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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 40<br />
und von Eroberungskriegen bis zu den heutigen raffinierteren Formen der gleichen Erscheinungen.<br />
Und diese Hypothese wurde wirklich von Menschen aufgestellt, ist wirklich zur<br />
herrschenden Meinung geworden, herrscht bis heute und hat wirklich Leiden ohne Maß und<br />
Zahl gebracht. Versuchen wir jetzt einmal, die Schlußfolgerungen der exakten Analyse des<br />
Lebensprozesses auf die Begriffe der Annehmlichkeit Oder des Vergnügens anzuwenden.<br />
Die Phänomene der [138] Annehmlichkeit oder des Vergnügens gehören zu jenem Teil des<br />
Lebensprozesses, der Sinneswahrnehmung genannt wird. Nehmen wir einstweilen an, daß<br />
gerade dieser Teil des Lebensprozesses als besonderer Teil noch nicht genau erforscht ist.<br />
Sehen wir einmal zu, ob sich aus den exakten Kenntnissen, die die Wissenschaft heute von<br />
der Ernährung, von der Atmung und vom Blutkreislauf besitzt, Rückschlüsse auf jenen Teil<br />
des Lebensprozesses ziehen lassen. Wir sehen, daß jede dieser Erscheinungen die Tätigkeit<br />
irgendwelcher Teile unseres Organismus ausmacht. Welche Körperteile beim Vorgang der<br />
Atmung, der Ernährung und des Blutkreislaufs tätig sind, wissen wir und wissen auch, wie<br />
sie arbeiten; vielleicht würden wir einen Irrtum begehen, wenn wir aus diesen Kenntnissen<br />
darauf schließen würden, welche Teile des Organismus auf welche Weise beim Phänomen<br />
der angenehmen Empfindung tätig sind; wir haben jedoch bereits direkt gesehen, daß nur die<br />
Tätigkeit irgendeines Teils des Organismus das entstehen läßt, was wir die Erscheinungen<br />
des menschlichen Lebens nennen; wir sehen, daß da, wo Tätigkeit vorhanden ist, auch das<br />
betreffende Phänomen auftritt, und da, wo keine Tätigkeit vorhanden ist, auch das Phänomen<br />
fehlt; hieraus erkennen wir, daß auch zu der angenehmen Empfindung unbedingt eine Tätigkeit<br />
des Organismus gehört. Analysieren wir jetzt den Begriff der Tätigkeit. <strong>Zur</strong> Tätigkeit<br />
gehört das Vorhandensein von zwei Dingen, eines tätigen und eines die Tätigkeit erleidenden<br />
– und die Tätigkeit besteht darin, daß das tätige Ding seine Kräfte zur Bearbeitung des Dings<br />
verwendet, welches die Tätigkeit erleidet. Bei dem Phänomen der Atmung zum Beispiel setzen<br />
Brustkorb und Lungen die Luft in Bewegung und zerlegen sie, beim Phänomen der Ernährung<br />
verarbeitet der Magen die Speise. Also muß auch die angenehme Empfindung notwendig<br />
darin bestehen, daß irgendein äußerer Gegenstand durch eine Kraft des menschlichen<br />
Organismus umgewandelt wird; welches dieser Gegenstand ist und auf welche Weise er umgearbeitet<br />
wird, das wissen wir noch nicht, aber wir sehen bereits, daß die Quelle des Vergnügens<br />
unbedingt irgendeine tätige Einwirkung des menschlichen Organismus auf einen<br />
Gegenstand der Außenwelt sein muß. Versuchen [139] wir jetzt, aus diesem Ergebnis einen<br />
negativen Schluß zu ziehen. Nichtstun ist das Fehlen von Tätigkeit; es liegt auf der Hand, daß<br />
es nicht das Phänomen der sogenannten angenehmen Empfindung hervorrufen kann. Jetzt<br />
wird uns durchaus verständlich, warum die wohlhabenden Klassen der Gesellschaft in allen<br />
zivilisierten Ländern ständig darüber klagen, daß sie sich langweilen, daß das Leben unangenehm<br />
sei. Diese Klagen sind durchaus berechtigt. Für den Reichen ist das Leben ebenso unangenehm<br />
wie für den Armen, weil nach einem Brauch, der sich dank einer falschen Hypothese<br />
in der Gesellschaft festgesetzt hat, Reichtum an Nichtstun gebunden ist, d. h. weil die<br />
Dinge, die eine Quelle des Vergnügens sein sollten, dank eben dieser Hypothese kein Vergnügen<br />
mehr bereiten können. Wer an abstraktes Denken gewöhnt ist, wird von vornherein<br />
überzeugt sein, daß die Beobachtung der Alltagsbeziehungen zu Resultaten führen wird, die<br />
der wissenschaftlichen Analyse nicht widersprechen. Aber auch die des Denkens ungewohnten<br />
Menschen werden zu dergleichen Schlußfolgerung gelangen, wenn sie über den Sinn der<br />
Tatsachen nachdenken, die uns das Leben der sogenannten großen Welt liefert. In ihr gibt es<br />
keine normale Tätigkeit, d. h. keine Tätigkeit, bei der die objektive Seite der Sache ihrer subjektiven<br />
Rolle entspräche, keine Tätigkeit, die wirklich ernst genannt zu werden verdiente;<br />
um sich nicht subjektive Störungen des Organismus zuzuziehen, um nicht vor Mangel an<br />
Bewegung krank zu werden, um der Langweile aus dem Wege zu gehen, muß der Mann von<br />
Welt die fehlende normale Tätigkeit durch eine fiktive ersetzen; er weiß nicht mehr, was für<br />
einen objektiven, vernünftigen Zweck Bewegung hat, deshalb „macht er sich Bewegung“,<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013