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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 85<br />

die Existenz unseres Organismus leugnen. Das tut denn der Illusionismus auch. Er beweist,<br />

daß wir keinen Organismus besitzen – auf keinen Fall, und ihn auch nicht besitzen können.<br />

Er beweist das auf sehr einfache Weise: durch Anwendung der Methode der mittelalterlichen<br />

Scholastik. Das reale Leben wird beiseite geschoben; an die Stelle der Erforschung von Tatsachen<br />

tritt die Analyse von willkürlich zusammengestellten Definitionen abstrakter Begriffe;<br />

diese Definitionen werden falsch aufgestellt; als Resultat der Analyse ergibt sich dann natürlich,<br />

daß sie falsch sind; und so ist widerlegt, was widerlegt werden sollte. Die willkürliche<br />

Deutung des Sinnes naturwissenschaftlicher Schlußfolgerungen ergibt ganze Berge von Zitaten,<br />

die die Schlußfolgerungen der Analyse der fehlgehenden Definitionen bestätigen.<br />

[220] Das ist Scholastik. Eine neue Form der mittelalterlichen Scholastik. Es ist auch ein<br />

phantastisches Märchen. Aber auch ein in sich zusammenhängendes, mit Gelehrsamkeit vollgepfropftes<br />

Märchen.<br />

Es lautet folgendermaßen:<br />

Das Wesen, von dem uns nichts weiter bekannt ist, als daß es Vorstellungen hat, welche den<br />

Inhalt unseres gedanklichen Lebens bilden, nennen wir unser „Ich“.<br />

Sie sehen gleich: Das reale Leben des Menschen ist beiseite geschoben. Der Begriff Mensch<br />

ist ersetzt durch den Begriff von einem Wesen, von dem wir nicht wissen, ob es ein reales<br />

Leben hat.<br />

Sie werden sagen: Aber wenn der Inhalt des gedanklichen Lebens dieses Wesens identisch ist<br />

mit dem Inhalt des gedanklichen Lebens des Menschen, so kann uns von diesem Wesen nicht<br />

unbekannt sein, daß es auch ein reales Leben hat, denn dieses Wesen ist doch ein Mensch.<br />

Ja und nein; es ist Mensch und ist auch Nicht-Mensch. Es ist Mensch insofern, als es ein gedankliches<br />

Leben hat, welches mit dem gedanklichen Leben des Menschen identisch ist; aber<br />

es ist Nicht-Mensch insofern, als von ihm nicht bekannt ist, ob es ein reales Leben besitzt.<br />

Natürlich wird diese zweideutige Definition nur zu dem Zweck angewandt, um nicht gleich<br />

beim ersten Wort erkennen zu lassen, wohin die Argumentation führen soll. Ohne alle Vorbereitung<br />

rundheraus sagen: wir besitzen keinen Organismus, wäre unüberlegt; gar zu viele<br />

würden sich befremdet fühlen. Deswegen muß man sich fürs erste auf die zweideutige Definition<br />

beschränken, durch die erst in nebelhafter Ferne die Möglichkeit durchscheint, zu bezweifeln,<br />

ob der menschliche Organismus wirklich existiert. Und so geht es dann immer weiter:<br />

Hinterlisten, Unterschiebung verschiedener Begriffe unter ein und denselben Fachausdruck,<br />

alle möglichen Winkelzüge scholastischer Syllogistik. Aber uns genügt hier einstweilen<br />

ein Musterbeispiel dieser dialektischen Taschenspielerei. Um eine kurze Darstellung der<br />

Lehre des Illusionismus zu geben, wollen wir sie einfach erzählen.<br />

Analysieren wir unsere Vorstellungen von den Gegenständen, die uns außerhalb unseres<br />

Denkens zu existieren [221] scheinen, so entdecken wir, daß in jeder dieser Vorstellungen<br />

auch die Vorstellungen von Raum, Zeit und Materie enthalten sind. Analysieren wir die Vorstellung<br />

vom Raum, so finden wir, daß der Begriff des Raumes sich selbst widerspricht. Das<br />

gleiche zeigt uns die Analyse der Vorstellungen von Zeit und von Materie: jede von ihnen<br />

widerspricht sich selbst. Nun kann aber nichts, was sich selbst widerspricht, tatsächlich existieren.<br />

Deswegen kann nichts existieren ‚ was unseren Vorstellungen von den Gegenständen<br />

der Außenwelt entspricht. Das, was sich uns als Außenwelt darstellt, ist ein Trugbild unseres<br />

Denkens; außerhalb unseres Denkens existiert nichts, was diesem Hirngespinst entspricht,<br />

und kann nichts existieren. Uns scheint, wir hätten einen Organismus; wie wir jetzt sehen, ist<br />

dies ein Irrtum. Unsere Vorstellung von der Existenz des Organismus ist ein Trugbild, dem in<br />

Wirklichkeit nichts entspricht und nichts entsprechen kann.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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