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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 320<br />
lehrtem“ Standpunkt aus geschrieben ist, obwohl sie heftige Ausfälle gegen die Verträumtheit<br />
enthält, ganz vom Streben nach der Wirklichkeit durchdrungen ist und jede wirklichkeitsfeindliche<br />
Phantasterei heftig angreift. Wir bringen hier als Beispiel ein Bruchstück; es folgt<br />
auf die (noch ganz im Geiste Hegels) gehaltene Erklärung, daß „die Werke der Dichtkunst<br />
höchste Wirklichkeit sind“.<br />
Es gibt Menschen, die ehrlich davon überzeugt sind, daß die Dichtung Traum und nicht Wirklichkeit ist, und daß<br />
es in unserem Zeitalter als einem positiven und industriellen Zeitalter keine Dichtung geben kann. Ein wahres<br />
Musterbeispiel von Ignoranz ein Unsinn ersten Ranges! Was ist Träumerei Hirngespinst ,Form ohne Inhalt, Ausgeburt<br />
einer verstörten Einbildung, eines müßigen Gehirns, eines herum lungernde Herzens! Und eine derartige<br />
Verträumtheit hat ihre Dichter in den Lamartines und ihre Dichtwerke in den ideal-sentimentalen Romanen von der<br />
Art des „Abbadona“ * gefunden; ist denn aber Lamartine ein Dichter und nicht bloß eine Einbildung – und ist „Abbadona“<br />
etwa ein Dichtwerk und nicht bloß eine Einbildung Und was soll dieser klägliche dieser altbackne Gedanke,<br />
daß unser Zeitalter positiv und industriell und deshalb angeblich kunstfeindlich ist Hat etwa nicht unser<br />
Zeitalter Leute hervorgebracht wie Byron, Walter Scott, Cooper Thomas Moore, Wordsworth Puschkin Gogol,<br />
Mickiewicz, Heine, Béranger, Öhlenschläger Tegnér und andere Sind nicht in unserem Zeitalter Schiller und<br />
Goethe tätig gewesen Hat nicht unser Zeitalter die Werke der klassischen Kunst und Shakespeare zu schätzen<br />
gewußt und verstanden Sind das etwa keine Tatsachen Der industrielle Charakter ist nur die eine Seite des vielseitigen<br />
19. Jahrhunderts, und er hat weder die Dichtung daran gehindert, in Gestalt der von uns genannten Dichter<br />
ihren höchsten Entwicklungsstand zu erreichen, noch die Musik, in der Gestalt ihres Shakespeares – Beethovens –‚<br />
noch die Philosophie, in Gestalt Fichtes Schellings und Hegels zu höchsten Höhen aufzusteigen. Gewiß, unser<br />
Zeitalter ist der Träu-[649]merei und der Verträumtheit feindlich gesinnt, und eben deshalb ist es ein großes Zeitalter!<br />
Verträumtheit ist im 19. Jahrhundert ebenso lächerlich, banal und fade wie Sentimentalität. Wirklichkeit – das<br />
ist die Parole und Losung unseres Jahrhunderts, Wirklichkeit in allem –sowohl im Glauben wie in der Wissenschaft,<br />
in der Kunst wie im Leben. Als mächtiges und männliches Zeitalter duldet es nichts Verlogenes, Gemachtes,<br />
Schwaches, Zerfahrenes, sondern liebt nur, was mächtig, kräftig und wesentlich ist. Es hat sich die freudlosen<br />
Lieder Byrons mutig und furchtlos angehört, und ist gleich ihrem düsteren Sänger entschlossen, lieber auf jede<br />
Freude und jede Hoffnung zu verzichten, als sich mit den Bettelfreuden und Bettelhoffnungen des vergangenen<br />
Jahrhunderts zufrieden zu geben. Es hat den verstandesmäßigen Kritizismus Kants und die verstandesmäßige These<br />
Fichtes ertragen; es hat mit Schiller alle Krankheiten des inneren, subjektiven Geistes durchlitten, der über die<br />
Negation zur Wirklichkeit vorzudringen strebte. Dafür erblickte es in Schelling die Morgenröte der unendlichen<br />
Wirklichkeit, die die Welt in der Lehre Hegels mit üppigem, herrlichem Tageslicht erleuchtete und die schon vor<br />
diesen beiden großen Denkern, noch unverstanden, in den Werken Goethes unmittelbar zutage getreten war...<br />
(„Otetschestwennyje Sapiski“, Heft VIII, Kritik, S. 11-12.)<br />
Obwohl in diesem Aufsatz ständig davon die Rede ist, daß die Dichtung unserer Zeit eine<br />
„Dichtung der Wirklichkeit, eine Dichtung des Lebens“ ist, wird der modernen Kunst doch<br />
hauptsächlich eine gänzlich abstrakte, lebensfremde Aufgabe gestellt: „Die Versöhnung des<br />
Romantischen mit dem Klassischen“, weil unser Zeitalter überhaupt das „Zeitalter der Versöhnung“<br />
in allen Sphären sein soll. Die Wirklichkeit selber ist hier noch einseitig verstanden:<br />
sie umfaßt nur das geistige Leben des Menschen, während die ganze materielle Seite des<br />
Lebens als „Schein“ aufgefaßt wird: „Der Mensch ißt, trinkt und kleidet sich – das ist eine<br />
Welt des Scheins, weil der Geist hieran nicht den geringsten Anteil hat“; der Mensch „empfindet,<br />
denkt und weiß sich als Organ, als Gefäß des Geistes, als endlicher Teil des Allgemeinen<br />
und Unendlichen – das ist die Welt der Wirklichkeit“ – das alles ist noch reine Hegelei.<br />
Aber zur Erläuterung der Theorie muß ihre Anwendung auf Kunstwerke gezeigt werden. Belinski<br />
wählt sich als Musterbeispiel für das wahrhaft poetische Epos die Erzählungen Gogols<br />
und geht dann zu einer ausführlichen, kritischen Analyse des „Revisor“ als des besten Beispiels<br />
für ein dramatisches Kunstwerk über... [650]<br />
* „Abbadona“ – ein Roman von N. Polewoj Die Red.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013