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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 35<br />

nen ist: Tischler oder Nichttischler; Pjotr versteht Eisen zu schmieden, aber vom Menschen im<br />

allgemeinen kann man nicht sagen, er sei Schmied oder Nichtschmied. Die Tatsache, daß<br />

Iwan Tischler geworden ist, Pjotr dagegen Schmied, zeigt nur, daß unter gewissen Umständen,<br />

die es im Leben Iwans gab, der Mensch Tischler wird, unter gewissen anderen Umständen<br />

dagegen, die es im Leben Pjotrs gab, Schmied. Ganz genau so wird der Mensch unter bestimmten<br />

Umständen gut, unter anderen böse.<br />

Die theoretische Seite der Frage nach den guten und bösen Eigenschaften der menschlichen<br />

Natur beantwortet sich mithin so leicht, daß man hier eigentlich gar nicht von einer Frage<br />

reden kann; sie enthält bereits selbst die volle Antwort in sich. Anders liegen die Dinge, wenn<br />

Sie sich die praktische Sache der Seite vornehmen, wenn Sie zum Beispiel der Ansicht sind,<br />

für den Menschen selbst und für seine Umgebung sei es wesentlich besser, gut zu sein als<br />

böse, und wenn Sie die Absicht haben sollten, dafür zu sorgen, daß jeder Mensch gut wird;<br />

von dieser Seite aus bietet die Sache die größten Schwierigkeiten dar; sie liegen jedoch, wie<br />

der Leser schon bemerkt, nicht auf dem Gebiet der Wissenschaft, sondern nur der praktischen<br />

Anwendung der von der Wissenschaft aufgezeigten Mittel. Die Psychologie und die Moralphilosophie<br />

befinden sich hier in genau der gleichen Lage wie die Naturwissenschaften. Das<br />

Klima Nordsibiriens ist übermäßig kalt; auf unsere Frage, auf welche Weise man es wärmer<br />

machen könnte, haben die Naturwissenschaften eine einfache Antwort bereit: Sibirien ist<br />

durch hohe Berge von der warmen südlichen Atmosphäre abgeschnitten und liegt nach Norden<br />

offen vor der kalten nördlichen Atmosphäre da; wenn sich die Berge an seiner Nordgrenze<br />

entlangzögen, die Südgrenze dagegen keine Berge trüge, würde das Land bedeutend wärmer<br />

sein. Wir verfügen jedoch noch nicht über die Mittel, diese theoretische Lösung des Problems<br />

praktisch durchzuführen. Genau so haben die [129] moralischen Wissenschaften theoretische<br />

Antworten auf fast alle lebenswichtigen Fragen bereit, doch fehlen dem Menschen in<br />

vielen Fällen noch die Mittel, um praktisch durchzuführen, was die Theorie vorschlägt. Die<br />

moralischen Wissenschaften haben übrigens in dieser Hinsicht einiges vor den Naturwissenschaften<br />

voraus. In den Naturwissenschaften gehören alle Mittel zur sogenannten Außenwelt;<br />

in den moralischen Wissenschaften gehört nur die Hälfte der Mittel zu dieser Kategorie, die<br />

andere Hälfte liegt im Menschen selber; mithin handelt es sich zur Hälfte nur darum, daß der<br />

Mensch die Notwendigkeit einer bestimmten Besserung stark genug empfindet; schon diese<br />

Empfindung bildet einen wesentlichen Teil der Bedingungen, deren es zur Besserung bedarf.<br />

Wir haben aber gesehen, daß diese, von dem Stimmungszustand des Menschen selbst abhängenden<br />

Bedingungen nicht ausreichen: es müssen auch materielle Mittel hinzukommen. Hinsichtlich<br />

dieser Hälfte der Bedingungen, hinsichtlich der materiellen Mittel, sind wir in den<br />

praktischen Fragen der moralischen Wissenschaften noch bedeutend besser dran als hinsichtlich<br />

der im Menschen selbst liegenden Bedingungen. Früher, als die Naturwissenschaften<br />

noch wenig entwickelt waren, konnte es in der Außenwelt unüberwindliche Schwierigkeiten<br />

geben, die der Befriedigung der moralischen Bedürfnisse des Menschen im Wege standen.<br />

Heute ist es anders geworden: die Naturwissenschaften bieten uns bereits so wirkungsvolle<br />

Mittel zur Beherrschung der Außenwelt an, daß in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten<br />

mehr bestehen. Wenden wir uns, um ein Beispiel zu geben, noch einmal der praktischen Frage<br />

zu, auf welche Weise die Menschen so gut werden könnten, daß die unguten Menschen<br />

auf der Welt zur Seltenheit würden und die bösen Eigenschaften im Leben jede Bedeutung<br />

verlören, weil sie sich den Menschen nur in ganz wenigen Fällen bemerkbar machen würden.<br />

Die Psychologie lehrt, daß die ergiebigste Quelle für das Auftreten böser Eigenschaften in<br />

dem Mangel an Mitteln zur Befriedigung von Bedürfnissen liegt, daß der Mensch fast immer<br />

nur dann böse handelt, das heißt anderen Schaden zufügt, wenn er gezwungen ist, ihnen etwas<br />

zu rauben, um selbst nicht eine für ihn [130] wichtige Sache entbehren zu müssen. Bei<br />

Mißernten zum Beispiel, wenn es nicht genug Nahrung für alle gibt, steigt die Zahl der Verbrechen<br />

und aller möglicher anderer böser Handlungen außerordentlich an: die Menschen<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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