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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 33<br />
ist noch nicht bekannt. Ebenso weiß die Chemie noch nicht, ob Phosphor oder Schwefel<br />
wirklich einfache Körper sind, oder ob sie sich mit der Zeit nicht in einfache Elemente werden<br />
zerlegen lassen. Das sind Fälle theoretischen Nichtwissens. Eine andere Gattung von<br />
Fragen, die die Chemie heute noch nicht beantworten kann, bilden die zahlreichen Fälle, in<br />
denen sie außerstande ist, praktischen Forderungen gerecht zu werden. Sie ist imstande,<br />
Blausaure und Essigsäure herzustellen, Fibrin herzustellen vermag sie jedoch noch nicht. Die<br />
verschiedenen für sie noch unlösbaren Probleme sind, wie wir sehen, von sehr spezieller Art,<br />
so speziell, daß nur Leute, die die Chemie sehr gründlich kennen, auf sie verfallen. Das gleiche<br />
gilt von den Fragen, die die moralischen Wissenschaften heute noch nicht beantworten<br />
können. Die Psychologie stellt zum Beispiel folgende Tatsache fest: ein geistig schwach entwickelter<br />
Mensch ist nicht imstande, ein Leben zu verstehen, das sich von seinem eigenen<br />
Leben unterscheidet; je mehr sich sein Geist entwickelt, um so leichter fällt es ihm, sich ein<br />
Leben vorzustellen, das dem seinen nicht ähnelt. Wie ist diese Tatsache zu erklären Der heutige<br />
Stand der Wissenschaft erlaubt noch keine streng wissenschaftliche Beantwortung der<br />
Frage, es gibt nur verschiedene Vermutungen. Sagen Sie jetzt, welcher Mensch wohl, ohne<br />
den heutigen Stand der Psychologie zu kennen, auf diese Frage verfallen ist Außer den Gelehrten<br />
hat kaum jemand diese Tatsache, von der die Frage ausgeht, auch nur bemerkt: sie ist<br />
ebenso abseitig wie die Frage nach dem metallischen oder nichtmetallischen Charakter des<br />
Wasserstoffs; Leute, die nichts von Chemie verstehen, kennen nicht nur eine solche Frage<br />
nicht, sondern wissen nicht einmal, was Wasserstoff ist. Für die Chemie jedoch ist dieser<br />
Wasserstoff, dessen Existenz man ohne sie gar nicht bemerkt hätte, außerordentlich wichtig.<br />
Genau so ist für die Psychologie die Tatsache außerordentlich wichtig, daß ein unentwickelter<br />
Mensch unfähig, ein entwickelter dagegen fähig [125] ist, ein von seinem eigenen Leben<br />
verschiedenes Leben zu begreifen. Wie die Entdeckung des Wasserstoffs zur Vervollkommnung<br />
der chemischen Theorie geführt hat, so hat auch die Entdeckung dieser psychologischen<br />
Tatsache zur Aufstellung der Theorie des Anthropomorphismus geführt, ohne die sich heute<br />
in der Metaphysik kein Schritt tun läßt. Und hier ein anderes psychologisches Problem, das<br />
bei dem heutigen Stand der Wissenschaft ebenso noch nicht exakt gelöst werden kann: Kinder<br />
neigen dazu, ihre Spielzeuge zu zerbrechen; woher kommt das Ist es richtig, dieses Zerbrechen<br />
nur als eine ungeschickte Form des Wunsches anzusehen, die Dinge nach dem eignen<br />
Bedarf umzuformen, als ungeschickte Form der sogenannten schöpferischen Tätigkeit<br />
des Menschen, oder haben wir es hier mit einem Überrest des reinen Zerstörungsdranges zu<br />
tun, den einige Schriftsteller dem Menschen zuschreiben Von dieser Art sind fast alle theoretischen<br />
Fragen, für die die Wissenschaft noch keine exakten Antworten gibt. Der Leser<br />
sieht, daß sie zu der Kategorie der Fragen gehören, deren Berechtigung und Wichtigkeit sich<br />
nur vor der Wissenschaft auftut, die nur für die Gelehrten verständlich sind, zur Kategorie der<br />
sogenannten technischen oder Spezialfragen, die für einfache Leute keinerlei Interesse besitzen<br />
und ihnen häufig sogar bedeutungslos vorkommen. Das sind alles Fragen ähnlich denen,<br />
aus welchem altslawischen Laut das u in dem Wort „рука“ („ruka“ – Hand) hervorgegangen<br />
ist, aus dem einfachen u (y) oder aus dem „Jus“, und nach welchen Regeln sich das Hauptwort<br />
„воз“ („wos“ – Gefährt, Wagen) aus dem Zeitwort „везу“ („wesu“ – ich ziehe) gebildet<br />
hat: warum der Buchstabe e sich hier in den Buchstaben o verwandelt hat. Für den Philologen<br />
sind diese Fragen außerordentlich wichtig, während sie für uns Nichtphilologen so gut wie<br />
gar nicht existieren. Wir wollen aber nicht übereilt die Gelehrten verlachen, die sich mit der<br />
Erforschung solcher scheinbar kleinlichen Dinge abgeben: die Entdeckung der Wahrheit in<br />
dergleichen scheinbar unwichtigen Dingen hat zu Resultaten geführt, die auch für uns einfache<br />
Leute wichtig sind: die Begriffe von einer ganzen Reihe wichtiger Tatsachen sind dabei<br />
geklärt worden, und wichtige Lebens-[126]beziehungen haben sich gewandelt. Dadurch, daß<br />
einige Männer die Bedeutung der als „Jus“ bezeichneten Laute entdeckten, wurde es möglich,<br />
den Grammatikunterricht vernünftiger zu gestalten, und man wird unsere Kinder weniger mit<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013