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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 334<br />
[673] Die Nichtexistenz der vierten Dimension ist für uns also nur die Folge der besonderen<br />
Konstruktion unserer Sinne! – Es ist keine Tatsache, daß der Raum drei Dimensionen hat; das<br />
scheint uns nur so! Es gehört nicht zur Natur der Dinge, drei Dimensionen zu haben, das ist<br />
nur eine Illusion, die dem schlechten Bau unserer Sinne entspringt. Wir sind in dieser Hinsicht<br />
nur „von Jugend auf Blinde“!<br />
Meine lieben Freunde, kann ein Mensch, der seine gesunden Sinne beisammen hat, derart törichten<br />
Galimathias im Kopfe haben Solange er nicht herumphilosophiert, ist das unmöglich,<br />
aber wenn er, ohne auf das Verständnis und die richtige Einschätzung der Philosophie Kants<br />
vorbereitet zu sein, sich daranmacht, im Geschmacke – wie er meint –Kants herumzuphilosophieren,<br />
kann sich in seinem Kopf dadurch aller möglicher Unsinn bilden, daß in diesem seinem<br />
armen Köpfchen Wortverbindungen entstehen, deren Sinn ihm unklar ist. Und ohne zu<br />
verstehen, worüber und was er denkt, kann er alle Art Unsinn für tiefe Weisheit halten.<br />
Stellen wir uns einmal eine russische Frau vom Dorfe vor, die nicht Französisch kann, aber<br />
gern als Weltdame glänzen möchte, die ausgezeichnet Französisch spricht. Sie schnappt<br />
schnell ein paar französische Phrasen auf; in die ihr fremde Intonation kann sie sich nicht<br />
hineinhören; und selbst die Laute, die sie richtig aufgefaßt hat, kann sie nicht ordentlich aussprechen;<br />
der Satzbau aber ist ihr vollends unverständlich. Was wird aus all diesem mondänen,<br />
französischen Geplapper – Sie steht als dumme Gans da, die völlig idiotisches Zeug<br />
daherredet. Aber sie ist vielleicht sehr klug; sie hat nur einen Fehler: den törichten Wunsch,<br />
mit ihrer mondänen Bildung zu glänzen. Das ist alles. Wohin kann sie mit dieser ihrer<br />
Schwäche kommen Die Dummheiten und das Unheil, die sie mit ihrem Dünkel anrichten<br />
kann; kennen keine Grenzen; aber gewöhnlich kommt es gar nicht so weit, daß solche dummen<br />
Gänse im medizinischen Sinn den Verstand verlieren, obwohl es manche von ihnen auch<br />
dazu bringen. Gewöhnlich beschränkt sich ihr Unglück darauf, daß sie irgendwelchen Spitzbuben<br />
und Betrügerinnen in die Finger geraten, tüchtig gerupft [674] werden und so gerupft,<br />
ausgelacht und verhöhnt in ihren Dorfwinkel zurückkehren.<br />
Wir werden sehen, daß Helmholtz und seinen naturwissenschaftlichen Gefährten, die sich<br />
gern als Philosophen aufspielen, das gleiche, nur kleine, relativ gesprochen, nur kleine Unglück<br />
passiert: sie verlieren nicht den Verstand; sie geraten nur gewissenlosen Leuten in die<br />
Finger: das ist alles.<br />
Kehren wir zu dem Aufsatz dieser Bäuerin männlichen Geschlechts, dieses in ihrem Kaff<br />
sehr gescheiten Dorfweibs zurück, das eben leider doch ein Weib bleibt, das sich in die<br />
Hauptstadt aufgemacht hat, um deren Bewohner durch ihre weltmännische Bildung in Erstaunen<br />
zu setzen. – Mathematik. – Was heißt hier Mathematik Wen außer den Mathematikern<br />
interessiert sie Sie ist ein abgelegenes Dorf, um das sich außer seinen Einwohnern niemand<br />
kümmert. Philosophie – das ist gleich ganz etwas anderes. Über die Philosophen wird<br />
in der ganzen gebildeten Gesellschaft der gesamten Welt geredet. Das sind Hauptstädter, die<br />
Würdenträger der Hauptstadt. Und was wird geschehen, was, wenn dieses Weib auf dem Ball<br />
der hauptstädtischen Würdenträger erscheint – Sie wird mit ihrem Geist, mit ihrem weltmännischen<br />
Wissen und Talent in der ganzen Welt berühmt werden.<br />
Und so sehen wir, wie dieses ehrenwerte – unbestritten, im Gegenteil, ich sage es ja selber:<br />
das für seine Tätigkeit auf dem Dorfe von uns hochverehrte – Dorfweib männlichen Geschlechts<br />
– Herr Helmholtz – einen Ausflug in die Hauptstadt unternimmt, und schon sind<br />
wir die begeisterten Zeugen seiner ersten Heldentaten auf dem Ball im weltmännischen Salon<br />
Kants. Unser Dorfweib hat sich schon als „hypothetisches, zweidimensionales“ Wesen aufgespielt<br />
und die Leute auf sehr amüsante Weise bloßgestellt: sie kennen den vierdimensionalen<br />
Raum nur deshalb nicht, weil sie kein physiologisches Organ zur Aufnahme von Empfindungen<br />
aus der vierten Dimension besitzen.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013