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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 41<br />
d. h. erschlägt mit sinnlosem Beinschlenkern ebensoviel Zeit tot, wie er es für einen vernünftigen<br />
Gang gebraucht hätte; er weiß nicht mehr, was körperliche Arbeit ist, deshalb „beschäftigt<br />
er sich mit hygienischer Gymnastik“, d. h. er schwingt die Arme im Kreise und beugt den<br />
Rumpf (wenn nicht im Turnsaal, dann am Billardtisch oder an einer Drechselbank), und zwar<br />
ebenso lange, wie er sich eigentlich mit körperlicher Arbeit beschäftigen sollte; er weiß nicht<br />
mehr, was es heißt, vernünftig für sich und seine Nächsten zu sorgen, des-[140]halb gibt er<br />
sich mit Klatsch und Intrigen ab, d. h. er wendet ebensoviel geistige Energie für dummes<br />
Zeug auf, wie er für vernünftige Dinge aufwenden sollte. Aber alle diese künstlichen Mittel<br />
können die Bedürfnisse des Organismus nicht so befriedigen, wie es für die Gesundheit nötig<br />
wäre. Dem Reichen verrinnt sein Leben heute genau so wie dem Chinesen, der Opium raucht;<br />
übernatürliche Erregung wechselt ab mit Lethargie, maßlose Übersättigung mit leerer Tätigkeit,<br />
die stets die gleiche schale Langweile hinterläßt, die sie eigentlich vertreiben sollte.<br />
Selbst angenommen, wir besäßen über irgendeinen Teil des Lebensprozesses als einzelnen<br />
Spezialteil keine exakten Forschungen, so gäbe uns, wie wir sehen, der heutige Stand der<br />
exakten Kenntnisse von anderen Teilen des gleichen Lebensprozesses bereits einen annähernden<br />
Begriff von der allgemeinen Natur dieses unbekannten Teils und dauerhafte Unterlagen<br />
für wichtige positive und noch wichtigere negative Schlußfolgerungen in bezug auf ihn.<br />
Wir haben jedoch natürlich nur um der größeren Klarheit willen, argumenti causa, die Annahme<br />
gemacht, daß wir keinerlei exakte Forschungen über einige Teile des Lebensprozesses<br />
besäßen; in Wirklichkeit gibt es keinen Teil des Lebensprozesses, von dem die Wissenschaft<br />
nicht ein mehr oder weniger ausgedehntes exaktes Wissen besäße, das sich ganz speziell auf<br />
diesen Teil bezieht. So wissen wir zum Beispiel, daß die Empfindung in bestimmten Nerven<br />
lokalisiert ist, die Bewegung in anderen. Die Ergebnisse dieser Spezialuntersuchungen bestätigen<br />
die Schlußfolgerungen, die wir aus der Beobachtung des gesamten Lebensprozesses und<br />
seiner genauer erforschten Teile gewinnen.<br />
Bisher haben wir von der Physiologie als der Wissenschaft gesprochen, die sich mit der Erforschung<br />
des Lebensprozesses des menschlichen Organismus befaßt. Aber der Leser weiß,<br />
daß die Physiologie des menschlichen Organismus nur einen Teil der Physiologie bildet, oder<br />
besser gesagt, einen Teil einer ihrer Unterabteilungen – der zoologischen Physiologie. Nach<br />
dieser Bemerkung können wir einen Fehler wiedergutmachen, den wir auf den vorhergehenden<br />
Seiten begangen haben: es war unrichtig davon zu reden, die [141] Phänomene der Atmung,<br />
der Ernährung und anderer Seiten des menschlichen Lebensprozesses bildeten den<br />
Gegenstand der Physiologie – ihren Gegenstand bilden die Erscheinungen dieses Prozesses<br />
bei allen Lebewesen. Eine Physiologie des Menschen gibt es nur in dem gleichen Sinn, wie<br />
es eine Geographie Englands gibt, im Sinne eines Kapitels eines ganzen Buches, eines Kapitels,<br />
das sich selbst zu einem ganzen Buch auswachsen kann.<br />
Wenn wir zwei Länder, die hinsichtlich ihrer Entwicklung einander sehr fernstehen, indem<br />
das eine von Wilden, das andere von einem hochzivilisierten Volk bewohnt wird, einer oberflächlichen<br />
Betrachtung unterziehen, haben wir zunächst den Eindruck, als gäbe es in dem<br />
einen dieser Länder keine Spur von jenen Erscheinungen, die uns in dem anderen Land durch<br />
ihre kolossalen Ausmaße frappieren. In England sehen wir London und Manchester, Eisenbahnen,<br />
Häfen voller Dampfer, dagegen, sagen wir, bei den Jakuten anscheinend nichts, was<br />
diesen Dingen entspräche. Man nehme sich aber einmal eine gründliche Beschreibung des<br />
Lebens der Jakuten vor, und man wird schon allein durch die Kapiteleinteilung auf den Gedanken<br />
gebracht werden, daß das oberflächliche Urteil falsch war: die Kapiteleinteilung eines<br />
Buches über die Jakuten ist genau die gleiche wie die in einem Buche über die Engländer:<br />
Boden und Klima; Methoden der Nahrungsgewinnung; Wohnung; Kleidung; Verkehrswege;<br />
Handel usw. Wie fragt man sich, gibt es auch bei den Jakuten Verkehr und Handel Ja, gewiß<br />
gibt es sie genau wie bei den Engländern; der Unterschied besteht nur darin, daß diese<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013