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15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 330 Ihr wißt wohl, daß der berühmte Tänzer Vestris sich im Ernst für den Wohltäter ganz Frankreichs und der gesamten Menschheit hielt. Er war ein gutmütiger Schwätzer. Nur dadurch überragte er, was eitles Geschwätz angeht, den Durchschnitt der gewöhnlichen Fachleute. Dem Wesen nach ist das Denken bei allen Ignoranten und Fachleuten aller Fächer genau dasselbe wie das naive Geschwätz eines Vestris. Meine lieben Freunde, Ihr werdet Euch erinnern: ich rede gleichermaßen von allen, die mit ihrem Fach prahlen. Die Musikanten kommen bei mir nicht schlimmer weg als die Juristen, die Tänzer nicht schlimmer als die Moralprediger: ich habe gesagt, daß sie sich alle die gleiche Lobes-[666]hymne singen, wobei jedesmal nur die Fachausdrücke wechseln. Und wenn ich jetzt von den Ignoranten unter den Naturwissenschaftlern und insbesondere unter den Astronomen und Mathematikern spreche, so bedeutet das keine Zurücksetzung hinter den Ignoranten irgendeines anderen ehrenwerten Berufs. Ich halte ihre Ignoranz durchaus nicht für anstößiger als die Ignoranz der Maler oder Juristen, der Sänger oder Tänzerinnen, oder der Prediger für diese Herren und Damen vom Fach. Auch ihre Prahlerei ist nicht törichter und nicht übler oder schädlicher. Ich muß gerade von ihnen nur deshalb reden, weil sie und nicht die Tänzerinnen oder Musikanten sich damit beschäftigen, das Menschengeschlecht darüber zu belehren, was die Hypothese Newtons ist. Wenn die Menschheit sich in dieser Angelegenheit an die Juristen oder die Tänzerinnen um Rat wenden würde, und nicht an die Naturforscher, und insbesondere die Astronomen und Mathematiker, so würde ich auf diesen Blättern hier die Naturwissenschaftler im allgemeinen und die Astronomen und Mathematiker im besonderen ungeschoren lassen, ja sie nicht einmal erwähnen, sondern nur die Juristen und Tänzerinnen der Ignoranz zeihen. Aber die Menschheit ahnt gar nicht, daß sie auch von Juristen und Tänzerinnen über Newtons Hypothese Antworten bekommen könnte, die nicht weniger gelehrt und nicht weniger gründlich sind als das, was sie von den Herren Astronornen und Mathematikern samt Konsorten zu hören bekommt: „Newtons Hypothese ist eine Hypothese“; gibt es etwas Einfacheres als diese Antwort Und welche Sängerin oder Tänzerin, ja sogar Waschfrau würde zögern, so zu antworten Aber ich würde für diese Antwort auch eine Waschfrau oder eine Schnitterin vom Dorfe rügen, wie ich die Astronomen und Mathematiker rüge: das, worum es in Newtons Hypothese geht, ist so allbekannt, daß es selbst für eine Schnitterin vom Dorfe ungehörig wäre, es nicht zu verstehen, wenn man ihr zwei Stunden Zeit gäbe, sich die Tatsachen anzuhören und sie zu durchdenken, und dann eine richtige Antwort von ihr verlangte. [667] Aber die Herren Naturwissenschaftler und insbesondere die Herren Mathematiker und Astronomen haben der vertrauensseligen Masse der Gebildeten einzureden gewußt, daß es in der „Frage“ – der Frage! – der Newtonschen Hypothese etwas gibt, was nur für die Fachleute der Naturwissenschaft, und insbesondere der Mathematik, begreiflich ist – in dieser „Frage“, für deren Beantwortung man aus der Mathematik nur das Einmaleins braucht; zu deren Beantwortung ganz leicht auch ein völlig ungebildeter Mensch kommen kann, der keine Zahlen kennt und nur mit Hilfe der Worte rechnet, mit denen die Zahlen in der Umgangssprache bezeichnet werden, der das Multiplizieren durch Addieren ersetzt und die Addition mit Hilfe seiner Finger vornimmt. Diese Herren Fachleute haben der Masse der Gebildeten die Lösung aus der Hand genommen und haben sich zu den einzigen Richtern über die „Frage“ der Newtonschen Hypothese erklärt, – der Frage! – die ebenso eine Frage ist wie die „Frage“, ob 2/2 wirklich = 4 ist. Es hat ihnen so gepaßt, die Sache derart hinzustellen. Und diese, nur von ihnen abhängende, ihnen passende Fragestellung zwingt mich, von ihnen zu reden. Es war nicht mein Wille, es war der ihre. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 331 Meine lieben Kinder, es fällt Euerm Vater schwer und tut ihm weh, von der Mehrzahl der Naturwissenschaftler und im gegebenen Falle vorwiegend von der Mehrzahl der Mathematiker so zu reden, wie er redet. Aber was ist da zu machen! Diese Herren zwingen ihn dazu. Alles muß seine Grenze haben. Auch die Ignoranz der Fachleute. Und für jeden verständigen Menschen gibt es eine Grenze des Nachgebens und Entgegenkommens. Und Euer Vater ist entgegen seinem Wunsch genötigt, die Frage zu stellen: was versteht eigentlich die Mehrheit der Herren großen Mathematiker unserer Zeit von den allereinfachsten, fundamentalsten der speziellen wissenschaftlichen Wahrheiten ihrer Spezialwissenschaft, der Mathematik Meine lieben Kinder, es bedrückt mich, daß das nötig ist. Ich habe eine hohe Meinung von den Verdiensten jener Gelehrten, in bezug auf die ich eine so demütigende Frage stelle. Es tut mir weh, daß ich es tun muß. Aber ich muß. [668] Und als Material für die Antwort besitze ich den Aufsatz von Helmholtz „Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrische Axiome“. Ich kenne den Aufsatz natürlich nur in russischer Übersetzung. Er steht in der Zeitschrift „Snanije“, Jahrgang 1876, Heft 8; ich werde die Übersetzung wörtlich zitieren. Die ersten Zeilen des Aufsatzes: * * * Aufgabe des vorliegenden Aufsatzes ist die Untersuchung der philosophischen Bedeutung der neusten Forschungen auf dem Gebiet der geometrischen Axiome und die Untersuchung der Möglichkeit, auf analytischem Wege neue Systeme der Geometrie mit anderen Axiomen als denen Euklids zu schaffen. Das sagt Herr Helmholtz, einer der größten – das weiß ich – Naturforscher und – das habe ich gelesen, glaube es gerne und sehe es teilweise selbst an diesem Artikel – einer der besten Mathematiker unserer Zeit. Alles in diesem Aufsatz ist mir durchaus klar verständlich. Und ich sage: er – er, der Autor –‚ er versteht nicht, wovon er und was er in diesem Aufsatz redet. Er bringt mathematische Fachausdrücke durcheinander und verwirrt in diesem Durcheinander seine Gedanken derart, daß sich in seinem Kopfe ein völlig sinnloses dummes Zeug gebildet hat, das er dann in diesem Artikel vorführt. Ich werde seine Fehler bei der Verwendung von Fachausdrücken richtigstellen, und der technische Teil seines Aufsatzes wird durch diese Verbesserungen einen richtigen Sinn erhalten. Ohne sie ist in ihm alles völlig sinnlos. Beachten wir in den angeführten ersten Zeilen ein Wörtchen. Helmholtz will die Philosophische Bedeutung des Gegenstands seines Aufsatzes untersuchen. Die „philosophische“. Aber von „Philosophie“ hat er nicht die geringste Ahnung. Und das ist auch der Grund, warum er bei einem Unsinn gelandet ist. [669] Er hat irgendwo etwas gelesen, ohne es verstanden zu haben. Wir werden noch sehen, was er gelesen hat und wo. Aber das werden wir sehen, er selber weiß es nicht. Indem er sich in die ihm unverständlichen Gedanken vertieft, kommt er auf den Einfall, es gäbe eine „Möglichkeit, auf analytischem Wege neue Systeme der Geometrie zu schaffen“ ‚ die sich von der Geometrie des „Euklid“ unterscheiden. Das ist das wilde Hirngespinst eines Ignoranten, der nicht versteht, was er denkt und worüber er denkt. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 330<br />

Ihr wißt wohl, daß der berühmte Tänzer Vestris sich im Ernst für den Wohltäter ganz Frankreichs<br />

und der gesamten Menschheit hielt. Er war ein gutmütiger Schwätzer. Nur dadurch<br />

überragte er, was eitles Geschwätz angeht, den Durchschnitt der gewöhnlichen Fachleute.<br />

Dem Wesen nach ist das Denken bei allen Ignoranten und Fachleuten aller Fächer genau dasselbe<br />

wie das naive Geschwätz eines Vestris.<br />

Meine lieben Freunde, Ihr werdet Euch erinnern: ich rede gleichermaßen von allen, die mit<br />

ihrem Fach prahlen. Die Musikanten kommen bei mir nicht schlimmer weg als die Juristen,<br />

die Tänzer nicht schlimmer als die Moralprediger: ich habe gesagt, daß sie sich alle die gleiche<br />

Lobes-[666]hymne singen, wobei jedesmal nur die Fachausdrücke wechseln.<br />

Und wenn ich jetzt von den Ignoranten unter den Naturwissenschaftlern und insbesondere<br />

unter den Astronomen und Mathematikern spreche, so bedeutet das keine <strong>Zur</strong>ücksetzung hinter<br />

den Ignoranten irgendeines anderen ehrenwerten Berufs. Ich halte ihre Ignoranz durchaus<br />

nicht für anstößiger als die Ignoranz der Maler oder Juristen, der Sänger oder Tänzerinnen,<br />

oder der Prediger für diese Herren und Damen vom Fach. Auch ihre Prahlerei ist nicht törichter<br />

und nicht übler oder schädlicher. Ich muß gerade von ihnen nur deshalb reden, weil sie<br />

und nicht die Tänzerinnen oder Musikanten sich damit beschäftigen, das Menschengeschlecht<br />

darüber zu belehren, was die Hypothese Newtons ist. Wenn die Menschheit sich in dieser<br />

Angelegenheit an die Juristen oder die Tänzerinnen um Rat wenden würde, und nicht an die<br />

Naturforscher, und insbesondere die Astronomen und Mathematiker, so würde ich auf diesen<br />

Blättern hier die Naturwissenschaftler im allgemeinen und die Astronomen und Mathematiker<br />

im besonderen ungeschoren lassen, ja sie nicht einmal erwähnen, sondern nur die Juristen<br />

und Tänzerinnen der Ignoranz zeihen.<br />

Aber die Menschheit ahnt gar nicht, daß sie auch von Juristen und Tänzerinnen über Newtons<br />

Hypothese Antworten bekommen könnte, die nicht weniger gelehrt und nicht weniger gründlich<br />

sind als das, was sie von den Herren Astronornen und Mathematikern samt Konsorten zu<br />

hören bekommt: „Newtons Hypothese ist eine Hypothese“; gibt es etwas Einfacheres als diese<br />

Antwort Und welche Sängerin oder Tänzerin, ja sogar Waschfrau würde zögern, so zu<br />

antworten<br />

Aber ich würde für diese Antwort auch eine Waschfrau oder eine Schnitterin vom Dorfe rügen,<br />

wie ich die Astronomen und Mathematiker rüge: das, worum es in Newtons Hypothese<br />

geht, ist so allbekannt, daß es selbst für eine Schnitterin vom Dorfe ungehörig wäre, es nicht<br />

zu verstehen, wenn man ihr zwei Stunden Zeit gäbe, sich die Tatsachen anzuhören und sie zu<br />

durchdenken, und dann eine richtige Antwort von ihr verlangte.<br />

[667] Aber die Herren Naturwissenschaftler und insbesondere die Herren Mathematiker und<br />

Astronomen haben der vertrauensseligen Masse der Gebildeten einzureden gewußt, daß es in<br />

der „Frage“ – der Frage! – der Newtonschen Hypothese etwas gibt, was nur für die Fachleute<br />

der Naturwissenschaft, und insbesondere der Mathematik, begreiflich ist – in dieser „Frage“,<br />

für deren Beantwortung man aus der Mathematik nur das Einmaleins braucht; zu deren Beantwortung<br />

ganz leicht auch ein völlig ungebildeter Mensch kommen kann, der keine Zahlen<br />

kennt und nur mit Hilfe der Worte rechnet, mit denen die Zahlen in der Umgangssprache bezeichnet<br />

werden, der das Multiplizieren durch Addieren ersetzt und die Addition mit Hilfe<br />

seiner Finger vornimmt. Diese Herren Fachleute haben der Masse der Gebildeten die Lösung<br />

aus der Hand genommen und haben sich zu den einzigen Richtern über die „Frage“ der<br />

Newtonschen Hypothese erklärt, – der Frage! – die ebenso eine Frage ist wie die „Frage“, ob<br />

2/2 wirklich = 4 ist. Es hat ihnen so gepaßt, die Sache derart hinzustellen. Und diese, nur von<br />

ihnen abhängende, ihnen passende Fragestellung zwingt mich, von ihnen zu reden.<br />

Es war nicht mein Wille, es war der ihre.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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