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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 44<br />
aus eigenem Antrieb entwickeln. Unsere Haustiere, die sich an ihre Sklaverei gewöhnt und in<br />
einer Richtung entwickelt haben, die ihrem Herrn Nutzen bringt, sind im allgemeinen durch<br />
die Sklaverei verdummt. Sie sind feige geworden und haben die Fähigkeit verloren, sich in<br />
unvorhergesehenen Situationen zurechtzufinden. In Freiheit gesetzt, finden sie jedoch die<br />
Kühnheit und Findigkeit des freien Zustands schnell wieder. <strong>Zur</strong> Wildheit zurückgekehrt,<br />
lernen die Pferde wieder, sich gegen Wölfe zu verteidigen und im Winter das Gras unter dem<br />
Schnee hervorzuscharren. Überhaupt besitzen wilde Tiere die Fähigkeit, sich neuen Verhältnissen<br />
anzupassen: die Bücher über das Leben der Tiere sind voll [146] von Erzählungen, wie<br />
gut Wespen, Spinnen und andere Insekten, unter einen Glassturz gesetzt, ihr Leben den neuen<br />
Verhältnissen anzupassen verstehen. Anfänglich versucht das Insekt, sich wie früher zu verhalten;<br />
ständige Mißerfolge zeigen ihm die Unhaltbarkeit der früheren Methode, es probiert<br />
neue Methoden aus, und wenn es unter den neuen Verhältnissen nicht zugrunde geht, so richtet<br />
es sein Leben schließlich auf neue Weise ein. Der Bär, der ein Faß mit Wein gefunden hat,<br />
kommt schließlich darauf, ihm den Boden einzuschlagen. Wir wollen nicht die zahllosen einzelnen<br />
Erzählungen über die Findigkeit von Tieren anführen und nur eine allgemeine Tatsache<br />
vermerken, die für ganze Arten gilt; wenn in einem bis dahin unbewohnten Lande ein<br />
Mensch auftaucht, verstehen die Vögel anfänglich nicht, sich vor ihm in acht zu nehmen; mit<br />
der Zeit jedoch lehrt die Erfahrung sie, diesem neuen Feind gegenüber vorsichtig zu sein und<br />
umsichtig zu handeln, und alle Arten von Jagdtieren lernen schnell, den Jäger klüger zu behandeln<br />
als anfangs, ihm aus dem Wege zu gehen und ihn zu betrügen.<br />
Wir haben in bezug auf die Tiere den Ausdruck „geistige Fähigkeiten“ gebraucht. Tatsächlich<br />
läßt sich den Tieren weder das Gedächtnis noch die Einbildungskraft oder das Denken absprechen.<br />
Das Gedächtnis braucht kaum erwähnt zu werden: jedermann weiß, daß es kein<br />
einziges Säugetier, keinen einzigen Vogel gibt, der diese Fähigkeit nicht besäße, und daß sie<br />
bei einigen Arten besonders stark ausgeprägt ist; der Hund hat ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis:<br />
er erkennt einen Menschen, den er vor langer Zeit gesehen hat, und weiß von sehr<br />
entfernten Orten den Weg nach Hause zu finden. Einbildungskraft muß unweigerlich vorhanden<br />
sein, wo es Gedächtnis gibt, weil nur sie die verschiedenen, im Gedächtnis aufbewahrten<br />
Vorstellungen zu neuen Gruppen verbindet. Wenn eine Nerventätigkeit vorhanden ist, d. h.<br />
wenn ein ständiger Wechsel von Empfindungen und Eindrücken vor sich geht, so müssen die<br />
früheren Vorstellungen unbedingt ständig Verbindungen mit neuen Vorstellungen eingehen,<br />
und dieses Phänomen ist ja gerade das, was man Einbildungskraft nennt. Positiv wird das<br />
Vorhandensein von Phantasie dadurch bewiesen, daß die Katze Träume hat: sie [147] benimmt<br />
sich im Schlaf oft wie ein Mondsüchtiger: bald ist sie ärgerlich, bald freut sie sich.<br />
Man braucht übrigens diesem Einzelfall, daß die Katzen Träume haben können, nicht zu hohen<br />
Wert beilegen: daß die Tiere Phantasie besitzen, zeigt sich in einer sehr viel allgemeiner<br />
verbreiteten Erscheinung: in der Neigung aller jungen Tiere, sich im Spiel mit Gegenständen<br />
der Außenwelt zu belustigen, die nicht zum Gegenstand eines solchen Spieles werden könnten,<br />
wenn das spielende Tier sich nicht so etwas wie eine Puppe vorstellte. Eine kleine Katze<br />
belustigt sich mit einem Klötzchen oder einem Knäulchen Wolle, als seien sie eine Maus; sie<br />
gibt dem Knäulchen Wolle einen Stoß, so daß es aussieht, als liefe es vor ihr weg, legt sich<br />
auf die Lauer, springt dann zu und fängt die eingebildete Maus – das ist nichts anderes als ein<br />
Puppenspielen, nur daß die Puppe hier nicht Bräutigam und Braut, nicht Fräulein und<br />
Dienstmädchen darstellt, sondern ein Mäuschen: es ist nun einmal so, daß jedes Wesen den<br />
Dingen die Rolle zuteilt, die ihm interessant erscheint.<br />
Das Denken besteht darin, unter verschiedenen, durch die Einbildung mit Hilfe des Gedächtnisses<br />
hergestellten Empfindungs- und Vorstellungskombinationen diejenigen auszusuchen,<br />
die dem Bedürfnis des denkenden Organismus im gegebenen Augenblick entsprechen, die<br />
Mittel zum Handeln sowie die Vorstellungen auszuwählen, mit deren Hilfe ein bestimmtes<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013