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15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 332 Der Fall ist dem Wesen nach so einfach, daß er in allen technischen Einzelheiten sogar für mich, bei aller Kümmerlichkeit meiner mathematischen Kenntnisse, vollauf verständlich ist. Es handelt sich um folgendes: Jede geometrische Kurve hat ihre Besonderheiten. Die Ellipse hat nicht dieselben Eigenschaften wie die Hyperbel oder die Zykloide oder die Sinusoide. Wer wüßte das nicht – Ich weiß sehr wenig von der Ellipse; von der Hyperbel noch weniger; aber selbst ich begreife: das sind verschiedene Linien. Und wenn sie verschieden sind, dann ist auch die Gleichung der Ellipse – das versteh’ ich –verschieden von der Gleichung der Hyperbel. Ich kenne weder die eine noch die andere der Formeln. Aber sie sind verschieden, und das ist für mich verständlich. Die Sinusoide kenne ich fast gar nicht; aber ich weiß: sie hat ihre besondere Gleichung. Was eine Zykloide ist, weiß ich auch beinahe nicht. Aber ich weiß: auch sie hat ihre bestimmte eigne Gleichung. Und was folgt daraus – nicht alles, was auf die Ellipse zutrifft, trifft auf jene drei Linien zu. Das gleiche gilt für jede einzelne von ihnen. Das gleiche auch für jede andere geometrische Linie. Wird uns nun etwa einfallen, den Ausdruck zu verwenden: „die Geometrie der Ellipse“ statt: „das Kapitel der Kegelschnitte, welches die Eigenschaften der Ellipse behandelt“; „die Geometrie der Hyperbel“ statt: „das zweite Kapitel der Kegelschnitte, welches die Eigenschaften der Hyperbel behandelt“, usw. – wir können natürlich so reden, wenn wir wollen; aber dann müssen wir auch sagen: „die Geome-[670]trie gleichseitiger gradliniger Flächendreiecke“; „die Geometrie gleichschenkliger usw. Dreiecke“ usw. Letzten Endes bekommen wir dann so viele „Geometrien“, wie es in der „Geometrie“ im gewöhnlichen Sinne verschiedene Formeln gibt. Aber was „schaffen“ wir denn, wenn wir diese tausende, ja wohl Millionen „Geometrien“ dieser Art „schaffen“ Neue Wortgebilde, nichts weiter. Das müssen Wir festhalten. Wir haben es hierbei nur mit Worten zu tun. Helmholtz aber ist hierüber – hierüber – gestolpert, der Ärmste. Er und gewisse – ich besinne mich im Augenblick nicht, aber es wird mir schon noch einfallen welche, – er und gewisse andere „neuste“ Meister im Formelmalen haben es fertiggebracht, irgendwelche Gleichungen irgendwelcher Linien zu zeichnen, von denen sie sich einbilden, ihre „Entdeckungen“ seien schrecklich wichtig. Stimmt das Sind das überhaupt Entdeckungen – Ich vermute: es handelt sich um Details, die Euler oder Lagrange eigentlich nur deshalb nicht in ihre Traktate und Aufsätze aufgenommen haben, weil ihnen – Papier und Zeit zu schade waren, derart inhaltlose und selbst für mich offenkundige Lösungen von Nebensächlichkeiten aufzuschreiben. Ihr werdet selbst besser beurteilen können, ob es so ist – aber ob das zutrifft oder nicht, meine lieben Freunde, ist für das Wesen der Sache gleichgültig. Mögen diese Entdeckungen von Helmholtz und Co. wirklich Entdeckungen und sogar „große“ sein; welche Einbuße erleiden die Axiome Euklids durch diese Entdeckungen – Selbstverständlich nicht die geringste. Jede höhere geometrische Figur ist nur eine besondere Kombination jener elementarsten Kombinationen, von denen der „Euklid“ handelt. Zum Beispiel: wir ziehen den Kreis auseinander und erhalten die Ellipse; wir schneiden die Ellipse in der Mitte ihrer großen Halbachse durch und biegen die Hälfte auseinander, – dann erhalten wir zuerst die Parabel und dann die Hyperbel. Ich drücke mich wahrscheinlich nicht richtig aus. Aber Ihr werdet verstehen, was ich sagen will. Alle Formeln der Geometrie der krummen Linien sind nur Abwandlungen oder Kombinationen der ele-[671]mentaren Lösungen des „Euklid“. Möge die Geometrie sich vervollkommnen; das ist ausgezeichnet; aber sie enthält heute absolut nichts, was nicht mit dem „Euklid“ übereinstimmte, und wird nie Derartiges enthalten. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 333 So wird auch keinerlei Entwicklung der Mathematik im allgemeinen absolut nichts in die Mathematik einführen, was nicht mit den Regeln der Addition und der Subtraktion übereinstimmte, ja – steigen wir noch tiefer auf der Leiter des Wissens hinab – was nicht im Einklang stände sogar mit der Rechenkunst der Wilden, die nur bis drei zu zählen verstehen. Weiß denn Helmholtz das wirklich nicht – Er hat sich im Philosophieren vergaloppiert und ist vom Wege abgekommen; darin besteht seine ganze Sünde; nur darin. So. Er ist also nur vom Wege abgekommen. Aber wie das passiert ist, das ist kurios. Da hat er samt seiner Kumpanei irgendwelche, meiner Meinung nach unbedeutende, seiner Meinung nach große Entdeckungen gemacht. Meinetwegen große Entdeckungen. Hat sie gemacht und bildet sich ein: hier sind „neue Systeme der Geometrie“ gefunden, die mit dem „Euklid“ nicht übereinstimmen. Dahin kann der Mensch mit der „Untersuchung der philosophischen Bedeutung“ geraten, wenn er sich ans Philosophieren macht und in Philosophie von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Und man muß diesen „neuen Systemen der Geometrie“ Gerechtigkeit widerfahren lassen: sie enthalten solche Neuheiten ‚ daß es einem Vergnügen macht, sie zu lesen. Hier ein Beispiel: Seite 4, Zeile 9. „Denken wir uns verstandesbegabte Lebewesen von nur zwei Dimensionen.“ Diese Lebewesen „leben auf einer Oberfläche“, und außer dieser „Oberfläche“ gibt es für sie keinen „Raum“. Sie selbst sind „zweidimensionale Wesen“, und ihr „Raum“ hat nur „zwei Dimensionen“. Was ist das für eine dumme Ungereimtheit – Solches Geschwätz darf sich höchstens ein kleines Kind erlauben, das eben anfängt, die elementare Geometrie zu studieren und, weil es seine erste Lektion schlecht gelernt hat, aus dem [672] Konzept kommt, wenn der Lehrer fragt: „Was ist ein geometrischer Körper“ Der Kleine verwechselt die Worte „Oberfläche“ und „Körper“ und antwortet entsprechend dem „neuen System der Geometrie“ von Helmholtz. Aber Helmholtz selber redet im Sinne des „geometrischen Systems“ dieses Schuljungen, weil er sich gar zu sehr auf „philosophische Forschung“ eingelassen hat. Auf der gleichen Seite weiter unten stellt Helmholtz allen Ernstes Überlegungen über einen „vierdimensionalen Raum“ an; – ja – vierdimensional. Was soll das bedeuten – Das ist ganz einfach. Wir schreiben den Buchstaben a nieder; oben setzen wir die kleine Zahl 4 hinzu; was gibt das Das gibt a 4 . Und was ist das Das ist eine Menge oder Größe in vierter Potenz. Übersetzen wir das in die Sprache der Geometrie. Die Potenz wird in der Sprache der Geometrie „Dimension“ genannt. Was ist nun also a 4 – Das ist ein „vierdimensionaler Raum“. Und wenn wir statt 4 zum Beispiel 999 schreiben, wieviel Dimensionen hat dann dieser Raum – Das ist dann ein „Raum von neunhundertneunundneunzig Dimensionen“. Und wenn wir statt neunhundertneunundneunzig ein Zehntel schreiben, was ergibt das – Einen „Raum von ein Zehntel Dimension“. Das stimmt wirklich: sie sind ganz und gar nicht übel, die „neuen Systeme der Geometrie“. Aber Helmholtz bildet sich ein, daß der in seinem Kopfe zustande gekommene Galimathias von dem „zweidimensionalen Raum“ und dem „vierdimensionalen Raum“ wirklich einen bedeutsamen Sinn hat. Und er stellt völlig ernste Überlegungen über „die Möglichkeit derartiger Räume“ an. Beispielsweise auf derselben Seite 4: ‚‚Da uns gar kein sinnlicher Eindruck bekannt ist ‚ der sich auf einen solchen nie beobachteten Vorgang bezöge, wie für uns eine Bewegung nach einer vierten, für jene Flächenwesen eine Bewegung nach der uns bekannten dritten Dimension des Raumes wäre, so ist ein solches ‚Vorstellen‘ nicht möglich, ebensowenig, wie ein von Jugend auf absolut Blinder sich wird die Farbe ‚vorstellen‘ können.“ OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 332<br />

Der Fall ist dem Wesen nach so einfach, daß er in allen technischen Einzelheiten sogar für<br />

mich, bei aller Kümmerlichkeit meiner mathematischen Kenntnisse, vollauf verständlich ist.<br />

Es handelt sich um folgendes:<br />

Jede geometrische Kurve hat ihre Besonderheiten. Die Ellipse hat nicht dieselben Eigenschaften<br />

wie die Hyperbel oder die Zykloide oder die Sinusoide. Wer wüßte das nicht – Ich weiß sehr<br />

wenig von der Ellipse; von der Hyperbel noch weniger; aber selbst ich begreife: das sind verschiedene<br />

Linien. Und wenn sie verschieden sind, dann ist auch die Gleichung der Ellipse – das<br />

versteh’ ich –verschieden von der Gleichung der Hyperbel. Ich kenne weder die eine noch die<br />

andere der Formeln. Aber sie sind verschieden, und das ist für mich verständlich. Die Sinusoide<br />

kenne ich fast gar nicht; aber ich weiß: sie hat ihre besondere Gleichung. Was eine Zykloide ist,<br />

weiß ich auch beinahe nicht. Aber ich weiß: auch sie hat ihre bestimmte eigne Gleichung.<br />

Und was folgt daraus – nicht alles, was auf die Ellipse zutrifft, trifft auf jene drei Linien zu. Das<br />

gleiche gilt für jede einzelne von ihnen. Das gleiche auch für jede andere geometrische Linie.<br />

Wird uns nun etwa einfallen, den Ausdruck zu verwenden: „die Geometrie der Ellipse“ statt:<br />

„das Kapitel der Kegelschnitte, welches die Eigenschaften der Ellipse behandelt“; „die Geometrie<br />

der Hyperbel“ statt: „das zweite Kapitel der Kegelschnitte, welches die Eigenschaften der<br />

Hyperbel behandelt“, usw. – wir können natürlich so reden, wenn wir wollen; aber dann müssen<br />

wir auch sagen: „die Geome-[670]trie gleichseitiger gradliniger Flächendreiecke“; „die<br />

Geometrie gleichschenkliger usw. Dreiecke“ usw. Letzten Endes bekommen wir dann so viele<br />

„Geometrien“, wie es in der „Geometrie“ im gewöhnlichen Sinne verschiedene Formeln gibt.<br />

Aber was „schaffen“ wir denn, wenn wir diese tausende, ja wohl Millionen „Geometrien“<br />

dieser Art „schaffen“<br />

Neue Wortgebilde, nichts weiter. Das müssen Wir festhalten. Wir haben es hierbei nur mit<br />

Worten zu tun.<br />

Helmholtz aber ist hierüber – hierüber – gestolpert, der Ärmste.<br />

Er und gewisse – ich besinne mich im Augenblick nicht, aber es wird mir schon noch einfallen<br />

welche, – er und gewisse andere „neuste“ Meister im Formelmalen haben es fertiggebracht,<br />

irgendwelche Gleichungen irgendwelcher Linien zu zeichnen, von denen sie sich einbilden,<br />

ihre „Entdeckungen“ seien schrecklich wichtig. Stimmt das Sind das überhaupt Entdeckungen<br />

– Ich vermute: es handelt sich um Details, die Euler oder Lagrange eigentlich nur<br />

deshalb nicht in ihre Traktate und Aufsätze aufgenommen haben, weil ihnen – Papier und<br />

Zeit zu schade waren, derart inhaltlose und selbst für mich offenkundige Lösungen von Nebensächlichkeiten<br />

aufzuschreiben. Ihr werdet selbst besser beurteilen können, ob es so ist –<br />

aber ob das zutrifft oder nicht, meine lieben Freunde, ist für das Wesen der Sache gleichgültig.<br />

Mögen diese Entdeckungen von Helmholtz und Co. wirklich Entdeckungen und sogar<br />

„große“ sein; welche Einbuße erleiden die Axiome Euklids durch diese Entdeckungen –<br />

Selbstverständlich nicht die geringste.<br />

Jede höhere geometrische Figur ist nur eine besondere Kombination jener elementarsten<br />

Kombinationen, von denen der „Euklid“ handelt. Zum Beispiel: wir ziehen den Kreis auseinander<br />

und erhalten die Ellipse; wir schneiden die Ellipse in der Mitte ihrer großen Halbachse<br />

durch und biegen die Hälfte auseinander, – dann erhalten wir zuerst die Parabel und dann die<br />

Hyperbel. Ich drücke mich wahrscheinlich nicht richtig aus. Aber Ihr werdet verstehen, was<br />

ich sagen will. Alle Formeln der Geometrie der krummen Linien sind nur Abwandlungen<br />

oder Kombinationen der ele-[671]mentaren Lösungen des „Euklid“. Möge die Geometrie<br />

sich vervollkommnen; das ist ausgezeichnet; aber sie enthält heute absolut nichts, was nicht<br />

mit dem „Euklid“ übereinstimmte, und wird nie Derartiges enthalten.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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