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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 50<br />

gische Feldherr hätte sie in die Sklaverei verkauft, ihr Leben hätte sich in eine Kette unerträglicher<br />

Qualen verwandelt; sie handelten etwa wie ein Mensch, der sich einen schmerzenden<br />

Zahn ausreißt; sie zogen eine Minute furchtbarer Todesqualen unendlichen, jahrelangen Qualen<br />

vor. Die Ketzer, die man im Mittelalter auf Scheiterhaufen aus frischem Holz bei langsamem<br />

Feuer verbrannte, waren bestrebt, ihre Fesseln zu zerreißen und sich in die Flamme zu<br />

stürzen: lieber in einer Minute zu verbrennen, als mehrere Stunden lang allmählich zu erstikken.<br />

Die Bürger von Sagunt waren wirklich in dieser Lage. Wir hatten nicht recht mit der<br />

Annahme, Hannibal würde sich damit begnügt haben, sie zu Sklaven zu machen: wenn nicht<br />

von eigner, so wären sie von karthagischer Hand gefallen, aber die Karthager hätten sie lange<br />

mit barbarischen Foltern gepeinigt, und aus kühler Überlegung zogen sie ganz richtig einen<br />

leichten und schnellen Tod dem langsamen und schrecklichen vor. Lukretia erdolchte sich,<br />

als Sixtus Tarquinius sie entehrt hatte: sie handelte ebenfalls sehr überlegt, denn was erwartete<br />

sie in Zukunft Ihr Mann hätte ihr viele beruhigende und zärtliche Worte sagen können,<br />

aber dergleichen Worte sind nichts als leeres Gerede, sie offenbaren zwar [158] die edle Gesinnung<br />

dessen, der sie ausspricht, aber an den unausbleiblichen Folgen der Sache können sie<br />

nichts ändern. Collatinus konnte zu seiner Frau sagen: In meinen Augen bist du rein und ich<br />

liebe dich wie früher; aber bei den damaligen Anschauungen, die sich bis heute noch zu wenig<br />

geändert haben, wäre er nicht in der Lage gewesen, seine Worte in die Tat umzusetzen;<br />

ob er wollte oder nicht – einen wesentlichen Teil seiner früheren Achtung, seiner früheren<br />

Liebe zu seinem Weibe hatte er verloren; er hätte diesen Verlust durch eine absichtlich gesteigerte<br />

Zärtlichkeit im Umgang mit ihr verbergen können, aber eine solche Zärtlichkeit ist<br />

kränkender als Kälte und bitterer als Mißhandlungen und Beschimpfungen. Lukretia war mit<br />

Recht der Meinung, es sei bedeutend weniger unangenehm, sich das Leben zu nehmen, als in<br />

Verhältnissen zu leben, die im Vergleich mit dem, was sie gewöhnt war, erniedrigend gewesen<br />

wären. Ein Mensch, der die Reinlichkeit liebt, wird lieber hungern, als daß er verunreinigte<br />

Speisen berührt; für einen Menschen, der sich selbst zu achten gewöhnt ist, ist es leichter<br />

zu sterben, als sich zu erniedrigen.<br />

Der Leser wird verstehen, daß wir das durchaus nicht sagen, um den großen Ruhm zu mindern,<br />

den die Einwohner von Sagunt und Lukretia verdienen: den Beweis führen, daß eine<br />

heldenhafte Handlung zugleich eine kluge Handlung, daß eine edle Tat keine unvernünftige<br />

Tat war, bedeutet nach unserer Meinung durchaus noch nicht, dem Heroismus und dem<br />

Edelmut allen Wert abzusprechen. Aber verlassen wir diese heldischen Dinge, gehen wir zu<br />

einer mehr alltäglichen, wenn auch immer noch gar zu seltenen Handlungsweise über und<br />

untersuchen wir solche Fälle wie die Ergebenheit eines Menschen, der auf alle Vergnügen,<br />

auf jeden freien Augenblick verzichtet, um einen anderen Menschen, der seiner Hilfe bedarf,<br />

zu pflegen. Ein Freund, der ganze Wochen am Bett seines kranken Freundes Wache hält,<br />

bringt ein viel größeres Opfer, als wenn er ihm sein ganzes Geld gäbe. Aber warum nimmt er<br />

dieses große Opfer auf sich, um welchen Gefühls willen tut er es Er opfert seine Zeit und<br />

seine Freiheit seinem Gefühl der Freundschaft, wohl gemerkt, seinem Gefühl; dieses Gefühl<br />

ist in ihm so stark entwickelt, [159] daß er, wenn er es befriedigt, ein angenehmeres Gefühl<br />

empfindet, als ihm irgendein anderes Vergnügen, ja die Freiheit selber geben können. Hätte<br />

er gegen das Gefühl gehandelt und es unbefriedigt gelassen, würde er unangenehmere Empfindungen<br />

gehabt haben, als die sind, die ihm der Verzicht auf alle anderen Bedürfnisse<br />

bringt. Genau so liegen die Dinge in all den Fällen, wo ein Mensch auf alle Freuden und Vorteile<br />

verzichtet, um sich ganz der Wissenschaft oder einer Überzeugung hinzugeben. Indem<br />

Newton und Leibniz völlig jeder Liebe zu einer Frau entsagten, um all ihre Zeit, all ihre Gedanken<br />

uneingeschränkt der wissenschaftlichen Forschung widmen zu können, vollbrachten<br />

sie ihr ganzes Leben lang eine heldenhafte Leistung. Das gleiche muß man von den politischen<br />

Kämpfern sagen, die gewöhnlich Fanatiker genannt werden. Auch hier sehen wir wieder,<br />

wie ein gewisses Bedürfnis bei einem Menschen so stark wird, daß seine Befriedigung<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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