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15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 56 um deren Glück der Reiche vor allem besorgt ist, bringt er natürlich anderen Menschen, die dem Reichen nicht so am Herzen liegen, noch ausgesprocheneren Schaden, so daß man im allgemeinen annehmen darf, daß der Reichtum des Einzelmenschen den anderen Menschen, die mit dem Reichen unmittelbar in Verbindung stehen, mehr schadet als nützt. Wenn aber ein gewisser Zweifel darüber möglich ist, ob der Schaden, den der Reichtum einzelnen Menschen bringt, an den Nutzen heranreicht, den diese Leute von ihm haben, oder, was man wahrscheinlich annehmen muß, ihn sogar weit übersteigt, so ist jedenfalls die Tatsache unbestritten 10 , daß in der Wirkung des Reichtums einzelner Menschen auf die Gesamtgesellschaft die schädlichen Seiten die nützlichen bei weitem überwiegen. Das zeigt sich mit mathematischer Sicherheit in jenem Teil des moralischen Wissens, der früher als die anderen Teile nach exakten wissenschaftlichen Methoden ausgearbeitet wurde und in einigen seiner Fächer besonders gut durch die Wissenschaft von den Gesetzen des materiellen gesellschaftlichen Wohlstands, der sogenannten politischen Ökonomie, entwickelt worden ist. Was wir hinsichtlich der großen Überlegenheit einzelner Menschen über die anderen mit Hilfe von materiellem Wohlstand gefunden haben, läßt sich in noch höherem Grade von der starken Konzentration eines anderen, dem menschlichen Organismus selbst fremden Mittels zur Beeinflussung des Schicksals anderer Menschen sagen, nämlich von der Gewalt oder der [170] Macht. Sie bringt, aller Wahrscheinlichkeit nach, mehr Schaden als Nutzen, sogar den Menschen selbst, die unmittelbar mit ihr zu tun haben, und in ihrer Wirkung auf die Gesamtgesellschaft ist der Schaden, den sie bringt, unvergleichlich viel größer als der Nutzen. So bleiben also als wirkliche Quelle eines unbedingt stabilen Nutzens, den Menschen von der Tätigkeit anderer Menschen haben, nur jene nützlichen Qualitäten übrig, die im menschlichen Organismus selber liegen; deswegen werden auch eben diese Qualitäten als gute bezeichnet, deswegen findet auch das Wort „gut“ richtig nur auf den Menschen Anwendung. Die Grundlage seiner Handlungen bildet das Gefühl oder Herz, aber ihre unmittelbare Quelle ist jene Seite der organischen Aktivität, die wir den Willen nennen; deshalb müssen wir, wenn wir vom Guten reden, besonders die Gesetze untersuchen, nach denen das Herz und der Wille tätig sind. Die Mittel zur Verwirklichung der Gefühle des Herzens erhält der Wille aber von den Vorstellungen des Geistes, und wir müssen unsere Aufmerksamkeit daher auch jener Seite des Denkens zuwenden, die sich auf diese Mittel zur Beeinflussung des Schicksals anderer Menschen beziehen. Ohne etwas Bestimmtes zu versprechen, sagen wir nur, daß wir gern die exakten Begriffe darstellen möchten, die die moderne Wissenschaft über diese Gegenstände besitzt. Es kann durchaus sein, daß es uns auch gelingt, das zu tun. Aber wir hätten beinahe vergessen, daß bis jetzt das Wort „anthropologisch“ im Titel unseres Aufsatzes immer noch nicht erklärt ist; was ist denn dieses „anthropologische Prinzip in den moralischen Wissenschaften“ Was dieses Prinzip eigentlich darstellt, hat der Leser dem Charakter dieser Aufsätze entnehmen können: dieses Prinzip besteht darin, daß man den Menschen als ein Wesen betrachten muß, das nur eine Natur hat, daß man das menschliche Leben nicht in verschiedene Hälften zerschneidet, die verschiedenen Naturen angehören; daß man jede Seite der Tätigkeit des Menschen als Tätigkeit entweder seines gesamten Organismus von Kopf bis Fuß einschließlich betrachtet, oder, wenn es sich um eine spezielle Funktion irgendeines besonderen Organs im menschlichen Organismus handelt, [171] dieses Organ in seinem natürlichen Zusammenhang mit dem Gesamtorganismus untersucht. Das scheint eine ganz einfache Forderung zu sein, sie ist jedoch erst in allerletzter Zeit in ihrer ganzen Bedeutung von den Denkern anerkannt und erfüllt worden, die sich mit den moralischen Wissenschaften befassen, und auch das nur von einigen wenigen unter ihnen, während die Mehrheit des Gelehrtenstandes, die stets der Routine treu geblieben ist, wie die Mehrheit jedes Standes, auch weiterhin mit der früheren phantastischen Methode der unnatürlichen Zerle- 10 Im Zeitschriftentext durch den Zensor verändert in: „dann läßt sich über die Tatsache streiten“. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 57 gung des Menschen in verschiedene, aus verschiedenen Naturen stammende Hälften arbeitet. Deswegen erweisen sich aber auch die Arbeiten dieser routinierten Mehrheit heute als ebensolcher Plunder wie die Arbeiten von Emin und Jelagin über die russische Geschichte, die Volksliedersammlungen Tschulkows oder in jüngster Zeit die Werke der Herren Pogodin und Schewyrjow: auch in diesen Werken läuft einmal das eine oder das andere unter, was nach Wahrheit aussieht – Herr Pogodin schreibt ja ganz mit Recht, daß Jaroslaw in Kiew und nicht in Krakow als Fürst herrschte, daß Olga in Konstantinopel das orthodoxe Christentum annahm und nicht das lutherische, daß Alexej Petrowitsch der Sohn Peters des Großen war; ebenso hat ja Herr Schewyrjow richtig festgestellt, daß das russische Volk sich von kargen und schwer verdaulichen Speisen nährt, daß man unter den Rollkutschern manchmal hübsche Burschen findet, und hat aus dem Paissius-Sammelband recht interessantes Material über die heidnische Religion der Russen zusammengetragen. 11 Aber alle diese schönen und durchaus richtigen Dinge sind in den Büchern des gelehrten Paares aus dem seligen „Moskwitjanin“ 12 mit einer solchen Menge Unsinn vermengt, daß es ebenso schwerfällt, die Wahrheit in ihnen von dummem Geschwätz zu sondern, wie zur Herstellung von Papier geeignete Lumpen an jenen Orten herauszuklauben, die die Lumpensammler mit ihren scharfen Augen und spitzen Haken erforschen; deshalb tut der Durchschnittsmensch besser daran, diese wenig angenehme Beschäftigung überhaupt zu vermeiden und sie den an sie gewöhnten Männern der Arbeit u überlassen; diese Männer der Arbeit aber – die auf der [172] Höhe der modernen Wissenschaft stehenden Fachleute – finden, daß in Büchern von der Art der Werke der von uns genannten Herren und ihrer Vorgänger selbst gelehrte Lumpen in gar zu geringer Zahl aufzufinden sind, so daß ihre Lektüre reiner Zeitverlust ist, der einem dazu noch das Gehirn vernebelt. Genau das gleiche muß von fast allen früheren Theorien der moralischen Wissenschaften gesagt werden. Dadurch, daß sie das anthropologische Prinzip außer acht lassen, verlieren sie jeden Wert; eine Ausnahme machen die Werke einiger weniger Denker der Vergangenheit, die dem anthropologischen Prinzip gefolgt sind, obwohl sie sich zur Kennzeichnung ihrer Auffassung vom Menschen nicht dieser Bezeichnung bedient haben. Zu ihnen gehören zum Beispiel Aristoteles und Spinoza. Was die Zusammensetzung des Wortes „Anthropologie“ betrifft, so kommt es von dem Worte „anthropos“, Mensch – aber das weiß der Leser natürlich auch ohne uns. Die Anthropologie ist eine Wissenschaft, die bei der Behandlung jedes Teils des menschlichen Lebensprozesses stets daran denkt, daß dieser ganze Prozeß und jeder seiner Teile sich im menschlichen Organismus abspielen; daß dieser Organismus das Material ist, welches die von ihr untersuchten Phänomene hervorbringt; daß die Qualitäten der Phänomene durch die Eigenschaften des Materials bedingt sind und daß die Gesetze, nach denen die Phänomene entstehen, nur Sonderfälle der Wirkung der allgemeinen Naturgesetze sind. Die Naturwissenschaften sind noch nicht so weit, daß sie alle diese Gesetze unter ein allgemeines Gesetz subsumieren und alle Teilformeln in eine allumfassende Formel zusammenziehen können; da ist nichts zu machen – man sagt, daß selbst die Mathematik noch nicht imstande ist, einige ihrer Zweige zu so einer Vollkommenheit zu bringen: wir haben sagen hören, daß sich noch keine allgemeine Formel für Integration in der Art der bereits gefundenen allgemeinen Formeln für Multiplika- 11 Der Paissius-Sammelband“ ist eine Sammlung von Auszügen aus alten russischen Dokumenten, die sich vorwiegend auf das 14. Jahrhundert beziehen. Diese Sammlung wurde von Schewyrjow in der Bibliothek des Kirillo-Beloserski-Klosters aufgefunden. 12 „Das gelehrte Paar aus dem seligen ‚Moskwitjanin‘“ – gemeint sind die Herausgeber dieser Zeitschrift Pogodin und Schewyrjow. Die Zeitschrift „Moskwitjanin“ war im Jahre 1841 von Pogodin, dem Ideologen der reaktionären Theorie des „offiziellen Volkstums“, die für die orthodoxe Religion und die zaristische Autokratie eintrat, gegründet worden. Seit dem Jahre 1850 bis zur Schließung der Zeitschrift im Jahre 1856 lag die Leitung in Händen der sogenannten „jungen Redaktion“, der A. Grigorjew, A. Ostrowski und A. Pissemski u. a. angehörten. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 56<br />

um deren Glück der Reiche vor allem besorgt ist, bringt er natürlich anderen Menschen, die<br />

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allgemeinen annehmen darf, daß der Reichtum des Einzelmenschen den anderen Menschen,<br />

die mit dem Reichen unmittelbar in Verbindung stehen, mehr schadet als nützt. Wenn aber<br />

ein gewisser Zweifel darüber möglich ist, ob der Schaden, den der Reichtum einzelnen Menschen<br />

bringt, an den Nutzen heranreicht, den diese Leute von ihm haben, oder, was man<br />

wahrscheinlich annehmen muß, ihn sogar weit übersteigt, so ist jedenfalls die Tatsache unbestritten<br />

10 , daß in der Wirkung des Reichtums einzelner Menschen auf die Gesamtgesellschaft<br />

die schädlichen Seiten die nützlichen bei weitem überwiegen. Das zeigt sich mit mathematischer<br />

Sicherheit in jenem Teil des moralischen Wissens, der früher als die anderen Teile nach<br />

exakten wissenschaftlichen Methoden ausgearbeitet wurde und in einigen seiner Fächer besonders<br />

gut durch die Wissenschaft von den Gesetzen des materiellen gesellschaftlichen<br />

Wohlstands, der sogenannten politischen Ökonomie, entwickelt worden ist. Was wir hinsichtlich<br />

der großen Überlegenheit einzelner Menschen über die anderen mit Hilfe von materiellem<br />

Wohlstand gefunden haben, läßt sich in noch höherem Grade von der starken Konzentration<br />

eines anderen, dem menschlichen Organismus selbst fremden Mittels zur Beeinflussung<br />

des Schicksals anderer Menschen sagen, nämlich von der Gewalt oder der [170] Macht. Sie<br />

bringt, aller Wahrscheinlichkeit nach, mehr Schaden als Nutzen, sogar den Menschen selbst,<br />

die unmittelbar mit ihr zu tun haben, und in ihrer Wirkung auf die Gesamtgesellschaft ist der<br />

Schaden, den sie bringt, unvergleichlich viel größer als der Nutzen. So bleiben also als wirkliche<br />

Quelle eines unbedingt stabilen Nutzens, den Menschen von der Tätigkeit anderer Menschen<br />

haben, nur jene nützlichen Qualitäten übrig, die im menschlichen Organismus selber<br />

liegen; deswegen werden auch eben diese Qualitäten als gute bezeichnet, deswegen findet<br />

auch das Wort „gut“ richtig nur auf den Menschen Anwendung. Die Grundlage seiner Handlungen<br />

bildet das Gefühl oder Herz, aber ihre unmittelbare Quelle ist jene Seite der organischen<br />

Aktivität, die wir den Willen nennen; deshalb müssen wir, wenn wir vom Guten reden,<br />

besonders die Gesetze untersuchen, nach denen das Herz und der Wille tätig sind. Die Mittel<br />

zur Verwirklichung der Gefühle des Herzens erhält der Wille aber von den Vorstellungen des<br />

Geistes, und wir müssen unsere Aufmerksamkeit daher auch jener Seite des Denkens zuwenden,<br />

die sich auf diese Mittel zur Beeinflussung des Schicksals anderer Menschen beziehen.<br />

Ohne etwas Bestimmtes zu versprechen, sagen wir nur, daß wir gern die exakten Begriffe<br />

darstellen möchten, die die moderne Wissenschaft über diese Gegenstände besitzt. Es kann<br />

durchaus sein, daß es uns auch gelingt, das zu tun.<br />

Aber wir hätten beinahe vergessen, daß bis jetzt das Wort „anthropologisch“ im Titel unseres<br />

Aufsatzes immer noch nicht erklärt ist; was ist denn dieses „anthropologische Prinzip in den<br />

moralischen Wissenschaften“ Was dieses Prinzip eigentlich darstellt, hat der Leser dem<br />

Charakter dieser Aufsätze entnehmen können: dieses Prinzip besteht darin, daß man den<br />

Menschen als ein Wesen betrachten muß, das nur eine Natur hat, daß man das menschliche<br />

Leben nicht in verschiedene Hälften zerschneidet, die verschiedenen Naturen angehören; daß<br />

man jede Seite der Tätigkeit des Menschen als Tätigkeit entweder seines gesamten Organismus<br />

von Kopf bis Fuß einschließlich betrachtet, oder, wenn es sich um eine spezielle Funktion<br />

irgendeines besonderen Organs im menschlichen Organismus handelt, [171] dieses Organ<br />

in seinem natürlichen Zusammenhang mit dem Gesamtorganismus untersucht. Das scheint<br />

eine ganz einfache Forderung zu sein, sie ist jedoch erst in allerletzter Zeit in ihrer ganzen<br />

Bedeutung von den Denkern anerkannt und erfüllt worden, die sich mit den moralischen Wissenschaften<br />

befassen, und auch das nur von einigen wenigen unter ihnen, während die Mehrheit<br />

des Gelehrtenstandes, die stets der Routine treu geblieben ist, wie die Mehrheit jedes<br />

Standes, auch weiterhin mit der früheren phantastischen Methode der unnatürlichen Zerle-<br />

10 Im Zeitschriftentext durch den Zensor verändert in: „dann läßt sich über die Tatsache streiten“.<br />

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