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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 32<br />

von irgend etwas Ähnlichem. So ist also die Tatsache, daß der Mensch, wenn er will, beim<br />

Aufstehen aus dem Bett die Möglichkeit hat, nicht mit dem Bein aufzutreten, mit dem aufzutreten<br />

ihm entsprechend der anatomischen Lage seines Körpers im Bett am bequemsten ist,<br />

sondern mit dem anderen Bein – diese Tatsache ist durchaus kein Beweis dafür, daß der<br />

Mensch ohne jede Ursache mit dem einen oder anderen Bein auftreten kann, sondern nur<br />

dafür, daß das Aufstehen aus dem Bett unter dem Einfluß von Ursachen vor sich gehen kann,<br />

die stärker sind als der Einfluß der anatomischen Lage seines Körpers vor dem Akt des Aufstehens.<br />

Die Erscheinung, die wir Wille nennen, ist selber ein Glied in einer Reihe von Erscheinungen<br />

und Tatsachen, die durch Kausalnexus miteinander verbunden sind. Sehr häufig<br />

ist die nächste Ursache dafür, daß sich in uns der Wille meldet, eine bestimmte Handlung zu<br />

vollziehen, ein Gedanke. Eine bestimmte Willenstendenz entspringt jedoch ebenfalls nur einem<br />

bestimmten Gedanken: wie der Gedanke, so der Wille; ist der Gedanke ein anderer, so<br />

ändert sich auch der Wille. Aber wieso kommt gerade dieser und kein anderer Gedanke zustande<br />

Wiederum liegt irgendein Gedanke, irgendeine Tatsache, kurz gesagt, irgendeine<br />

Ursache zugrunde. Die Psychologie sagt in diesem Falle das gleiche, was Physik oder Chemie<br />

in ähnlichen Fällen sagen: wenn eine bestimmte Erscheinung auftritt, muß man nach ihrer<br />

Ursache suchen und sich nicht mit der leeren Antwort zufrieden geben: sie ist von selbst<br />

aufgetreten ohne jede besondere Ursache – „ich habe so gehandelt, weil ich so wollte“. Ausgezeichnet,<br />

aber warum haben Sie so gewollt Wenn Sie darauf antworten: „einfach, weil ich<br />

so wollte“, so ist das ebenso, als wollten Sie sagen: „der Teller ist entzweigegangen, weil er<br />

entzweigegangen ist; das Haus ist abgebrannt, weil es abgebrannt ist“. Solche Antworten sind<br />

gar keine Antworten: sie sollen nur verbergen, daß man zu faul ist, nach den wahren Ursachen<br />

[123] zu suchen, und gar nicht den rechten Wunsch hat, die Wahrheit zu erfahren.<br />

Wenn irgend jemand fragt, warum das Gold gelb ist und das Silber weiß, werden ihm die<br />

Chemiker, bei dem heutigen Stand der Chemie, direkt zur Antwort geben, daß sie die Ursache<br />

bis heute noch nicht kennen, d. h. noch nicht wissen, in welchem Zusammenhang die gelbe<br />

Färbung des Goldes oder die weiße Färbung des Silbers mit anderen Qualitäten dieser Metalle<br />

steht, welches Gesetz, welche Umstände es verursacht haben, daß der Stoff, der die Form des<br />

Goldes oder Silbers angenommen hat, in dieser Form die Fähigkeit besitzt, in unserem Auge<br />

den Eindruck gelber oder weißer Färbung hervorzurufen. Das ist eine offene und ehrliche<br />

Antwort; sie besteht aber, wie wir sehen, in der Anerkennung es Nichtwissens. Dem reichen<br />

Manne fällt es leicht einzugestehen, daß er im Augenblick kein Geld hat – dieses Eingeständnis<br />

fällt ihm jedoch nur dann leicht, wenn alle Welt davon überzeugt ist, daß er wirklich reich<br />

ist; einem Menschen dagegen, der als Reicher gelten will, in Wirklichkeit aber arm ist, oder<br />

einem Menschen, dessen Kredit nicht mehr ganz fest steht, fällt es schwer zu sagen, daß er<br />

momentan nicht über Geld verfügt: er wird diese Wahrheit mit allerlei Listen zu verheimlichen<br />

suchen. So ging es bis vor kurzer Zeit den moralischen Wissenschaften: sie schämten<br />

sich zu sagen – hierüber wissen wir noch nicht genug. Heute ist es glücklicherweise anders:<br />

die Psychologie und die Moral-Philosophie verlassen das Stadium ihrer früheren wissenschaftlichen<br />

Armut, sie verfügen jetzt bereits über einen tüchtigen Vorrat an Reichtümern und können<br />

schon rundheraus gen: „das wissen wir noch nicht“, wenn sie es wirklich nicht wissen.<br />

Wenn nun die moralischen Wissenschaften auf sehr viele Fragen heute noch die Antwort<br />

geben müssen: „das wissen wir nicht“, so würden wir doch fehlgehen, wenn wir annehmen<br />

wollten, daß zu den Fragen, die sie heute noch nicht beantworten können, jene Fragen gehören,<br />

die nach einer der herrschenden Meinungen als prinzipiell unlösbar gelten. Nein, das<br />

Nichtwissen dieser Wissenschaften ist von ganz anderer Natur. Was ist beispielsweise der<br />

Chemie unbekannt [124] Sie weiß heute noch nicht, was aus dem Wasserstoff wird, wenn er<br />

aus dem gasförmigen in festen Zustand übergeht – ein Metall oder kein Metall; es spricht<br />

sehr viel für die Annahme, daß er zu einem Metall wird, ob aber diese Vermutung richtig ist,<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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