Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

max.stirner.archiv.leipzig.de
von max.stirner.archiv.leipzig.de Mehr von diesem Publisher
15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 36 schädigen und betrügen einander um ein Stück Brot. Die Psychologie fügt hinzu, daß die menschlichen Bedürfnisse sich voneinander hinsichtlich ihrer Stärke schroff unterscheiden; das dringendste Bedürfnis eines jeden menschlichen Organismus ist das Atmen; den Stoff, der zu seiner Befriedigung dient, findet der Mensch aber fast in jeder Situation in genügender Menge, so daß das Bedürfnis nach Luft fast niemals böse Handlungen hervorruft. Unter ungewöhnlichen Bedingungen, wenn auch dieser Stoff nicht für alle ausreicht, kommt es auch um ihn zu Streit und Gewalttat; wenn zum Beispiel viele Menschen in einem dumpfigen Raum zusammengepfercht sind, der nur ein Fenster hat, kommt es fast immer zu Streitigkeiten und Schlägereien, ja der Kampf um diesen Platz am Fenster kann zu Mord und Totschlag führen. Auf das Bedürfnis zu atmen (fährt die Psychologie fort) folgt beim Menschen als nächstdringendes Bedürfnis das Verlangen nach Speise und Trank. An Stoffen zur ausreichenden Befriedigung dieses Bedürfnisses fehlt es nun sehr häufig sehr vielen Menschen, und dieser Mangel wird zur Quelle der meisten aller bösen Handlungen, fast aller Situationen und Einrichtungen, die die ständigen Ursachen böser Handlungen sind. Ließe sich diese eine Ursache des Bösen beseitigen, so würden zum mindesten neun Zehntel alles Bösen aus der menschlichen Gesellschaft verschwinden: die Zahl der Verbrechen würde auf den zehnten Teil herabsinken, rohe Sitten und Begriffe würden im Laufe einer Generation durch humane Sitten und Begriffe abgelöst werden, die Zwangsinstitutionen, die auf der Roheit der Sitten und der Ignoranz beruhen, würden ihre Existenzberechtigung verlieren, und bald würde fast alle Art von Zwang verschwinden. Früher wäre es, versichert man uns, unmöglich gewesen, diesen Hinweis der Theorie praktisch zu verwirklichen, weil die technischen Fertigkeiten nicht auf der Höhe waren; wir können nicht sagen, ob das für die Vergangenheit zutrifft, unbestritten ist jedenfalls, daß die Erde bei dem heutigen [131] Stand von Mechanik und Chemie und mit den Möglichkeiten, mit denen diese Wissenschaften der Landwirtschaft an die Hand gehen, in jedem Lande der gemäßigten Zone unvergleichlich viel mehr Nahrungsmittel hervorbringen könnte, als zur reichlichen Ernährung einer Einwohnerschaft ausreicht, die an Zahl die gegenwärtige Bevölkerung des betreffenden Landes um das Zehn-, Zwanzigfache übertrifft. * Es bestehen also, was die Außenwelt betrifft, keinerlei Hindernisse, die gesamte Bevölkerung eines jeden zivilisierten Landes mit ausreichenden Nahrungsmitteln zu versorgen; die Aufgabe besteht einzig und allein darin, die Menschen zum Bewußtsein der Möglichkeit und der Notwendigkeit energischer Bemühungen in dieser Richtung zu bringen. In einer rhetorischen Phrase kann man sagen, daß die Menschen wirklich, wie es sich gebührt, hierauf bedacht sind; aber die kühle, exakte Analyse der Wissenschaft zeigt, wie leer die schwülstigen Phrasen sind, die wir häufig über diesen Gegenstand zu hören bekommen. In Wirklichkeit hat die menschliche Gesellschaft noch in keinem Falle in irgendwie nennenswertem Ausmaß die Mittel zur Anwendung gebracht, die nach den Anweisungen der Naturwissenschaften und der Wissenschaft vom Volkswohlstand der erfolgreichen Förderung der Landwirtschaft dienen. Woher das kommt, warum in der menschlichen Gesellschaft solche Gleichgültigkeit gegenüber den wissenschaftlichen Hinweisen für die Befriedigung eines so wichtigen Bedürfnisses, wie des Verlangens nach Nahrung, herrscht, warum das so ist, welche Umstände und Verhältnisse die schlechte Wirtschaftsführung hervorrufen und aufrecht- * Im eigentlichen England kann die Erde mindestens 150 Millionen Menschen ernähren. Die Lobgesänge auf die wunderbare Vollkommenheit der englischen Landwirtschaft sind insofern berechtigt, als dort eine schnelle Verbesserung zu verzeichnen ist; es wäre jedoch falsch zu glauben, daß die Landwirtschaft in England heute bereits in ausreichendem Maße die ihr von der Wissenschaft gelieferten Hilfsmittel verwendet; das steckt erst noch ganz in den Anfängen, und neun Zehntel des von England bebauten Bodens wird nach alter Routine bebaut, die dem heutigen Stand der landwirtschaftlichen Kenntnisse nicht im geringsten entspricht. – [In seinen Anmerkungen zu der Übersetzung der „Grundlagen der politischen Ökonomie“ von J. St. Mill benutzt Tschernyschewski den hier ausgesprochenen Gedanken als Argument gegen das angebliche „Gesetz“ vom abnehmenden Bodenertrag von Malthus (siehe N. G. Tschernyschewski, Sämtl. Werke, Bd. IX, Goslitisdat, Moskau 1949, S. 272-329 russ.).] Anmerkung der Redaktion. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 37 erhalten, wie die Umstände und Verhältnisse verändert werden müssen, damit eine gute Bewirtschaftung an Stelle [132] einer schlechten tritt – das sind wieder neue Fragen, deren theoretische Beantwortung sehr leicht ist; die praktische Verwirklichung der wissenschaftlichen Lösungen hängt aber wieder davon ab, daß der Mensch gewisse Eindrücke in sich aufnimmt. Wir haben übrigens nicht die Absicht, hier eine Darstellung weder der theoretischen Lösung noch der praktischen Schwierigkeiten in diesen Fragen zu geben; das würde uns zu weit führen, und wir glauben, daß die obigen Bemerkungen genügen, um die Lage zu erklären, in der sich die moralischen Wissenschaften gegenwärtig befinden. Wir wollten sagen, daß die exakte wissenschaftliche Ausarbeitung der moralischen Kenntnisse noch ganz in den Anfängen steckt; daß infolgedessen für viele außerordentlich wichtige moralische Probleme noch keine exakte theoretische Lösung gefunden ist; daß aber die Probleme, deren theoretische Lösung noch nicht gefunden ist, rein technischer Natur sind, so daß sie nur den Fachmann interessieren, während umgekehrt jene psychologischen und moralischen Probleme, die dem Nichtfachmann sehr interessant erscheinen und sehr schwer vorkommen, bereits exakt und dabei außerordentlich leicht und einfach schon bei der ersten Anwendung exakter wissenschaftlicher Analyse gelöst sind, so daß ihre theoretische Beantwortung bereits vorliegt; wir fügten noch hinzu, daß sich aus diesen unbestreitbaren theoretischen Lösungen sehr wichtige und nützliche wissenschaftliche Hinweise ergeben, welche Mittel zur Verbesserung des menschlichen Lebens anzuwenden sind; daß einige dieser Mittel der Umwelt entnommen werden können und daß bei dem heutigen Entwicklungsstand unserer Kenntnisse von der Natur die Außenwelt in dieser Hinsicht kein Hindernis mehr darstellt, daß andere Mittel dagegen von der Verstandesenergie des Menschen selbst beigesteuert werden müssen, daß heutzutage Schwierigkeiten nur bei der Auslösung dieser Energie zu erwarten sind, weil die einen Menschen dumm und apathisch sind, während andere absichtlich Widerstand leisten, und die große Mehrheit der Menschen in jeder Gesellschaft im allgemeinen im Banne von Vorurteilen lebt. Diese ganzen Betrachtungen sollten klarmachen, auf welche Weise die heutige hohe Entwicklung der Naturwissen-[133]schaften der Entstehung von exakten Wissenschaften in solchen Gebieten des Lebens und der theoretischen Forschung förderlich ist, wo man sich bisher mit bloßen Vermutungen zufriedengab, die manchmal begründet, manchmal unbegründet waren, jedenfalls aber kein exaktes Wissen lieferten. Das gilt für die moralischen und metaphysischen Probleme. Nunmehr werden sich unsere Aufsätze dem Menschen als Einzelpersönlichkeit zuwenden, und wir werden versuchen darzustellen, wie die zu diesem Gegenstand gehörenden Probleme durch exakte wissenschaftliche Ausgestaltung der Psychologie und Moralphilosophie gelöst werden. Wenn der Leser sich an unseren ersten Aufsatz erinnert, wird er natürlich erwarten, daß wir diesem kaum gegebenen Versprechen gleich wieder untreu werden und uns auf lange, gar nicht zur Sache gehörende Abschweifungen einlassen. Und der Leser hat recht. Wir lassen zunächst einmal die psychologischen und moralphilosophischen Fragen nach dem Menschen beiseite, nehmen uns seine physiologischen, medizinischen und beliebigen anderen Probleme vor und werden uns überhaupt mit dem Menschen als moralischem Wesen gar nicht beschäftigen, sondern vorerst versuchen zu sagen, was wir von ihm als von einem Wesen wissen, welches Magen und Kopf, Knochen, Adern, Muskeln und Nerven hat. Wir werden ihn zunächst nur von der Seite aus betrachten, die die Naturwissenschaften interessieren: die anderen Seiten werden wir uns, wenn es die Zeit uns erlaubt, später vornehmen. Die Physiologie und die Medizin stellen fest, daß der menschliche Organismus eine höchst komplizierte chemische Kombination darstellt, die einen höchst komplizierten chemischen Prozeß, das sogenannte Leben, durchmacht. Dieser Prozeß ist so kompliziert, sein Gegenstand aber so wichtig für uns, daß der Zweig der Chemie, der sich mit seiner Erforschung beschäftigt, infolge seiner Wichtigkeit den Titel einer besonderen Wissenschaft erhalten hat OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 36<br />

schädigen und betrügen einander um ein Stück Brot. Die Psychologie fügt hinzu, daß die<br />

menschlichen Bedürfnisse sich voneinander hinsichtlich ihrer Stärke schroff unterscheiden;<br />

das dringendste Bedürfnis eines jeden menschlichen Organismus ist das Atmen; den Stoff,<br />

der zu seiner Befriedigung dient, findet der Mensch aber fast in jeder Situation in genügender<br />

Menge, so daß das Bedürfnis nach Luft fast niemals böse Handlungen hervorruft. Unter ungewöhnlichen<br />

Bedingungen, wenn auch dieser Stoff nicht für alle ausreicht, kommt es auch<br />

um ihn zu Streit und Gewalttat; wenn zum Beispiel viele Menschen in einem dumpfigen<br />

Raum zusammengepfercht sind, der nur ein Fenster hat, kommt es fast immer zu Streitigkeiten<br />

und Schlägereien, ja der Kampf um diesen Platz am Fenster kann zu Mord und Totschlag<br />

führen. Auf das Bedürfnis zu atmen (fährt die Psychologie fort) folgt beim Menschen als<br />

nächstdringendes Bedürfnis das Verlangen nach Speise und Trank. An Stoffen zur ausreichenden<br />

Befriedigung dieses Bedürfnisses fehlt es nun sehr häufig sehr vielen Menschen, und<br />

dieser Mangel wird zur Quelle der meisten aller bösen Handlungen, fast aller Situationen und<br />

Einrichtungen, die die ständigen Ursachen böser Handlungen sind. Ließe sich diese eine Ursache<br />

des Bösen beseitigen, so würden zum mindesten neun Zehntel alles Bösen aus der<br />

menschlichen Gesellschaft verschwinden: die Zahl der Verbrechen würde auf den zehnten<br />

Teil herabsinken, rohe Sitten und Begriffe würden im Laufe einer Generation durch humane<br />

Sitten und Begriffe abgelöst werden, die Zwangsinstitutionen, die auf der Roheit der Sitten<br />

und der Ignoranz beruhen, würden ihre Existenzberechtigung verlieren, und bald würde fast<br />

alle Art von Zwang verschwinden. Früher wäre es, versichert man uns, unmöglich gewesen,<br />

diesen Hinweis der Theorie praktisch zu verwirklichen, weil die technischen Fertigkeiten<br />

nicht auf der Höhe waren; wir können nicht sagen, ob das für die Vergangenheit zutrifft, unbestritten<br />

ist jedenfalls, daß die Erde bei dem heutigen [131] Stand von Mechanik und Chemie<br />

und mit den Möglichkeiten, mit denen diese Wissenschaften der Landwirtschaft an die<br />

Hand gehen, in jedem Lande der gemäßigten Zone unvergleichlich viel mehr Nahrungsmittel<br />

hervorbringen könnte, als zur reichlichen Ernährung einer Einwohnerschaft ausreicht, die an<br />

Zahl die gegenwärtige Bevölkerung des betreffenden Landes um das Zehn-, Zwanzigfache<br />

übertrifft. * Es bestehen also, was die Außenwelt betrifft, keinerlei Hindernisse, die gesamte<br />

Bevölkerung eines jeden zivilisierten Landes mit ausreichenden Nahrungsmitteln zu versorgen;<br />

die Aufgabe besteht einzig und allein darin, die Menschen zum Bewußtsein der Möglichkeit<br />

und der Notwendigkeit energischer Bemühungen in dieser Richtung zu bringen. In<br />

einer rhetorischen Phrase kann man sagen, daß die Menschen wirklich, wie es sich gebührt,<br />

hierauf bedacht sind; aber die kühle, exakte Analyse der Wissenschaft zeigt, wie leer die<br />

schwülstigen Phrasen sind, die wir häufig über diesen Gegenstand zu hören bekommen. In<br />

Wirklichkeit hat die menschliche Gesellschaft noch in keinem Falle in irgendwie nennenswertem<br />

Ausmaß die Mittel zur Anwendung gebracht, die nach den Anweisungen der Naturwissenschaften<br />

und der Wissenschaft vom Volkswohlstand der erfolgreichen Förderung der<br />

Landwirtschaft dienen. Woher das kommt, warum in der menschlichen Gesellschaft solche<br />

Gleichgültigkeit gegenüber den wissenschaftlichen Hinweisen für die Befriedigung eines so<br />

wichtigen Bedürfnisses, wie des Verlangens nach Nahrung, herrscht, warum das so ist, welche<br />

Umstände und Verhältnisse die schlechte Wirtschaftsführung hervorrufen und aufrecht-<br />

* Im eigentlichen England kann die Erde mindestens 150 Millionen Menschen ernähren. Die Lobgesänge auf die<br />

wunderbare Vollkommenheit der englischen Landwirtschaft sind insofern berechtigt, als dort eine schnelle Verbesserung<br />

zu verzeichnen ist; es wäre jedoch falsch zu glauben, daß die Landwirtschaft in England heute bereits<br />

in ausreichendem Maße die ihr von der Wissenschaft gelieferten Hilfsmittel verwendet; das steckt erst noch<br />

ganz in den Anfängen, und neun Zehntel des von England bebauten Bodens wird nach alter Routine bebaut, die<br />

dem heutigen Stand der landwirtschaftlichen Kenntnisse nicht im geringsten entspricht. – [In seinen Anmerkungen<br />

zu der Übersetzung der „Grundlagen der politischen Ökonomie“ von J. St. Mill benutzt Tschernyschewski<br />

den hier ausgesprochenen Gedanken als Argument gegen das angebliche „Gesetz“ vom abnehmenden Bodenertrag<br />

von Malthus (siehe N. G. Tschernyschewski, Sämtl. Werke, Bd. IX, Goslitisdat, Moskau 1949, S. 272-329<br />

russ.).] Anmerkung der Redaktion.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!