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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 348<br />

Aber es gibt einen Umstand, der mich oft gezwungen hat, die Tatsachen des menschlichen<br />

Lebens in einem anderen Licht zu sehen, als wie sie sich den Menschen darstellen, die diese<br />

Dinge nicht wissenschaftlich analysieren:<br />

Ich bin gewöhnt, bei der Analyse von Tatsachen meine persönlichen Wünsche auszuschalten.<br />

Bei vielen Menschen ist das eine Naturgabe. Solche Menschen nennt man „einsichtig“.<br />

Ich habe vielleicht keine angeborene Einsicht. Aber ich liebe die Wahrheit. Und ich habe<br />

mich sehr viel mit wissenschaftlicher Analyse beschäftigt. Deshalb bin ich – wie immer ich<br />

auch gewöhnlich über die Dinge meines persönlichen Lebens geurteilt habe, und ich nehme<br />

an, daß ich in diesen Dingen durchaus nicht einsichtig war – in wissenschaftlichen Dingen<br />

gewöhnt die Tatsachen nicht ganz schlecht zu untersuchen<br />

Die Masse der Menschen, die von Natur wenig einsichtig und nicht daran gewöhnt ist, die<br />

Tatsachen des Menschenlebens wissenschaftlich zu analysieren, neigt sehr dazu, an [699]<br />

Stelle der Tatsachen die eignen Gedanken, Neigungen und Wünsche zu setzen oder, wie man<br />

es gewöhnlich nennt, das Leben durch Brillen in der Farbe des eignen Geschmacks zu betrachten.<br />

Davon wird noch viel die Rede sein.<br />

Halten wir jetzt einen Zug dieser Gewohnheit fest.<br />

Einer unserer Wünsche besteht darin, daß andere Menschen ebenso denken wie wir; besonders<br />

aber die Menschen, deren Meinung für uns wichtig ist.<br />

Und so kommt es, daß sehr viele, wenn sie etwas lesen, was ein von ihnen als Autorität betrachteter<br />

Mensch geschrieben hat, seinen Worten einen Sinn beilegen, der ihnen gefällt.<br />

Von dieser Schwäche bin ich frei.<br />

Übrigens allein schon deshalb, weil diese Schwäche selten Gelegenheit hat, an mich heranzukommen;<br />

und mich, da sie mir ungewohnt ist, nur sehr schwach berührt. Nur sehr wenige<br />

Dichter, Gelehrte und überhaupt Schriftsteller sind für mich Autoritäten; infolgedessen<br />

kommt mir der Wunsch, Bücher, der Wahrheit entgegen, auf meine Weise umzudeuten, selten<br />

und ist mir ungewohnt; und von einer ungewohnten Schwäche hält man sich leicht frei.<br />

Ein Beispiel: Ich bin geneigt, meine Gedanken über Gegenstände der Naturwissenschaft den<br />

Gedanken von Laplace unterzuordnen. Und wenn es vorkäme, daß ich bei Laplace auf einen<br />

Gedanken über irgendeinen mich interessierenden, aber mir nicht ganz verständlichen Gegenstand<br />

der Naturwissenschaft stieße, könnte bei mir der Wunsch entstehen, diesen seinen<br />

Gedanken entsprechend meiner persönlichen Meinung von der Frage umzudeuten. Und hier<br />

müßte ich einige Anstrengungen machen, um mich zur sorgfältigen Unterscheidung zu bringen,<br />

ob ich den Worten Laplaces nicht einen Sinn unterschiebe, den ich gern in ihnen sehen<br />

möchte. Denn das könnte aus dem Wunsch heraus geschehen, meine mir gefallende Meinung<br />

nicht durch den Widerspruch zu Laplace erschüttert zu sehen. Aber nur er allein, Laplace, nur<br />

er allein von allen Fachleuten der Naturwissenschaft, die nach Newton gelebt haben, hat für<br />

mich diese Bedeutung.<br />

[700] Bei jedem anderen denke ich völlig gleichgültig: „Stimmt er mit mir überein“ – das hat<br />

nicht den geringsten Einfluß auf mein Urteil darüber, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß<br />

die mir richtig erscheinende Meinung wirklich richtig ist; „steht er im Gegensatz zu mir“ –<br />

das beeinträchtigt nicht im geringsten die Richtigkeit der Meinung für mich persönlich.<br />

Und wozu hätte ich es nötig, seine Worte nicht in dem Sinn zu verstehen den sie wirklich<br />

haben, sondern so, wie s mir passen würde<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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