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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 34<br />

der Grammatik quälen, als man uns gequält hat, und sie ihnen besser beibringen, als man sie<br />

uns beigebracht hat.<br />

Die theoretischen Fragen, die bei dem gegenwärtigen Stand der moralischen Wissenschaften<br />

noch keine Lösung gefunden haben, sind also im allgemeinen von solcher Art, daß niemand,<br />

der nicht Fachmann ist, auch nur auf sie verfallen würde; dem Nichtfachmann fällt es sogar<br />

schwer zu verstehen, wie gelehrte Männer sich mit der Erforschung solcher Kleinigkeiten abgeben<br />

können. Dagegen haben jene theoretischen Fragen, die den Nichtfachleuten gewöhnlich<br />

wichtig und schwierig erscheinen, im allgemeinen für die heutigen Denker längst aufgehört,<br />

Fragen zu sein, weil sie sich bei der ersten Berührung mit dem mächtigen Apparat der wissenschaftlichen<br />

Analyse sehr leicht unzweifelhaft lösen lassen. Die Hälfte dieser Fragen erweist<br />

sich einfach als Produkt mangelnder Denkgewohnheit, die andere Hälfte wird durch allgemein<br />

bekannte Erscheinungen beantwortet. Was wird aus der Flamme, die über dem Docht einer<br />

brennenden Kerze schwebt, wenn wir die Kerze auslöschen Ist der Chemiker überhaupt bereit,<br />

diese Worte als Frage zu bezeichnen Er nennt sie einfach eine sinnlose Wortverbindung,<br />

die der Unkenntnis der allerelementarsten, einfachsten Tatsachen der Wissenschaften entspringt.<br />

Er sagt: das Brennen der Kerze ist ein chemischer Prozeß; die Flamme ist eine der<br />

Erscheinungen dieses Prozesses, eine seiner Seiten, einfach gesagt, eine seiner Eigenschaften;<br />

wenn wir die Kerze auslöschen, machen wir dem chemischen Prozeß ein Ende; selbstverständlich<br />

verschwinden mit seiner Beendigung auch seine Eigenschaften; die Frage aufwerfen, was<br />

mit der Flamme der Kerze geschieht, wenn wir die Kerze auslöschen, ist dasselbe, als wollte<br />

jemand fragen, was in der Zahl 25 von der Ziffer 2 übrigbleibt, wenn wir die ganze Zahl ausstreichen<br />

– es bleibt einfach nichts übrig, weder von der Ziffer 2 noch von der Ziffer 5: sie<br />

sind doch beide ausgestri-[127]chen; so fragen kann nur jemand, der selber nicht versteht, was<br />

es heißt, eine Ziffer aufschreiben und sie ausstreichen; auf alle Fragen solcher Leute gibt es<br />

nur eine Antwort: Lieber Freund! Sie verstehen nichts von Arithmetik und täten gut daran, sie<br />

zu studieren. Da wird zum Beispiel die verzwickte Frage aufgeworfen: ist der Mensch ein gutes<br />

oder ein böses Wesen Eine Unmenge Menschen schwitzt über der Lösung dieses Problems,<br />

fast die Hälfte der Schwitzenden kommt zu dem Schluß: der Mensch ist von Natur gut;<br />

andere, die ebenfalls fast eine Hälfte der Schwitzenden ausmachen, kommen zu einem anderen<br />

Ergebnis: der Mensch ist von Natur böse. Neben diesen zwei gegensätzlichen dogmatischen<br />

Parteien bleiben ein paar Skeptiker übrig, die die einen wie die anderen auslachen und<br />

der Meinung sind: diese Frage ist nicht zu beantworten. Man braucht jedoch nur zur wissenschaftlichen<br />

Analyse zu greifen, und gleich wird die Sache im höchsten Grade einfach. Der<br />

Mensch liebt das Angenehme und scheut das Unangenehme – hierüber kann es, scheint’s, keinen<br />

Zweifel geben, weil das Prädikat hier einfach das Subjekt wiederholt: A ist gleich A – das<br />

dem Menschen Angenehme ist das dem Menschen Angenehme, das dem Menschen Unangenehme<br />

ist das dem Menschen Unangenehme. Gut ist, wer anderen Gutes tut, böse ist, wer anderen<br />

Böses tut – das ist, scheint’s, ebenso einfach und klar. Verbinden wir jetzt diese einfachen<br />

Wahrheiten – und wir erhalten als Schlußfolgerung: gut ist der Mensch dann, wenn er,<br />

um selbst etwas Angenehmes zu erhalten, anderen etwas Angenehmes tun muß; böse ist er<br />

dann, wenn er gezwungen ist, sich eine Annehmlichkeit dadurch zu verschaffen, daß er anderen<br />

eine Unannehmlichkeit zufügt. Die menschliche Natur darf man hier weder für das eine<br />

rügen noch wegen des anderen loben; alles hängt von den Umständen, den Verhältnissen, den<br />

Institutionen ab. Wenn bestimmte Verhältnisse konstanten Charakter tragen, wird sich in dem<br />

Menschen, der sich unter ihnen geformt hat, die Gewohnheit ausbilden, auf eine diesen Verhältnissen<br />

gemäße Weise zu handeln. Deshalb kann man finden, daß Iwan gut, Pjotr dagegen<br />

böse ist; diese Urteile beziehen sich jedoch nur auf einzelne Menschen und nicht auf den Menschen<br />

im allge-[128]meinen, wie sich auch die Begriffe des gewohnheitsmäßigen Bretterhobelns,<br />

des Schmiedens usw. nur auf einzelne Menschen beziehen und nicht auf den Menschen<br />

im allgemeinen. Iwan ist Tischler, aber es läßt sich nicht sagen, was der Mensch im allgemei-<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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