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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 48 Resultate ihrer eigenen Bemühungen, ihrer eigenen Güte, ihrer eigenen Verständigkeit und Erfahrenheit in Hühnerangelegenheiten; es ist eine rein moralische Beziehung. Es läßt sich allgemein feststellen, daß erwachsene Kinder sehr viel weniger an ihren Eltern hängen, als die Eltern an ihren Kindern. Die Hauptursache dieser Tatsache läßt sich leicht entdecken: der Mensch liebt vor allem sich selbst. Die Eltern sehen in ihren Kindern das Resultat ihrer Bemühungen um sie, während die Kinder an der Erziehung der Eltern völlig unbeteiligt waren und sie nicht als das Resultat ihrer Tätigkeit ansehen können. So wie die Gesellschaft heute aufgebaut ist, bestehen die moralischen Beziehungen erwachsener Kinder zu ihren Eltern fast ausschließlich in der Verpflichtung, sie im Alter zu unterhalten, und auch dieser Pflicht würden nur sehr wenige Kinder aus eigenem Antrieb nachkommen, wenn sie zu ihrer Erfüllung nicht durch jenes Gefühl des Gehorsams gegenüber der öffentlichen Meinung gezwungen würden, welches sie dazu anhält, sich überhaupt anständig aufzuführen und sich durch ihre Handlungen nicht [154] die allgemeine Mißbilligung zuzuziehen. Bei jenen Tierarten, die nicht Gesellschaften bilden, kann es natürlich auch keine gesellschaftlichen Beziehungen geben, die die Einhaltung derartiger Pflichten durchsetzen. Wir wissen nicht, wie die Lerchen, Schwalben, Maulwürfe und Füchse ihre alten Tage verbringen. Das Leben dieser Tiere ist so wenig gesichert, daß wahrscheinlich nur sehr wenige von ihnen bis ins hohe Alter leben bleiben; wahrscheinlich werden sie sehr bald die Beute anderer Tiere, sobald sie nicht mehr die Kraft haben zu fliegen, fortzulaufen oder sich zu verteidigen. Es heißt, daß selten einmal ein Fisch natürlichen Todes stirbt und nicht von anderen Fischen gefressen wird. Das gleiche kann man von der Mehrzahl wildlebender Vögel und Säugetiere annehmen. Die wenigen Individuen, die bis ins hohe Alter leben bleiben, sterben wahrscheinlich vor Hunger einige Stunden oder Tage früher, als sie gestorben wären, wenn sie noch Speise gehabt hätten. Wir werden jedoch aus der Tatsache, daß bei ihnen die Kinder ihre alten Väter und Mütter vergessen, nicht gleich streng den Schluß ziehen, daß es bei den Tieren keine kindliche Anhänglichkeit gibt; wir müssen hier etwas nachsichtig sein, denn unser Urteil über diesen Gegenstand ließe sich fast ohne Einschränkung auch auf die Menschen anwenden. Wenn man so ohne jeden Plan daherredet, ist man selber ganz erstaunt, wohin einen dieses Reden führt. Wir sehen jetzt, daß wir bereits bei den moralischen oder erhabenen Gefühlen angelangt sind. Was diese Gefühle betrifft, so stehen die praktischen Schlußfolgerungen der gewöhnlichen Lebenserfahrung durchaus im Widerspruch zu den alten Hypothesen, die dem Menschen eine Unmenge der verschiedensten uneigennützigen Bestrebungen zuschrieben. Die Erfahrung zeigte, daß jeder Mensch nur an sich selbst denkt, mehr um seinen eigenen Vorteil bemüht ist, als um den Vorteil anderer, und fast immer den Vorteil, die Ehre und das Leben anderer seinem eigenen Nutzen zum Opfer bringt, kurz gesagt, jeder Mensch sah, daß alle Menschen Egoisten sind. In der Praxis gingen alle umsichtigen Menschen stets von der Überzeugung aus, daß der Egoismus der einzige Trieb ist, der die Handlungen aller Menschen lenkt, mit denen sie [155] zu tun hatten. Wenn diese Meinung, die täglich durch die Erfahrung eines jeden von uns bestätigt wird, nicht eine ziemlich große Reihe anderer Lebenstatsachen gegen sich hätte, würde sie gewiß längst auch in der Theorie über die Hypothesen gesiegt haben, die behaupten, der Egoismus sei nur die Frucht eines verdorbenen Herzens, ein unverdorbener Mensch dagegen lasse sich von Trieben leiten, die das Gegenteil des Egoismus sind: er denke an das Wohl anderer statt an das seine, und sei bereit, sich für andere zu opfern usw. Aber die Schwierigkeit lag eben gerade darin, daß die durch hundertfältige tägliche Erfahrung widerlegte Hypothese von der uneigennützigen Bereitschaft des Menschen, fremdem Wohlergehen zu dienen, offenbar durch ziemlich zahlreiche Fälle von Uneigennützigkeit, Selbstaufopferung usw. bestätigt wurde: hier stürzte Curtius sich in den Abgrund, um seine Heimatstadt zu retten; dort warf sich Empedokles in den Krater, um eine wissenschaftliche Entdeckung zu machen; dort eilte Damon zum Richtplatz zurück, um Py- OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 49 thias zu retten, und dort erdolchte sich Lukretia, um ihre Ehre wiederherzustellen. Bis vor nicht langer Zeit besaß die Wissenschaft keine Mittel, diese beiden Reihen von Erscheinungen genau auf ein gemeinsames Prinzip zurückzuführen und ein Gesetz für die einander widersprechenden Tatsachen zu finden. Der Stein fällt zu Boden, der Dampf steigt in die Höhe, und im Altertum glaubte man, das Gesetz der Schwere, das für den Stein gilt, gelte nicht für den Dampf. Heute wissen wir, daß diese beiden in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Bewegungen – das Zubodenfallen des Steins und das Vombodenaufsteigen des Dampfes – dem gleichen Prinzip entspringen, nach dem gleichen Gesetz verlaufen. Wir wissen heute, daß die Anziehungskraft, die die Körper im allgemeinen nach unten zieht, unter gewissen Umständen darin zum Ausdruck kommt, daß einige Körper in die Höhe steigen. Wir haben schon wiederholt gesagt, daß die moralischen Wissenschaften noch nicht so vollständig ausgearbeitet sind wie die Naturwissenschaften; aber schon bei ihrem heutigen, wenn auch bei weitem nicht glänzenden Stand ist bereits die Frage gelöst, wie alle einander häufig widersprechenden menschlichen Handlungen und Gefühle [156] unter ein Prinzip unterzuordnen sind – genau so wie überhaupt fast alle jene moralischen und metaphysischen Fragen und Probleme gelöst sind, in denen sich die Menschen nicht auskannten, bevor die moralischen Wissenschaften und die Metaphysik nach streng wissenschaftlichen Methoden ausgearbeitet waren. In den Trieben des Menschen gibt es ebenso wie in allen anderen Seiten seines Lebens nicht zwei verschiedene Naturen, nicht zwei verschiedene oder einander entgegengesetzte Grundgesetze, sondern die ganze Vielfalt der Erscheinungen in der Sphäre der menschlichen Triebe zum Handeln, wie überhaupt im ganzen menschlichen Leben, entspringt ein und derselben Natur, verläuft nach ein und demselben Gesetz. Wir wollen nicht von jenen Handlungen und Gefühlen reden, die allgemein als egoistische, eigennützige, auf persönlichen Nutzen berechnet anerkannt werden. Wir wenden uns nur jenen Gefühlen und Handlungen zu, die uns einen entgegengesetzten Charakter zu haben scheinen: man braucht sich eine Handlung oder ein Gefühl, die uneigennützig zu sein scheinen, meist nur genauer anzusehen, und man wird erkennen, daß auch ihnen der gleiche Gedanke an eigenen, privaten Nutzen, eigenes Vergnügen und eigenes Wohlergehen, kurz, jenes Gefühl zugrunde liegt, das Egoismus genannt wird. In den meisten Fällen drängt sich diese Begründung ganz von selbst sogar einem Menschen auf, der wenig an psychologische Analyse gewöhnt ist. Wenn Mann und Frau ihr Leben lang gut miteinander ausgekommen sind, wird die Frau den Tod des Mannes durchaus ehrlich und tiefempfunden betrauern, aber man lausche einmal aufmerksam auf die Worte, mit denen sie diese Trauer äußert: „Warum hast du mich verlassen Was werde ich ohne dich machen Ohne dich ist mir das Leben vergällt!“ Man unterstreiche die Worte „mich, ich, mir“: in ihnen liegt der Sinn der Klage, sie bilden den Grund der Trauer. Nehmen wir ein noch erhabeneres, reineres Gefühl, das selbst die stärkste Gattenliebe übertrifft: das Gefühl, das eine Mutter für ihr Kind empfindet. Beim Tode des Kindes hat ihre Klage den gleichen Ton: „Mein Engelchen! Wie hab’ ich dich geliebt! Wie hab’ ich dich gehegt und gepflegt! Wieviel Leid, [157] wieviel schlaflose Nächte hast du mich gekostet! Mit dir ist meine Hoffnung dahin, die letzte Freude ist mir genommen!“ Auch hier immer das gleiche: „ich, mein, mir“. Ebenso leicht läßt sich die egoistische Grundlage in der ehrlichsten, zärtlichsten Freundschaft entdecken. Etwas schwieriger sind die Fälle, in denen ein Mensch für den geliebten Gegenstand Opfer bringt: selbst wenn er für ihn sein Leben opfert, liegt auch diesem Opfer private Berechnung oder ein leidenschaftlicher Ausbruch von Egoismus zugrunde. In den meisten Fällen von sogenannter Selbstaufopferung sollte man lieber nicht von Selbstaufopferung reden. Diese Benennung steht ihnen nicht zu. Die Einwohner von Sagunt gaben einander selber den Tod, um Hannibal nicht lebend in die Hände zu fallen – eine staunenswerte Heldentat, die sich jedoch vollkommen durch egoistische Beweggründe rechtfertigen läßt: sie waren gewöhnt, als freie Bürger zu leben, keinen Kränkungen ausgesetzt zu sein, sich selbst zu achten und von anderen geachtet zu werden; der kartha- OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 49<br />

thias zu retten, und dort erdolchte sich Lukretia, um ihre Ehre wiederherzustellen. Bis vor<br />

nicht langer Zeit besaß die Wissenschaft keine Mittel, diese beiden Reihen von Erscheinungen<br />

genau auf ein gemeinsames Prinzip zurückzuführen und ein Gesetz für die einander widersprechenden<br />

Tatsachen zu finden. Der Stein fällt zu Boden, der Dampf steigt in die Höhe,<br />

und im Altertum glaubte man, das Gesetz der Schwere, das für den Stein gilt, gelte nicht für<br />

den Dampf. Heute wissen wir, daß diese beiden in entgegengesetzter Richtung verlaufenden<br />

Bewegungen – das Zubodenfallen des Steins und das Vombodenaufsteigen des Dampfes –<br />

dem gleichen Prinzip entspringen, nach dem gleichen Gesetz verlaufen. Wir wissen heute,<br />

daß die Anziehungskraft, die die Körper im allgemeinen nach unten zieht, unter gewissen<br />

Umständen darin zum Ausdruck kommt, daß einige Körper in die Höhe steigen. Wir haben<br />

schon wiederholt gesagt, daß die moralischen Wissenschaften noch nicht so vollständig ausgearbeitet<br />

sind wie die Naturwissenschaften; aber schon bei ihrem heutigen, wenn auch bei<br />

weitem nicht glänzenden Stand ist bereits die Frage gelöst, wie alle einander häufig widersprechenden<br />

menschlichen Handlungen und Gefühle [156] unter ein Prinzip unterzuordnen<br />

sind – genau so wie überhaupt fast alle jene moralischen und metaphysischen Fragen und<br />

Probleme gelöst sind, in denen sich die Menschen nicht auskannten, bevor die moralischen<br />

Wissenschaften und die Metaphysik nach streng wissenschaftlichen Methoden ausgearbeitet<br />

waren. In den Trieben des Menschen gibt es ebenso wie in allen anderen Seiten seines Lebens<br />

nicht zwei verschiedene Naturen, nicht zwei verschiedene oder einander entgegengesetzte<br />

Grundgesetze, sondern die ganze Vielfalt der Erscheinungen in der Sphäre der menschlichen<br />

Triebe zum Handeln, wie überhaupt im ganzen menschlichen Leben, entspringt ein und derselben<br />

Natur, verläuft nach ein und demselben Gesetz.<br />

Wir wollen nicht von jenen Handlungen und Gefühlen reden, die allgemein als egoistische,<br />

eigennützige, auf persönlichen Nutzen berechnet anerkannt werden. Wir wenden uns nur jenen<br />

Gefühlen und Handlungen zu, die uns einen entgegengesetzten Charakter zu haben<br />

scheinen: man braucht sich eine Handlung oder ein Gefühl, die uneigennützig zu sein scheinen,<br />

meist nur genauer anzusehen, und man wird erkennen, daß auch ihnen der gleiche Gedanke<br />

an eigenen, privaten Nutzen, eigenes Vergnügen und eigenes Wohlergehen, kurz, jenes<br />

Gefühl zugrunde liegt, das Egoismus genannt wird. In den meisten Fällen drängt sich diese<br />

Begründung ganz von selbst sogar einem Menschen auf, der wenig an psychologische Analyse<br />

gewöhnt ist. Wenn Mann und Frau ihr Leben lang gut miteinander ausgekommen sind,<br />

wird die Frau den Tod des Mannes durchaus ehrlich und tiefempfunden betrauern, aber man<br />

lausche einmal aufmerksam auf die Worte, mit denen sie diese Trauer äußert: „Warum hast<br />

du mich verlassen Was werde ich ohne dich machen Ohne dich ist mir das Leben vergällt!“<br />

Man unterstreiche die Worte „mich, ich, mir“: in ihnen liegt der Sinn der Klage, sie bilden<br />

den Grund der Trauer. Nehmen wir ein noch erhabeneres, reineres Gefühl, das selbst die<br />

stärkste Gattenliebe übertrifft: das Gefühl, das eine Mutter für ihr Kind empfindet. Beim Tode<br />

des Kindes hat ihre Klage den gleichen Ton: „Mein Engelchen! Wie hab’ ich dich geliebt!<br />

Wie hab’ ich dich gehegt und gepflegt! Wieviel Leid, [157] wieviel schlaflose Nächte hast du<br />

mich gekostet! Mit dir ist meine Hoffnung dahin, die letzte Freude ist mir genommen!“ Auch<br />

hier immer das gleiche: „ich, mein, mir“. Ebenso leicht läßt sich die egoistische Grundlage in<br />

der ehrlichsten, zärtlichsten Freundschaft entdecken. Etwas schwieriger sind die Fälle, in denen<br />

ein Mensch für den geliebten Gegenstand Opfer bringt: selbst wenn er für ihn sein Leben<br />

opfert, liegt auch diesem Opfer private Berechnung oder ein leidenschaftlicher Ausbruch von<br />

Egoismus zugrunde. In den meisten Fällen von sogenannter Selbstaufopferung sollte man<br />

lieber nicht von Selbstaufopferung reden. Diese Benennung steht ihnen nicht zu. Die Einwohner<br />

von Sagunt gaben einander selber den Tod, um Hannibal nicht lebend in die Hände<br />

zu fallen – eine staunenswerte Heldentat, die sich jedoch vollkommen durch egoistische Beweggründe<br />

rechtfertigen läßt: sie waren gewöhnt, als freie Bürger zu leben, keinen Kränkungen<br />

ausgesetzt zu sein, sich selbst zu achten und von anderen geachtet zu werden; der kartha-<br />

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