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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 43<br />
Man soll niemanden beleidigen; wir würden den Tieren Unrecht tun, wenn wir nicht auch<br />
ihnen zu Ehren ein paar Worte sagen würden, nachdem wir festgestellt haben, daß sie sich<br />
nicht für Wesen anderer Art als die Pflanzen halten sollen, und sie damit auf die Stufe einer<br />
bloßen Sonderform des gleichen Lebens herabgedrückt haben, das sich in den Pflanzen zeigt.<br />
Tatsächlich zeigt die wissenschaftliche Analyse, wie unberechtigt die leicht hingeworfene<br />
Behauptung ist, verschiedene ehrenvolle Qualitäten, wie zum Beispiel eine gewisse Fähigkeit<br />
zum Fortschritt, seien bei den Tieren absolut nicht vorhanden. Man pflegt zu sagen: das Tier<br />
bleibt [144] sein Leben lang so, wie es geboren wird, lernt nichts dazu und kommt in seiner<br />
geistigen Entwicklung nicht vom Fleck. Diese Auffassung wird durch Tatsachen widerlegt,<br />
die jedermann kennt. Man kann Bären dazu abrichten, zu tanzen und allerlei Kunststücke<br />
aufzuführen, und Hunde dazu erziehen, zu apportieren und auf den Hinterbeinen zu gehen;<br />
Elefanten kann man sogar dazu abrichten, auf dem Seil zu tanzen, und Fische dazu bringen,<br />
daß sie sich auf ein Klingelzeichen hin an einem bestimmten Ort sammeln – ohne Unterricht<br />
haben die so abgerichteten Tiere nichts dergleichen getan; die Abrichtung verleiht ihnen Eigenschaften,<br />
die sie sonst nicht besitzen würden. Aber nicht nur der Mensch lehrt die Tiere,<br />
die Tiere lehren auch einander: bekanntlich bringen die Raubtiere ihren Jungen bei, nach<br />
Beute zu jagen; die Vögel bringen ihren Jungen das Fliegen bei. Aber man entgegnet uns,<br />
diese Abrichtung, diese Entwicklung habe bestimmte Grenzen, die das Tier nicht überschreite,<br />
so daß die Art dabei unveränderlich bleibt, da die Entwicklung sich nur auf ihre einzelnen<br />
Glieder erstreckt: das einzelne Tier könne seine Geschichte haben, die Art dagegen kenne<br />
keine Geschichte, wenn wir unter Geschichte eine fortschreitende Bewegung verstehen. Auch<br />
das trifft nicht zu; vor unseren Augen vervollkommnen sich ganze Tierarten: in gewissen<br />
Ländern verbessern sich zum Beispiel die Pferde- oder Hornviehrassen. Dem Menschen nützt<br />
nur die Entwicklung der wirtschaftlichen Qualitäten des Tiers: die Steigerung der Zugkraft<br />
beim Pferde, der Wolle beim Schaf, des Milch- und Fleischertrages bei Kühen und Ochsen;<br />
deshalb vervollkommnen wir auch ganze Tierrassen lediglich in Hinblick auf diese äußerlichen<br />
Qualitäten. Aber auch das läßt bereits erkennen, daß in der Tierwelt nicht nur Individuen,<br />
sondern ganze Arten der Entwicklung fähig sind. Diese Tatsache allein würde genügen,<br />
den sicheren Schluß zu ziehen, daß auch die geistigen Fähigkeiten der Tiere aller Rassen<br />
nicht unbeweglich und konstant sind, sondern der Veränderung unterliegen; die Naturwissenschaften<br />
lehren, daß die Ursache der Veränderung im Muskelsystem, d. h. die Veränderung<br />
der Blutqualität, unweigerlich auch zu gewissen Änderungen im Nervensystem führt; wenn<br />
sich bei Veränderungen der [145] Zusammensetzung des Blutes, welches die Muskeln und<br />
Nerven ernährt, die Ernährung der Muskeln verändert; so muß sich auch die Ernährung des<br />
Nervensystems verändern; ein Unterschied in der Ernährung hat unweigerlich auch eine Veränderung<br />
der Eigenschaften und der Tätigkeit des zu ernährenden Teils des Organismus zur<br />
Folge. Ein Pferd von verbesserter Rasse muß unweigerlich etwas andere Sinneseindrücke<br />
aufnehmen als ein anderes Pferd: man kann beobachten, daß seine Augen lebendiger, feuriger<br />
blitzen; das bedeutet, daß sein Sehnerv empfänglicher, empfindlicher ist; wenn sich der Sehnerv<br />
derart verändert hat, muß eine gewisse Veränderung auch im ganzen übrigen Nervensystem<br />
vor sich gegangen sein. Das ist durchaus keine Hypothese, sondern eine positive Tatsache,<br />
die man zum Beispiel daher kennt, daß das Füllen eines gezähmten, wenn man so sagen<br />
kann, wohlerzogenen Pferdes sich sehr viel schneller und leichter daran gewöhnt, in der<br />
Deichsel zu gehen, als das Füllen eines wilden, in der Koppel gehaltenen, unerzogenen Pferdes;<br />
das bedeutet, daß die geistigen Fähigkeiten bei dem einen Pferd in gewisser Hinsicht<br />
höher entwickelt sind als bei dem anderen. Aber hier handelt es sich um vom Menschen gesteckte<br />
Ziele, nicht aber um Bedürfnisse des Tieres selbst; diese Entwicklung erfaßt nur die<br />
niederen Formen des geistigen Lebens, wie es stets der Fall ist, wenn die Entwicklung durch<br />
Ziele hervorgerufen wird, die dem sich Entwickelnden fremd sind. Sehr viel klarer offenbart<br />
sich bei den Tieren die Fähigkeit zum Fortschritt, wenn sie sich nach eigenen Bedürfnissen,<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013