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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 354<br />
Und ihre Worte nach meinem Geschmack umzumodeln, habe ich keine Neigung, weil ich es<br />
nicht nötig habe: sie geben ebensowenig wie ich irgendeinem „Geschmack“ besonders den<br />
Vorzug; ihnen gefällt, genau wie mir, nur die Wahrheit. Und was immer die Wahrheit darstellt,<br />
das ist gleich: für mich ist sie schön, wie für jeden, der die Wahrheit liebt.<br />
Meine Freunde, überlegen wir einmal: wozu sollte mein Gedächtnis mich in dieser Frage<br />
täuschen: wie verhielt sich die Mehrzahl der Astronomen zur Laplaceschen Hypothese in<br />
jener – wahrscheinlich nicht weniger als sechzig Jahre dauernden – Periode zwischen der<br />
Veröffentlichung dieser Wahrheit und der Entdeckung der Spektralanalyse<br />
Absolut keine einzige Speziallösung auch nur irgendeiner speziell der Naturwissenschaft angehörenden<br />
Frage hat auch nur den geringsten Einfluß auf meine persönlichen wissenschaftlichen<br />
Interessen oder wissenschaftlichen Wünsche oder auf die Gegenstände meiner persönlichen wissenschaftlichen<br />
Forschung. Deshalb ist es auch für mich persönlich vom wissenschaftlichen<br />
Standpunkt aus völlig gleichgültig, wer recht hat: Kopernikus oder Ptolemäus, Kepler oder Cassini-Vater,<br />
Newton oder Cassini-Vater und Cassini-Sohn. Meinetwegen möge es wahr sein – wie<br />
Ptolemäus annimmt –‚ daß die Sonne und alle Planeten und alle Sterne um die Erde kreisen; oder,<br />
wie Cassini-Vater mit einem ganzen Schwarm vor ihm schwanzwedelnder Astronomen annimmt,<br />
daß die Umlaufbahnen der Planeten nicht Ellipsen sind, sondern „Linien vierten Grades“,<br />
Cassinoiden, wie sie ihm, dem Sieger über Kepler zu Ehren genannt werden; meinetwegen möge<br />
es auch wahr sein, daß [710] die Erdkugel nicht an den Enden ihrer Rotationsachse abgeplattet<br />
ist, wie der „Ignorant und Phantast, ja überhaupt Esel“ Newton behauptete, sondern am Äquator,<br />
so daß der Äquatorialdurchmesser kürzer ist als die Entfernung von Pol zu Pol, wie der geniale<br />
Cassini-Vater und der nicht weniger geniale Cassini-Sohn behaupten; meinetwegen möge das<br />
alles so sein; meinetwegen möge auch wahr sein, daß die Säugetier je zwei oder drei Köpfe und<br />
nur je ein Bein haben – für die Gegenstände meiner persönlichen Forschung wäre das völlig<br />
gleichgültig. Für sie verlange ich von der Naturwissenschaft nur eins: daß die Wahrheit in ihr<br />
herrscht; was aber in jeder beliebigen Frage der Naturwissenschaft die Wahrheit ist, das ist<br />
gleichgültig. Hat Ptolemäus recht Haben die Cassini recht Haben die Säugetiere je drei Köpfe<br />
Für mich persönlich ist das gleichgültig. Ich verlange nur: es soll bewiesen sein, daß es wahr ist.<br />
Und warum ist mir das alles zuwider Nur deshalb, weil es unwahr ist. Drück’ ich mich klar<br />
aus – In Fragen der Naturwissenschaft ist mir nicht der spezielle Inhalt der Unwahrheit zuwider:<br />
er geht mich nichts an; zuwider ist mir an dieser Unwahrheit nur, daß sie Unwahrheit<br />
ist. – Und umgekehrt: nicht der spezielle Inhalt der Wahrheit in Fragen der Naturwissenschaft<br />
ist, was ich brauche oder was mir am Herzen liegt; ich brauche ihn für keinen der Gegenstände<br />
meiner persönlichen wissenschaftlichen Interessen oder Studien; was mir bei der Wahrheit<br />
in Fragen der Naturwissenschaft wichtig ist und am Herzen liegt, ist eigentlich nur das, daß<br />
es die Wahrheit ist.<br />
Ist das klar – Ich weiß nicht, meine lieben Freunde, ob es mir gelungen ist, meine Einstellung<br />
zur Naturwissenschaft so darzustellen, daß sie für Euch klar ist. An sich ist sie leicht zu<br />
verstehen. Von unseren heutigen Gelehrten – seien sie nun Naturwissenschaftler, Historiker<br />
oder Gelehrte anderer Wissenschaftsfächer – verstehen jedoch nur sehr wenige die Dinge so,<br />
wie ich sie auffasse. Meine Auffassung von dieser Frage ist die Auffassung von Laplace.<br />
Laplace abzuschreiben – und zu korrigieren –‚ darin sind alle Astronomen große Meister.<br />
Aber zu verstehen, wie [711] Laplace die Beziehungen der Naturwissenschaft zu den anderen<br />
Wissenschaftszweigen betrachtete, dazu sind nur sehr wenige fähig.<br />
Warum – Weil der Gelehrte, um diese Dinge verstehen zu können, ein Denker jenes einzigen<br />
wissenschaftlichen Systems allgemeiner Begriffe, ein Denker oder ein Schüler der Denker<br />
jenes Begriffssystems sein muß, auf dessen Boden Laplace stand.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013