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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 83<br />
die Aufwerfung der Frage zu, ob wir die Gegenstände kennen; nur sobald als Wahrheit angenommen<br />
wird, daß wir keine Menschen sind, daß wir uns irren, wenn wir uns für Menschen<br />
halten, entsteht die Frage, ob wir die Gegenstände [216] kennen können, und dann wird die<br />
Antwort: wir können es nicht – logisch.<br />
Meinem Bekannten war nicht bewußt, daß diese Gedanken logisch miteinander verbunden<br />
sind. Und nur deshalb war ihm auch nicht bewußt, daß er sich in aller Naivität von den<br />
„Phantasten“, über die er sich so von oben herab ausläßt, hat dumm machen lassen.<br />
Wir haben uns jetzt genugsam über meinen – auch Ihren – gelehrten Bekannten amüsiert,<br />
der nicht weiß und nicht wissen kann, ob die Menschen wirklich Hände haben. Wir wollen<br />
ihn verlassen und uns darüber unterhalten, wie es zu dem Mißverständnis gekommen ist, das<br />
ziemlich viele Naturwissenschaftler auf den Gedanken gebracht hat, der die Existenz der Gegenstände<br />
der Naturwissenschaft leugnende Gedanke, wonach der Mensch keine Kenntnis<br />
von den Gegenständen habe, sondern nur seine Vorstellung von den Gegenständen kenne, sei<br />
mit der Naturwissenschaft vereinbar.<br />
* * *<br />
Im Vergleich mit dem, was die Menschen wissen möchten und was sie eigentlich wissen sollen,<br />
wissen sie sehr wenig; ihr kärgliches Wissen enthält viele Ungenauigkeiten; vieles in ihm<br />
ist recht unzuverlässig und aller Wahrscheinlichkeit nach enthält es immer noch sehr viele<br />
Fehler. Woher kommt das Daher, daß die Aufnahmefähigkeit unserer Sinne bestimmte<br />
Grenzen hat und auch die Kraft unseres Verstandes nicht unbegrenzt ist, d. h. daher, daß wir<br />
Menschen, daß wir beschränkte Wesen sind.<br />
Diese Abhängigkeit des menschlichen Wissens von der menschlichen Natur pflegt man unter<br />
Naturwissenschaftlern als Relativität des menschlichen Wissens zu bezeichnen.<br />
In der Sprache jener Philosophie jedoch, die wir „Illusionismus“ nennen werden, hat der<br />
Ausdruck „die Relativität des menschlichen Wissens“ einen völlig anderen Sinn. Er wird als<br />
harmloser, den Laien nicht schockierender Fachausdruck zur Maskierung des Gedankens<br />
verwendet, daß all unser Wissen von den Gegenständen der Außenwelt in Wirklichkeit kein<br />
Wissen, sondern Illusion sei.<br />
[217] Durch Vermengung dieser beiden Bedeutungen des Fachausdrucks gewöhnt der Illusionismus<br />
den unvorsichtigen Laien daran, sie durcheinanderzubringen. Und da er seit langem<br />
davon überzeugt ist, daß eine dieser Bedeutungen der Wahrheit entspricht, bildet er sich<br />
ein, daß ihm schon längst der Gedanke gekommen sei – nicht mit solcher Klarheit wie jetzt,<br />
aber schon lange ziemlich klar – der Gedanke, unsere Vorstellungen von den Gegenständen<br />
der Außenwelt seien Illusionen.<br />
Der Naturwissenschaftler, der einen illusionistischen Traktat im Vertrauen auf die Gewissenhaftigkeit<br />
der Darstellung liest, wird dieser Verblendung um so leichter erliegen, als er aus<br />
seinem speziellen Wissenschaftszweig weiß: unsere sinnlichen Wahrnehmungen enthalten im<br />
allgemeinen eine ziemlich große Dosis von Reflexion; die sophistische Argumentation führt<br />
den Leichtgläubigen zu einer größeren und immer größeren Übertreibung der Rolle des subjektiven<br />
Elementes in den sinnlichen Wahrnehmungen, zu einem stärkeren und immer stärkeren<br />
Vergessen der Tatsache, daß nicht alle sinnlichen Wahrnehmungen zu der Klasse der<br />
Wahrnehmungen gehören, die eine Beimischung von Reflexion enthalten: diese vergißt er um<br />
so leichter, als er in seinen Spezialforschungen gar keinen Anlaß hatte, sich zu vergewissern,<br />
ob sie subjektive Elemente enthalten.<br />
Das gutgläubige Vertrauen des Naturwissenschaftlers auf die Gewissenhaftigkeit der Darstellung<br />
ist um so verständlicher, als in seiner Spezialwissenschaft alle Autoren ihre Gedanken<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013