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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 57<br />
gung des Menschen in verschiedene, aus verschiedenen Naturen stammende Hälften arbeitet.<br />
Deswegen erweisen sich aber auch die Arbeiten dieser routinierten Mehrheit heute als ebensolcher<br />
Plunder wie die Arbeiten von Emin und Jelagin über die russische Geschichte, die<br />
Volksliedersammlungen Tschulkows oder in jüngster Zeit die Werke der Herren Pogodin und<br />
Schewyrjow: auch in diesen Werken läuft einmal das eine oder das andere unter, was nach<br />
Wahrheit aussieht – Herr Pogodin schreibt ja ganz mit Recht, daß Jaroslaw in Kiew und nicht<br />
in Krakow als Fürst herrschte, daß Olga in Konstantinopel das orthodoxe Christentum annahm<br />
und nicht das lutherische, daß Alexej Petrowitsch der Sohn Peters des Großen war;<br />
ebenso hat ja Herr Schewyrjow richtig festgestellt, daß das russische Volk sich von kargen<br />
und schwer verdaulichen Speisen nährt, daß man unter den Rollkutschern manchmal hübsche<br />
Burschen findet, und hat aus dem Paissius-Sammelband recht interessantes Material über die<br />
heidnische Religion der Russen zusammengetragen. 11 Aber alle diese schönen und durchaus<br />
richtigen Dinge sind in den Büchern des gelehrten Paares aus dem seligen „Moskwitjanin“ 12<br />
mit einer solchen Menge Unsinn vermengt, daß es ebenso schwerfällt, die Wahrheit in ihnen<br />
von dummem Geschwätz zu sondern, wie zur Herstellung von Papier geeignete Lumpen an<br />
jenen Orten herauszuklauben, die die Lumpensammler mit ihren scharfen Augen und spitzen<br />
Haken erforschen; deshalb tut der Durchschnittsmensch besser daran, diese wenig angenehme<br />
Beschäftigung überhaupt zu vermeiden und sie den an sie gewöhnten Männern der Arbeit<br />
u überlassen; diese Männer der Arbeit aber – die auf der [172] Höhe der modernen Wissenschaft<br />
stehenden Fachleute – finden, daß in Büchern von der Art der Werke der von uns genannten<br />
Herren und ihrer Vorgänger selbst gelehrte Lumpen in gar zu geringer Zahl aufzufinden<br />
sind, so daß ihre Lektüre reiner Zeitverlust ist, der einem dazu noch das Gehirn vernebelt.<br />
Genau das gleiche muß von fast allen früheren Theorien der moralischen Wissenschaften<br />
gesagt werden. Dadurch, daß sie das anthropologische Prinzip außer acht lassen, verlieren<br />
sie jeden Wert; eine Ausnahme machen die Werke einiger weniger Denker der Vergangenheit,<br />
die dem anthropologischen Prinzip gefolgt sind, obwohl sie sich zur Kennzeichnung<br />
ihrer Auffassung vom Menschen nicht dieser Bezeichnung bedient haben. Zu ihnen gehören<br />
zum Beispiel Aristoteles und Spinoza.<br />
Was die Zusammensetzung des Wortes „Anthropologie“ betrifft, so kommt es von dem Worte<br />
„anthropos“, Mensch – aber das weiß der Leser natürlich auch ohne uns. Die Anthropologie<br />
ist eine Wissenschaft, die bei der Behandlung jedes Teils des menschlichen Lebensprozesses<br />
stets daran denkt, daß dieser ganze Prozeß und jeder seiner Teile sich im menschlichen<br />
Organismus abspielen; daß dieser Organismus das Material ist, welches die von ihr untersuchten<br />
Phänomene hervorbringt; daß die Qualitäten der Phänomene durch die Eigenschaften<br />
des Materials bedingt sind und daß die Gesetze, nach denen die Phänomene entstehen, nur<br />
Sonderfälle der Wirkung der allgemeinen Naturgesetze sind. Die Naturwissenschaften sind<br />
noch nicht so weit, daß sie alle diese Gesetze unter ein allgemeines Gesetz subsumieren und<br />
alle Teilformeln in eine allumfassende Formel zusammenziehen können; da ist nichts zu machen<br />
– man sagt, daß selbst die Mathematik noch nicht imstande ist, einige ihrer Zweige zu<br />
so einer Vollkommenheit zu bringen: wir haben sagen hören, daß sich noch keine allgemeine<br />
Formel für Integration in der Art der bereits gefundenen allgemeinen Formeln für Multiplika-<br />
11 Der Paissius-Sammelband“ ist eine Sammlung von Auszügen aus alten russischen Dokumenten, die sich<br />
vorwiegend auf das 14. Jahrhundert beziehen. Diese Sammlung wurde von Schewyrjow in der Bibliothek des<br />
Kirillo-Beloserski-Klosters aufgefunden.<br />
12 „Das gelehrte Paar aus dem seligen ‚Moskwitjanin‘“ – gemeint sind die Herausgeber dieser Zeitschrift<br />
Pogodin und Schewyrjow. Die Zeitschrift „Moskwitjanin“ war im Jahre 1841 von Pogodin, dem Ideologen der<br />
reaktionären Theorie des „offiziellen Volkstums“, die für die orthodoxe Religion und die zaristische Autokratie<br />
eintrat, gegründet worden. Seit dem Jahre 1850 bis zur Schließung der Zeitschrift im Jahre 1856 lag die Leitung<br />
in Händen der sogenannten „jungen Redaktion“, der A. Grigorjew, A. Ostrowski und A. Pissemski u. a. angehörten.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013