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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 350 Eben das bedeutet, irgend jemandes Autorität über sich selber anerkennen. Für mich gibt es in der Naturwissenschaft nur zwei Autoritäten: Newton und Laplace. Und soweit ich urteilen kann, gibt es in meinen Gedanken über die Naturwissenschaft nichts, was nicht mit ihren „Meinungen“ in Einklang steht. (Erinnert Euch daran: „Meinungen“ gibt es für mich nur in bezug auf Gegenstände‚ die noch nicht ganz klargestellt, noch nicht ganz zur „wissenschaftlichen Entscheidung“ gebracht sind.) Jedenfalls aber gehört die Naturwissenschaft nicht zu den Gegenständen meiner persönlichen wissenschaftlichen Beschäftigungen oder Interessen Und keine „Meinung“ über irgendein Gegenstand der Naturwissenschaft hat auch nur die geringste ernste Bedeutung weder für mich persönlich als einen Menschen, der persönliche Interessen hat, noch für den Gegenstand meiner persönlichen wissenschaftlichen Arbeiten. Folglich fällt es mir leicht, wie man sagt „objektiv“ selbst die „Meinungen“ Newtons und Laplaces zu betrachten; fällt es mir auch leicht, sie zu lesen, ohne den geringsten Wunsch, den wirklichen Sinn ihrer Worte durch irgend einen meiner eignen Gedanken zu ersetzen. Und die Worte aller anderen Naturforscher lassen mich vollkommen indifferent: sollen sie sagen, was sie wollen, das ist mir vollkommen gleichgültig. (Ich bitte Euch, meine Freunde festzuhalten: es handelt sich um „Meinungen“ und Vermutungen, nicht aber um wissenschaftliche Lösungen: was eine wissenschaftliche „Wahrheit“ ist, das ist für mich heilige Wahrheit, wer immer sie gefunden oder dargestellt, wer immer sie mir mitgeteilt hat.) Meine lieben Freunde, das gerade sind die guten Züge an mir. Die Wahrheitsliebe; der Wunsch, mich meiner Kräfte zu bedienen, gleichgültig ob sie stark sind oder nicht, mich [703] meiner Kräfte zu bedienen, um selbständig zu untersuchen, was wahr ist und was nicht; das Wissen darum, daß der Verzicht auf das Recht, mich der Vernunft zu bedienen, ein Verzicht wäre, der eines vernunftbegabten Wesens, eines Menschen, unwürdig ist. Diese Züge sind gut an mir. Aber sie finden sich bei einer zahllosen Menge von Menschen. Es ist nichts Besonderes dabei, daß auch ich sie habe. Es gibt auch sonst allerhand Gutes an mir: ich kann lesen und schreiben, das ist sehr schön. Ich habe eine ziemlich ordentliche Kenntnis der Grammatik meiner Muttersprache, das ist sehr schön. – Und ich kann noch vieles, sehr vieles, was zweifellos schön ist, aus purer Gerechtigkeit von mir sagen. Nur ist daran nichts Besonderes. Ich habe also keinen besonderen Grund, mich zu rühmen. Aber von vielen anderen bin ich gezwungen, manches zu denken, was sehr betrüblich für mich ist. Obwohl die schöne Eigenschaft: „Ich kann lesen und schreiben“, gar nichts Besonderes an mir ist, ist sie eine Eigenschaft nur der Minderheit der Menschen. – Das gleiche läßt sich von allen anderen meiner guten Eigenschaften sagen. Solche Leute wie mich gibt es Millionen in der gebildeten Gesellschaft der zivilisierten Länder. Aber in der gleichen gebildeten Gesellschaft der zivilisierten Länder gibt es Dutzende Millionen Menschen, die auf das Recht jedes vernünftigen Wesens, sich seiner Vernunft zu bedienen, Verzicht leisten. Die überwiegende Mehrheit der gebildeten Gesellschaft will sich nicht die Mühe geben, selbständig über Dinge der Wissenschaft zu urteilen, die ihrem Wesen nach für jeden gebildeten Menschen verständlich sind – wie entweder alle oder fast alle wissenschaftlichen Fragen, die eine ernste wissenschaftlichere Bedeutung haben. Die überwiegende Mehrheit der gebildeten OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 351 Gesellschaft hat sich noch nicht der Geistesträgheit entwöhnt, die früher einmal die natürliche Eigenschaft der Barbaren war, welche die Zivilisation Griechenlands und Roms vernichteten, jener Trägheit, die [704] heute bei ihren schon längst zu zivilisierten Menschen gewordenen Nachkommen nur eine törichte Gewohnheit ist. Es ist nur eine dumme Gewohnheit, die nicht dem Niveau der Geisteskräfte der Menschen entspricht, die diese Gewohnheit noch haben. Und jedesmal, wenn diese Leute es nur wollen, können sie ohne die geringste Anstrengung diese üble Gewohnheit abschütteln und werden dann zu Menschen, die ganz vernünftig über wissenschaftliche Dinge zu urteilen verstehen. Ja, Sie verstehen es, wenn sie nur wollen; aber das waren jedenfalls in unserem Jahrhundert – nur kurze Episoden, die anläßlich irgendwelcher besonderer Umstände eintraten. In der Geschichte der Astronomie gab es eine solche Episode, als die Masse der gebildeten Gesellschaft in bezug auf die Ergebnisse der Spektralanalyse die Rechte der Vernunft geltend machte. Die Masse der gebildeten Gesellschaft dachte sich in die Laplacesche Hypothese hinein und fand: Laplace hat recht. Und die Mehrheit der Astronomen machte sofort die Entdeckung: „Ja, Laplace hat recht.“ Das war eine Episode von ganz außerordentlichem Charakter. Bis dahin aber und nachher wieder war der ständige Charakter des Laufes der Dinge ein völlig anderer: Die Masse der gebildeten Gesellschaft ist der Meinung, daß sie nicht das Recht habe, über irgendwelche Dinge der Astronomie zu urteilen. Die Mehrheit der Astronomen findet diese Meinung der Masse des Publikums sehr passend für ihre Prahlerei und redet dem Publikum ein, daß es so auch sein muß: die Astronomie ist ganz und gar eine so tiefe Weisheit, daß man ohne Kenntnis der Funktionentheorie nicht in sie eindringen kann. Alles, alles in der Astronomie ist Formeln, zwei Meter lange Formeln, in denen griechische Sigmas in Riesenschrift und Miniaturbuchstäbchen aller Alphabete in zwei, drei und vier Etagen durcheinanderwimmeln; Formeln, von denen selbst diesen patentierten Spezialisten der Mathematik und dabei ungewöhnlich klugen Menschen der Kopf raucht. Sie allein sind hier kompetent; dem Publikum bleibt nichts anderes übrig, als sich ihre, d. h. [705] dieser genialen Weisen, wundersame Botschaften staunend anzuhören und sie auf gut Wort zu glauben. Und die Mehrheit des Publikums gibt klein bei: sie hört sich die hochweisen Botschaften voller Staunen an und nimmt sie als bare Münze hin. Und das Ergebnis Ich will gar nicht von den vernünftigen Interessen der Masse der Gebildeten reden – was ist das Ergebnis für die Weisen selber Wer sich der Kontrolle durch die Gesellschaft entzieht, entzieht sich der Kontrolle durch den gesunden Gesellschaftsverstand. Manche Menschen haben persönlich einen so starken gesunden Menschenverstand, daß sie eine Unterstützung von seiten der Gesellschaft nicht brauchen. Aber solche Menschen sind selten, sind eine große Ausnahmeerscheinung. Die Masse der Menschen sind Menschen wie wir alle; von Natur nicht dumm und von Natur nicht ohne Verstand; aber Menschen mit ziemlichen Schwächen in allen ihren guten Eigenschaften; Menschen, die sich mit all ihrem Guten nur dann einigermaßen zu halten wissen, wenn sie von der gesellschaftlichen Meinung gestützt werden. Und was folgt hieraus unweigerlich Dasselbe, was überhaupt für jede Gruppe von Menschen gilt, die sich der Kontrolle durch die gesellschaftliche Meinung entzieht oder zu entziehen bestrebt ist. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 350<br />

Eben das bedeutet, irgend jemandes Autorität über sich selber anerkennen.<br />

Für mich gibt es in der Naturwissenschaft nur zwei Autoritäten: Newton und Laplace. Und<br />

soweit ich urteilen kann, gibt es in meinen Gedanken über die Naturwissenschaft nichts, was<br />

nicht mit ihren „Meinungen“ in Einklang steht. (Erinnert Euch daran: „Meinungen“ gibt es<br />

für mich nur in bezug auf Gegenstände‚ die noch nicht ganz klargestellt, noch nicht ganz zur<br />

„wissenschaftlichen Entscheidung“ gebracht sind.)<br />

Jedenfalls aber gehört die Naturwissenschaft nicht zu den Gegenständen meiner persönlichen<br />

wissenschaftlichen Beschäftigungen oder Interessen Und keine „Meinung“ über irgendein<br />

Gegenstand der Naturwissenschaft hat auch nur die geringste ernste Bedeutung weder für<br />

mich persönlich als einen Menschen, der persönliche Interessen hat, noch für den Gegenstand<br />

meiner persönlichen wissenschaftlichen Arbeiten.<br />

Folglich fällt es mir leicht, wie man sagt „objektiv“ selbst die „Meinungen“ Newtons und<br />

Laplaces zu betrachten; fällt es mir auch leicht, sie zu lesen, ohne den geringsten Wunsch,<br />

den wirklichen Sinn ihrer Worte durch irgend einen meiner eignen Gedanken zu ersetzen.<br />

Und die Worte aller anderen Naturforscher lassen mich vollkommen indifferent: sollen sie<br />

sagen, was sie wollen, das ist mir vollkommen gleichgültig. (Ich bitte Euch, meine Freunde<br />

festzuhalten: es handelt sich um „Meinungen“ und Vermutungen, nicht aber um wissenschaftliche<br />

Lösungen: was eine wissenschaftliche „Wahrheit“ ist, das ist für mich heilige<br />

Wahrheit, wer immer sie gefunden oder dargestellt, wer immer sie mir mitgeteilt hat.)<br />

Meine lieben Freunde, das gerade sind die guten Züge an mir.<br />

Die Wahrheitsliebe; der Wunsch, mich meiner Kräfte zu bedienen, gleichgültig ob sie stark<br />

sind oder nicht, mich [703] meiner Kräfte zu bedienen, um selbständig zu untersuchen, was<br />

wahr ist und was nicht; das Wissen darum, daß der Verzicht auf das Recht, mich der Vernunft<br />

zu bedienen, ein Verzicht wäre, der eines vernunftbegabten Wesens, eines Menschen, unwürdig<br />

ist.<br />

Diese Züge sind gut an mir. Aber sie finden sich bei einer zahllosen Menge von Menschen.<br />

Es ist nichts Besonderes dabei, daß auch ich sie habe.<br />

Es gibt auch sonst allerhand Gutes an mir: ich kann lesen und schreiben, das ist sehr schön.<br />

Ich habe eine ziemlich ordentliche Kenntnis der Grammatik meiner Muttersprache, das ist<br />

sehr schön. – Und ich kann noch vieles, sehr vieles, was zweifellos schön ist, aus purer Gerechtigkeit<br />

von mir sagen. Nur ist daran nichts Besonderes.<br />

Ich habe also keinen besonderen Grund, mich zu rühmen. Aber von vielen anderen bin ich<br />

gezwungen, manches zu denken, was sehr betrüblich für mich ist.<br />

Obwohl die schöne Eigenschaft: „Ich kann lesen und schreiben“, gar nichts Besonderes an<br />

mir ist, ist sie eine Eigenschaft nur der Minderheit der Menschen. – Das gleiche läßt sich von<br />

allen anderen meiner guten Eigenschaften sagen.<br />

Solche Leute wie mich gibt es Millionen in der gebildeten Gesellschaft der zivilisierten Länder.<br />

Aber in der gleichen gebildeten Gesellschaft der zivilisierten Länder gibt es Dutzende Millionen<br />

Menschen, die auf das Recht jedes vernünftigen Wesens, sich seiner Vernunft zu bedienen,<br />

Verzicht leisten.<br />

Die überwiegende Mehrheit der gebildeten Gesellschaft will sich nicht die Mühe geben, selbständig<br />

über Dinge der Wissenschaft zu urteilen, die ihrem Wesen nach für jeden gebildeten<br />

Menschen verständlich sind – wie entweder alle oder fast alle wissenschaftlichen Fragen, die<br />

eine ernste wissenschaftlichere Bedeutung haben. Die überwiegende Mehrheit der gebildeten<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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