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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 90 chen aufbaut, geraten Leute, die viel von Mathematik verstehen, ja sogar hervorragende Fachleute der Mathematik sind, und versuchen dann, wenn sie einmal in die Falle geraten sind, sich einzubilden, es sei wirklich ein Kern Wahrheit in der Behauptung des Illusionismus, daß die mathematische Wahrheit im Einklang mit der logischen Wahrheit – die dabei von ganz etwas anderem redet! – anzuerkennen verlange, daß das menschliche Denken unfähig sei, den mathematischen Begriff des Unendlichen zu fassen. [229] Der Illusionismus liebt die Mathematik. Aber er liebt auch die Naturwissenschaften. Seine Analysen der Grundbegriffe der Naturwissenschaft, bei denen sich alle Gegenstände der Naturwissenschaft in Hirngespinste verwandeln, gehen von den Wahrheiten der Mathematik und der Logik aus; aber die Schlußfolgerungen aus seinen Analysen werden durch Wahrheiten der Naturwissenschaft bekräftigt. Er hat eine hohe Achtung vor den Wahrheiten der Naturwissenschaft – genau so wie vor den Wahrheiten der Logik und der Mathematik. Deswegen bestätigen auch alle Naturwissenschaften seine Schlußfolgerungen. Voller Anerkennung für die Hochachtung, die der Illusionismus ihren Wahrheiten zollt, stellen Physik, Chemie, Zoologie und Physiologie ihm das Zeugnis aus, daß auch sie nicht die von ihnen erforschten Gegenstände kennen, sondern nur unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit, die nicht der Wirklichkeit ähnlich sein können – und daß sie nicht die Wirklichkeit erforschen, sondern nur gewisse mit ihr völlig unvereinbare Wahnvorstellungen unseres Denkens. Was ist das denn aber für ein System, das unser Wissen von der Natur mit Hilfe der Hirngespinste der scholastischen Syllogistik seinerseits in ein Hirngespinst verwandelt Halten die Anhänger des Illusionismus es denn wirklich für ein System ernster Gedanken Es gibt auch solche sonderbaren Käuze unter ihnen. In der überwiegenden Mehrzahl jedoch sagen sie selber, daß dieses ihr System nicht die geringste ernste Bedeutung hat. Sie sagen es selbstverständlich nicht mit diesen Worten, aber mit sehr deutlichen Worten, wie etwa diesen: Die philosophische Wahrheit ist eben philosophische Wahrheit und keine andere. Vom Standpunkt des Alltagslebens ist sie keine Wahrheit und vom Standpunkt der Wissenschaft ist sie auch keine Wahrheit. D. h.: es macht ihnen Spaß, ein bißchen zu phantasieren. Aber sie vergessen dabei nicht, daß sie phantasieren. Und damit wollen wir die sonderbaren Käuze stehen lassen. * * * [230] Unser Wissen ist menschliches Wissen. Die Erkenntniskraft des Menschen ist beschränkt, wie alle seine Kräfte. In diesem Sinne ist die Natur unseres Wissens durch die Natur unserer Erkenntniskräfte bedingt. Wären unsere Sinnesorgane empfindlicher und unser Verstand schärfer, so wüßten wir mehr, als wir heute wissen, und in unserem heutigen Wissen würde sich natürlich manches modifizieren, wenn unser Wissen umfassender wäre, als es heute ist. Mit der Erweiterung des Wissens überhaupt geht die Umwandlung einiger früher angehäufter Wissensvorräte Hand in Hand. Die Geschichte der Wissenschaften lehrt, daß sich viele unserer früheren Kenntnisse dadurch gewandelt haben, daß wir heute mehr wissen, als wir früher wußten. Gut. Aber wir wollen doch nicht bei dem verschwommenen, der Wissenschaftsgeschichte entnommenen Ausdruck: „Mit der Erweiterung des Wissens geht seine Wandlung Hand in Hand“, stehenbleiben. Wir wollen uns die Mühe machen, etwas mehr von ihm zu erfahren; wir wollen zusehen, welche Züge des Wissens sich infolge der Erweiterung des Wissens wandeln. Wir werden dabei sehen, daß die wesentliche Natur des faktischen Wissens unverändert bleibt, so sehr sich auch das Wissen erweitert. Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte der Erweiterung unseres Wissens vom Wasser. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 91 Das Thermometer hat uns das Wissen gebracht, bei welcher Temperaturerhöhung das Wasser zu kochen beginnt, bei welcher Temperatursenkung es gefriert. Früher wußten wir das nicht. Worin besteht hier die Wandlung unseres früheren Wissens als Resultat dieses neuen Wissens Früher wußten wir nur, daß das Wasser, wenn es zu kochen beginnt, sehr heiß geworden ist, und daß es sich, wenn es zu gefrieren beginnt, sehr abgekühlt hat. Haben die verschwommenen Begriffe, die in den Worten: „das Wasser beginnt zu kochen, wenn es sehr heiß geworden ist, und gefriert, wenn es sich stark abgekühlt hat“, zum Ausdruck kommen, aufgehört wahr zu sein Sie sind Wahrheit geblieben. Das neue Wissen hat sie nur insofern gewandelt, als es ihr eine Bestimmtheit gegeben hat, die sie früher nicht besaß. Die Chemie hat uns [231] ein völlig neues Wissen gebracht: Wasser ist die Verbindung von Sauerstoff und Wasserstoff. Hiervon hatten wir früher überhaupt keine Kenntnis, auch nicht die allerunbestimmteste. Hat aber das Wasser dadurch, daß wir seinen Ursprung kennengelernt haben, über den wir früher absolut nichts wußten, aufgehört Wasser zu sein Das Wasser ist auch jetzt genau das gleiche Wasser, das es vor dieser Entdeckung war. Und unser ganzes früheres Wissen vom Wasser ist auch hinterher wahr geblieben. Die Wandlung beschränkte sich darauf, daß zu dem früheren Wissen die Bestimmung der Zusammensetzung des Wassers hinzugekommen ist. Es gibt wilde Stämme, die Eis und Schnee nicht kennen. Und es gibt vielleicht auch noch wilde Stämme, die nicht imstande sind, das Wasser zum Kochen zu bringen, und vielleicht nicht darauf gekommen sind, daß der Nebel Wasserdampf ist. Wenn das zutrifft, so gibt es Menschen, die nur einen der drei Aggregatzustände des Wassers kennen, den tropfbar flüssigen, und keine Kenntnis davon haben, daß das Wasser manchmal auch ein fester und ein gasförmiger Körper ist. Ist aber das, was sie von dem Wasser in dem einzigen ihnen bekannten Zustand wissen, unrichtiges Wissen Das Wasser, das noch nicht Eis oder Schnee und noch nicht Dampf, sondern Wasser im engeren Sinn des Wortes ist, ist eben das Wasser, das sie kennen. Und ihr Wissen vom Wasser ist richtiges Wissen ... sehr bescheidenes, aber richtiges. Und welche Erweiterung unseres Wissens, sei es vom Wasser, sei es von irgend etwas anderem, hätte je die Eigenschaften des Wassers verändert, die wir kennen Würde das Wasser auch weiterhin bei gewöhnlicher Temperatur eine Flüssigkeit bleiben wie jetzt, wie immer auch unser Wissen sich erweitert Oder wird die Erweiterung unseres Wissens diese Tatsache verändern Ändert sich das spezifische Gewicht des Wassers bei einer gegebenen Temperatur durch unser Wissen von ihm oder von irgend etwas anderem Bevor wir es bestimmen konnten, war es das gleiche; jetzt vermögen wir es mit ziemlich großer Genauigkeit zu bestimmen, aber noch nicht ganz genau; was kann irgendeine [232] Erweiterung unseres Wissens uns hinsichtlich des spezifischen Gewichtes noch geben Nur eine noch genauere Bestimmung dessen, was wir auch jetzt schon mit ziemlich großer Genauigkeit wissen. Wir sind Wesen, die sich irren können, und jedem geschieht es im Alltagsleben häufig, daß er sich irrt. Deswegen weiß jeder verständige Mensch, daß man in Alltagsgeschäften genau zusehen und gut nachdenken muß, wenn man nicht allzu viele, nicht allzu grobe Fehler begehen will. Dasselbe gilt für Sachen der Wissenschaft. Deswegen hat jede Fachwissenschaft bestimmte Vorsichtsmaßregeln ausgearbeitet, die insbesondere für sie gelten. Außerdem gibt es eine eigene Wissenschaft, die Logik, die von den Vorsichtsmaßregeln handelt, die bei allen wissenschaftlichen Arbeiten beobachtet werden müssen. Aber so gut auch diese Regeln sind und so sehr wir uns bemühen, sie einzuhalten, bleiben wir doch beschränkte Wesen, deren Fähigkeiten samt und sonders beschränkt sind, einschließlich der Fähigkeit, Fehler zu vermeiden. So sehr sich deshalb gewissenhafte Forscher nach Möglichkeit Mühe gehen, das Zuverlässige vom Unzuverlässigen zu unterscheiden, waren dem menschlichen Wissen doch stets und sind zweifellos auch heute noch unzuverlässige und unrichtige Elemente beigemischt, die der Aufmerksamkeit der Forscher entgangen sind. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 91<br />

Das Thermometer hat uns das Wissen gebracht, bei welcher Temperaturerhöhung das Wasser<br />

zu kochen beginnt, bei welcher Temperatursenkung es gefriert. Früher wußten wir das nicht.<br />

Worin besteht hier die Wandlung unseres früheren Wissens als Resultat dieses neuen Wissens<br />

Früher wußten wir nur, daß das Wasser, wenn es zu kochen beginnt, sehr heiß geworden<br />

ist, und daß es sich, wenn es zu gefrieren beginnt, sehr abgekühlt hat. Haben die verschwommenen<br />

Begriffe, die in den Worten: „das Wasser beginnt zu kochen, wenn es sehr heiß geworden<br />

ist, und gefriert, wenn es sich stark abgekühlt hat“, zum Ausdruck kommen, aufgehört<br />

wahr zu sein Sie sind Wahrheit geblieben. Das neue Wissen hat sie nur insofern gewandelt,<br />

als es ihr eine Bestimmtheit gegeben hat, die sie früher nicht besaß. Die Chemie hat uns [231]<br />

ein völlig neues Wissen gebracht: Wasser ist die Verbindung von Sauerstoff und Wasserstoff.<br />

Hiervon hatten wir früher überhaupt keine Kenntnis, auch nicht die allerunbestimmteste. Hat<br />

aber das Wasser dadurch, daß wir seinen Ursprung kennengelernt haben, über den wir früher<br />

absolut nichts wußten, aufgehört Wasser zu sein Das Wasser ist auch jetzt genau das gleiche<br />

Wasser, das es vor dieser Entdeckung war. Und unser ganzes früheres Wissen vom Wasser ist<br />

auch hinterher wahr geblieben. Die Wandlung beschränkte sich darauf, daß zu dem früheren<br />

Wissen die Bestimmung der Zusammensetzung des Wassers hinzugekommen ist.<br />

Es gibt wilde Stämme, die Eis und Schnee nicht kennen. Und es gibt vielleicht auch noch<br />

wilde Stämme, die nicht imstande sind, das Wasser zum Kochen zu bringen, und vielleicht<br />

nicht darauf gekommen sind, daß der Nebel Wasserdampf ist. Wenn das zutrifft, so gibt es<br />

Menschen, die nur einen der drei Aggregatzustände des Wassers kennen, den tropfbar flüssigen,<br />

und keine Kenntnis davon haben, daß das Wasser manchmal auch ein fester und ein gasförmiger<br />

Körper ist. Ist aber das, was sie von dem Wasser in dem einzigen ihnen bekannten<br />

Zustand wissen, unrichtiges Wissen Das Wasser, das noch nicht Eis oder Schnee und noch<br />

nicht Dampf, sondern Wasser im engeren Sinn des Wortes ist, ist eben das Wasser, das sie<br />

kennen. Und ihr Wissen vom Wasser ist richtiges Wissen ... sehr bescheidenes, aber richtiges.<br />

Und welche Erweiterung unseres Wissens, sei es vom Wasser, sei es von irgend etwas anderem,<br />

hätte je die Eigenschaften des Wassers verändert, die wir kennen Würde das Wasser<br />

auch weiterhin bei gewöhnlicher Temperatur eine Flüssigkeit bleiben wie jetzt, wie immer<br />

auch unser Wissen sich erweitert Oder wird die Erweiterung unseres Wissens diese Tatsache<br />

verändern Ändert sich das spezifische Gewicht des Wassers bei einer gegebenen Temperatur<br />

durch unser Wissen von ihm oder von irgend etwas anderem Bevor wir es bestimmen konnten,<br />

war es das gleiche; jetzt vermögen wir es mit ziemlich großer Genauigkeit zu bestimmen,<br />

aber noch nicht ganz genau; was kann irgendeine [232] Erweiterung unseres Wissens uns<br />

hinsichtlich des spezifischen Gewichtes noch geben Nur eine noch genauere Bestimmung<br />

dessen, was wir auch jetzt schon mit ziemlich großer Genauigkeit wissen.<br />

Wir sind Wesen, die sich irren können, und jedem geschieht es im Alltagsleben häufig, daß er<br />

sich irrt. Deswegen weiß jeder verständige Mensch, daß man in Alltagsgeschäften genau zusehen<br />

und gut nachdenken muß, wenn man nicht allzu viele, nicht allzu grobe Fehler begehen<br />

will. Dasselbe gilt für Sachen der Wissenschaft. Deswegen hat jede Fachwissenschaft bestimmte<br />

Vorsichtsmaßregeln ausgearbeitet, die insbesondere für sie gelten. Außerdem gibt es<br />

eine eigene Wissenschaft, die Logik, die von den Vorsichtsmaßregeln handelt, die bei allen<br />

wissenschaftlichen Arbeiten beobachtet werden müssen. Aber so gut auch diese Regeln sind<br />

und so sehr wir uns bemühen, sie einzuhalten, bleiben wir doch beschränkte Wesen, deren<br />

Fähigkeiten samt und sonders beschränkt sind, einschließlich der Fähigkeit, Fehler zu vermeiden.<br />

So sehr sich deshalb gewissenhafte Forscher nach Möglichkeit Mühe gehen, das Zuverlässige<br />

vom Unzuverlässigen zu unterscheiden, waren dem menschlichen Wissen doch<br />

stets und sind zweifellos auch heute noch unzuverlässige und unrichtige Elemente beigemischt,<br />

die der Aufmerksamkeit der Forscher entgangen sind.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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