht gedruckt, daß einmal eins eins ist; da gibt es nichts nachzurechnen; in der ganzen Reihe von Kästchen, wo die Ziffern stehen, die sich aus der Multiplikation mit eins ergeben, gibt es ebenfalls nichts nachzuprüfen. Anders ist es in den folgenden Reihen: in ihnen muß man nachrechnen. Aber das Kästchen, in dem gedruckt steht, daß zweimal zwei vier ist, habe ich auch ohne Prüfung gelassen: ich hatte es nicht mehr nötig, es nachzurechnen; diese Ziffer habe ich schon längst auswendig gewußt, bevor ich Bücher kannte; diese Ziffer habe ich schon vor langer, langer Zeit nachgeprüft, und diese Prüfung jetzt zu wiederholen, wäre einfach dumm.“ Wenn Sie ihm gesagt hätten: „Du solltest dich auf dein Gedächtnis lieber nicht verlassen“ – hätten Sie damit recht gehabt Umsicht ist notwendig. Aber auch die Umsicht hat vernünftige Grenzen. So sagt die Vernunft in Alltagsangelegenheiten. Die Vernünftigkeit des Zweifels hat ihre Grenzen, in der Wissenschaft ebenso gut wie im Leben. Sie schreiben einen ziemlich langen Brief. Sie sind mit ihm fertig. Sie überlesen ihn noch einmal und sehen nach, ob Sie sich nicht irgendwo verschrieben haben. Die entdeckten Fehler verbessern Sie. Sollen Sie ihn nicht noch einmal durchlesen Wenn er lang ist, wird es ganz gut sein, wenn [234] Sie es tun. Aber möglicherweise sind auch nach der zweiten Durchsicht irgendwelche nicht beachteten Schreibfehler stehengeblieben und werden auch nach der dritten Lesung drinbleiben. Das ist sehr gut möglich. Und sie können ihn zwanzig-, ja dreißigmal lesen, es können trotz allem irgendwelche unbemerkt gebliebene Fehler drinbleiben: der Brief ist lang. Aber Sie können ihn doch unmöglich zehn-, geschweige denn dreißigmal durchlesen. Was werden Sie also machen Der Brief ist lang. Und eigentlich ist jedes seiner Worte wichtig. Meinetwegen jedes Wort. Aber wesentliche Bedeutung haben doch nur einige Worte. Alle übrigen sind, mögen sie noch so wichtig sein, nichtssagend gegenüber der Wichtigkeit dieser wenigen Worte. Und wenn Sie den Brief einmal, ja zweimal durchsehen, achten Sie auf diese wenigen Worte, nur auf diese wenigen. Es sind wenige. Es ist nicht sehr schwer, sie sehr gründlich anzusehen. Und wenn Sie über einen gewöhnlichen – wenigstens den gewöhnlichen, mehr ist nicht nötig – Grad von menschlicher Aufmerksamkeit OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 93 verfügen, können Sie ruhig zu sich sagen: „Es genügt!“, und den Brief in den Umschlag stekken; Sie wissen, und wissen gut, daß die wesentlichen Worte keinen Fehler enthalten; wenn aber in dem langen Rest auch irgendwelche Schreibfehler geblieben sind, so liegt das Wesen des Briefes doch nicht in diesem Rest, so umfangreich er der Zeilenzahl nach auch sein mag, und wenn in diesem langen Rest wirklich auch irgend etwas nicht ganz richtig ist, so ist das kein großes Unglück. Lehrt uns die Vernunft in Alltagsdingen so zu handeln Lehrt sie uns die verschiedenen Grade der Zweifelhaftigkeit der verschiedenen Bestandteile dieser Fragen so zu beurteilen Und sagt sie uns, daß es selbst in den Alltagsdingen, in denen wir infolge der komplizierten Vielzahl der mitspielenden Faktoren nie ganz sicher sein können, ob alle ihre Teile völlig zuverlässig sind, solche völlig zuverlässigen Bestandteile gibt Und wie, wenn der Brief aus ein paar Worten besteht Und wie, wenn es nur ein einziges kurzes Wörtchen ist Wenn Sie zum Beispiel einen Brief geschrieben haben, der nur die Worte enthält: „Bist du gesund“ Wird es Ihnen schwerfallen, das Geschriebene so gut durchzusehen, daß [235] Ihre Vernunft zu dem Schluß kommt: hier ist alles richtig, hier gibt es zuverlässig keine Fehler Ist es schwer, einen so kurzen Brief so gut zu prüfen Und wenn Sie selbst einen solchen Brief erhalten haben, der aus der einzigen Frage besteht, ob Sie gesund sind, und ihn dann mit einem Brief beantworten, der aus dem einzigen Wort „Ja“ besteht – ist es dann für Sie eine große Sache, das, was Sie geschrieben haben, so gut zu studieren, daß Ihnen auch nicht der geringste vernünftige Zweifel darüber bleibt, daß hier kein Fehler drin ist Das alles gilt für Alltagsangelegenheiten. In ihnen gebietet die Vernunft uns, umsichtig zu sein, setzt unserer Umsicht jedoch auch Grenzen, jenseits deren die vernünftige Umsicht sich in Dummheit verwandelt. Aber seit wann verliert die Vernunft in den Dingen der Wissenschaft die Rechte, die sie in den Dingen des Lebens besitzt Wir wollen nicht davon reden, ob die Vernunft Zweifel an den mathematischen Kenntnissen, die wir erworben haben, zuläßt. Hierbei handelt es sich um abstraktes Wissen. Wir wollen nur von dem konkreten Wissen reden, an das verständige Gelehrte auch ausschließlich denken, wenn sie darüber reden, ob unser Wissen zuverlässig ist. Solange ein Gelehrter, der dazu neigt, sich für die Kraft der menschlichen Vernunft zu begeistern, die alles ihrem Urteil unterwirft, oder der umgekehrt dazu neigt, die Schwäche unserer Erkenntnisfähigkeit zu bedauern, hingerissen von den wirkungsvollen Einflüsterungen seines heißen Herzens die bescheidene Wahrheit vergißt, hat er es leicht, in kategorischen Tiraden zu behaupten, unser ganzes Wissen könne bezweifelt werden. Aber auf so etwas kommt nur eine überhitzte Phantasie, nicht aber der kühle Verstand. Wir brauchen nur mit kühler Überlegung den Inhalt irgendeines Gebietes wissenschaftlicher Erkenntnis zu betrachten, ganz gleich welches, um auf Schritt und Tritt Kenntnisse anzutreffen, von denen die Vernunft eines gebildeten Menschen sagen muß: „An der absoluten Zuverlässigkeit dieses Wissens darf man nicht zweifeln, wenn man nicht aufhören will, ein vernünftiges Wesen zu sein.“ [236] Nehmen wir zum Beispiel eine der Wissenschaften, die einen besonders hohen Anteil unzuverlässiger Elemente enthalten, die Geschichte. „Die Athener haben bei Marathon über die Perser gesiegt“ – steht das fest oder ist das zweifelhaft „Die Griechen haben bei Salamis über die Perser gesiegt“; „die Griechen haben die Perser bei Platää besiegt“ usw. usw. – Kann ein gebildeter Mensch auch nur den geringsten Zweifel an der Richtigkeit dieser seiner, in diesen einfachen, kurzen Worten formulierten Kenntnisse haben Die Einzelheiten unserer Kenntnisse, z. B. über die Schlacht bei Marathon, können und müssen überprüft werden, und viele von ihnen, die uns sehr zuverlässig OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 92<br />

Diese Beimischung bleibt. Und um sie zu vermindern, müssen die Gelehrten alles Wissen,<br />

hinsichtlich dessen auch nur der geringste vernünftige Zweifel möglich ist, ob es wirklich<br />

authentisch ist, einer Prüfung unterziehen.<br />

Das fordert die Vernunft. Schauen wir uns diese ihre Forderung recht aufmerksam, möglichst<br />

aufmerksam an.<br />

Angenommen, ein erwachsener Mensch, der wißbegierig ist, aber keine Gelegenheit gehabt<br />

hat, rechnen zu lernen, erhält schließlich die Möglichkeit, es zu lernen, und dringt nach und<br />

nach zum Einmaleins vor. Was werden wir von ihm sagen, wenn er der Meinung ist, daß er<br />

es ohne Prüfung nicht einfach als Wahrheit hinnehmen darf Seine Meinung ist vernünftig.<br />

Sie werden ihn, wenn Sie hinzutreten, während er nachrechnet, ob beim Abzählen an Steinchen<br />

oder Erbsen wirklich die Ziffern herauskommen, die in den [233] Kästchen des Einmaleins<br />

abgedruckt sind, für diese Tätigkeit einen klugen Menschen nennen. Aber jetzt hat er das<br />

Einmaleins nachgeprüft. Alle Ziffern in ihm sind richtig. Was werden Sie ihm jetzt raten Mit<br />

der Prüfung der Tabelle, die er eben nachgeprüft hat, von vorne anzufangen Er würde Sie<br />

auslachen, und er hätte recht. Die Vernunft verlangt von dem Rechenschüler, daß er das Einmaleins<br />

überprüft. Hat er es aber einmal überprüft, dann sagt ihm die Vernunft: „Für dein<br />

ganzes weiteres Leben bleibt es jetzt völlig unzweifelhaft richtig.“<br />

Und befiehlt die Vernunft dem, der rechnen lernt, alle Kästchen des Einmaleins nachzurechnen<br />

Wenn Sie dem erwachsenen und nicht gerade dummen Menschen, den Sie dabei antrafen,<br />

wie er das Einmaleins nachrechnete, gefragt hätten, ob er seine Prüfung bei dem ersten<br />

Kästchen begonnen habe, würde er ihnen geantwortet haben: „Im ersten Kästchen steht gedruckt,<br />

daß einmal eins eins ist; da gibt es nichts nachzurechnen; in der ganzen Reihe von<br />

Kästchen, wo die Ziffern stehen, die sich aus der Multiplikation mit eins ergeben, gibt es<br />

ebenfalls nichts nachzuprüfen. Anders ist es in den folgenden Reihen: in ihnen muß man<br />

nachrechnen. Aber das Kästchen, in dem gedruckt steht, daß zweimal zwei vier ist, habe ich<br />

auch ohne Prüfung gelassen: ich hatte es nicht mehr nötig, es nachzurechnen; diese Ziffer<br />

habe ich schon längst auswendig gewußt, bevor ich Bücher kannte; diese Ziffer habe ich<br />

schon vor langer, langer Zeit nachgeprüft, und diese Prüfung jetzt zu wiederholen, wäre einfach<br />

dumm.“ Wenn Sie ihm gesagt hätten: „Du solltest dich auf dein Gedächtnis lieber nicht<br />

verlassen“ – hätten Sie damit recht gehabt<br />

Umsicht ist notwendig. Aber auch die Umsicht hat vernünftige Grenzen. So sagt die Vernunft<br />

in Alltagsangelegenheiten. Die Vernünftigkeit des Zweifels hat ihre Grenzen, in der Wissenschaft<br />

ebenso gut wie im Leben.<br />

Sie schreiben einen ziemlich langen Brief. Sie sind mit ihm fertig. Sie überlesen ihn noch<br />

einmal und sehen nach, ob Sie sich nicht irgendwo verschrieben haben. Die entdeckten Fehler<br />

verbessern Sie. Sollen Sie ihn nicht noch einmal durchlesen Wenn er lang ist, wird es<br />

ganz gut sein, wenn [234] Sie es tun. Aber möglicherweise sind auch nach der zweiten<br />

Durchsicht irgendwelche nicht beachteten Schreibfehler stehengeblieben und werden auch<br />

nach der dritten Lesung drinbleiben. Das ist sehr gut möglich. Und sie können ihn zwanzig-,<br />

ja dreißigmal lesen, es können trotz allem irgendwelche unbemerkt gebliebene Fehler drinbleiben:<br />

der Brief ist lang. Aber Sie können ihn doch unmöglich zehn-, geschweige denn<br />

dreißigmal durchlesen. Was werden Sie also machen Der Brief ist lang. Und eigentlich ist<br />

jedes seiner Worte wichtig. Meinetwegen jedes Wort. Aber wesentliche Bedeutung haben<br />

doch nur einige Worte. Alle übrigen sind, mögen sie noch so wichtig sein, nichtssagend gegenüber<br />

der Wichtigkeit dieser wenigen Worte. Und wenn Sie den Brief einmal, ja zweimal<br />

durchsehen, achten Sie auf diese wenigen Worte, nur auf diese wenigen. Es sind wenige. Es<br />

ist nicht sehr schwer, sie sehr gründlich anzusehen. Und wenn Sie über einen gewöhnlichen –<br />

wenigstens den gewöhnlichen, mehr ist nicht nötig – Grad von menschlicher Aufmerksamkeit<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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