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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 318 Die Leute, die gegen Belinski. auftraten, griffen allzu offensichtliche und gewichtige Wahrheiten an; er selber trat nur gegen das auf, was ausgesprochen töricht und schädlich war; als Mensch von aufrechter Gesinnung und festem Charakter brachte er seine Meinung in starken Ausdrücken vor. Wer diese Eigenschaft jedoch mit Maßlosigkeit in den Meinungen verwechselt, der begeht einen schweren Fehler. Belinski sprach ganz im Gegenteil seine Meinungen eben deshalb besonders stark aus, weil sie eigentlich sehr gemäßigt Waren. Nach dieser notwendigen Bemerkung über den Charakter der Betrachtungsweise Belinskis im allgemeinen, müssen wir uns jetzt mit der Frage befassen, wie er das Verhältnis der Literatur zur Gesellschaft und zu den Interessen ansah, die sie bewegen. Belinski hat in einem seiner letzten Aufsätze seine Meinung hierüber so vollständig und so genau ausgesprochen, daß es besser ist, wenn wir seine eigenen Worte in der Beilage zu unserem Aufsatz anführen. Hier aber haben wir nur noch einige Bemerkungen zu machen, die als Erläuterung zu dem angefügten Bruchstück aus Belinskis Artikel dienen sollen. [645] Die Ansichten, die Belinski in diesem Bruchstück so stark und überzeugend ausspricht, stehen im genauen Gegensatz zu den Ideen der transzendentalen Philosophie, insbesonders des Hegelschen Systems, das seine Lehre von der Ästhetik auf dem Grundsatz aufbaut, daß der ausschließliche Gegenstand der Kunst die Verwirklichung der Idee des Schönen ist; nach dieser idealistischen Auffassung muß die Kunst sich eine völlige Unabhängigkeit von allen anderen Bestrebungen des Menschen, außer seinem Streben nach dem Schönen, bewahren. Eine solche Kunst wurde als reine Kunst bezeichnet. Auch in diesem Falle machte das Hegelsche System, wie fast in allen anderen Fällen, auf halbem Wege halt, verzichtete darauf, aus seinen Grundthesen strenge Schlußfolgerungen zu ziehen, und verschaffte dadurch veralteten Gedanken Eingang, die diesen Grundthesen widersprachen. So sagte es, die Wahrheit existiere nur in konkreten Erscheinungen, machte dabei aber in seiner Ästhetik die Idee des Schönen zur obersten Wahrheit, als ob diese Idee an sich existierte und nicht im lebendigen, tätigen Menschen. Dieser innere Widerspruch, der sich in fast allen übrigen Teilen des Hegelschen Systems wiederholt, bildete denn auch die Ursache dafür, daß es unbefriedigend ist. Was wirklich existiert, ist der Mensch, und die Idee des Schönen ist nur der abstrakte Begriff einer seiner Bestrebungen. Da aber im Menschen als einem lebendigen, organischen Wesen alle Teile und Bestrebungen untrennbar miteinander verbunden sind, so folgt hieraus, daß die Kunsttheorie auf der einen ausschließlichen Idee des Schönen begründen soviel bedeutet, wie in Einseitigkeit verfallen und eine der Wirklichkeit nicht entsprechende Theorie konstruieren. An jeder menschlichen Handlung sind alle Bestrebungen der menschlichen Natur beteiligt, wenn auch eine von ihnen an der betreffenden Sache vorwiegend interessiert ist. Deswegen ist auch die Kunst das Produkt nicht eines abstrakten Strebens nach dem Schönen (nach der Idee des Schönen), sondern der vereinten Wirkung aller Kräfte und Fähigkeiten des lebendigen Menschen. Da aber im menschlichen Leben das Bedürfnis beispielsweise nach Wahrheit, nach Liebe und nach [646] Verbesserung des Lebens wirklich stärker ist als das Streben nach dem Schönen, so dient die Kunst nicht nur stets in gewissem Grade als Ausdruck dieser Bedürfnisse (und nicht nur der Idee des Schönen), ihre Werke (die ja Werke des Menschenlebens sind, was man nie vergessen darf) werden vielmehr unter dem vorwiegenden Einfluß des Bedürfnisses nach Wahrheit (theoretischer oder Praktischer), nach Liebe und nach Verbesserung des Lebens geschaffen, so daß das Streben nach dem Schönen, entsprechend einem natürlichen Gesetz des menschlichen Handelns, der Diener dieser und anderer starker Bedürfnisse der menschlichen Natur ist. So sind alle besonders wertvollen Kunstwerke auch stets geschaffen worden. Bestrebungen, die vom wirklichen Leben abstrahieren, sind kraftlos; wenn daher das Streben nach dem Schönen auch manchmal OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 319 Anstrengungen gemacht hat, sich auf abstrakte Weise zu betätigen (indem es seine Verbundenheit mit anderen Bestrebungen der menschlichen Natur unterbrach), so konnte es dann doch nichts auch künstlerisch Hervorragendes produzieren. Die Geschichte kennt kein Kunstwerk, das nur durch die Idee des Schönen geschaffen worden wäre; wenn es derartige Werke auch gibt oder gegeben hat, so bleiben sie bei ihren Zeitgenossen völlig unbeachtet und werden von der Geschichte vergessen, weil sie zu schwach, sogar künstlerisch zu schwach sind. Dieser Ansicht ist die positive Wissenschaft, die ihre Begriffe aus der Wirklichkeit schöpft. Das in der Anlage vorgelegte Bruchstück beweist, daß das die endgültige Ansicht auch Belinskis von Kunst und Literatur war. Er war völlig frei von allem nur Phantastischen und Abstrakten. Wir haben jedoch gesehen, daß Belinski anfangs ein leidenschaftlicher Anhänger des Hegelschen Systems war, dessen starke Seite im Streben nach Wirklichkeit und nach Positivität bestand (wodurch es auch Belinski wie alle starken Persönlichkeiten der damaligen jungen Generation in Deutschland und teilweise auch bei uns zu bezaubern wußte), während seine schwache Seite war, daß dieses Streben unverwirklicht blieb, so daß fast der Gesamtinhalt des Systems abstrakt und unwirklich war. Bald nach seiner Übersiedelung nach Petersburg machte sich Belinski von sel-[647]ber bedingungslosen Anbetung Hegels frei. Aber der Gedanke und seine Ausführung, das Prinzip und die Schlußfolgerungen aus ihm sind zwei verschiedene Phasen, zwischen denen stets eine längere Entwicklungsperiode liegt. Sagen: „Ich verstehe, daß die Wirklichkeit Quelle und Maß aller Begriffe sein muß“, und alle seine Begriffe auf Grund der Wirklichkeit völlig umbilden, sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die zweite Aufgabe ist vielleicht noch wichtiger als die erste und kann nur durch fortgesetzte Arbeit gelöst werden. In den Petersburger Zeitschriften war Belinski ungefähr acht Jahre lang tätig. Seine ganze schrittweise Entwicklung in dieser Zeit in allen Einzelheiten verfolgen, hieße alle seine Aufsätze oder wenigstens die hundert oder hundertfünfzig wichtigsten analysieren. Aber auch das würde noch nicht genügen: man müßte auch Überlegungen mit heranziehen, die uns nur eine ausführliche Biographie liefern kann. Unsere Aufsätze haben aber ohnedies einen Umfang angenommen, der sehr viel größer ist, als wir bei Beginn ihrer Abfassung annahmen; die Sammlung solchen biographischen Materials würde ihre Beendigung für unbestimmte Zeit verzögern; eine Untersuchung alles dessen, was Belinski geschrieben hat, würde viele hunderte Seiten in Anspruch nehmen. Deshalb wollen wir nur in den allgemeinen Zügen die zwei Hauptperioden der Tätigkeit Belinskis in Petersburg kenntlich machen: in der ersten Hälfte ist das abstrakte Element in seinen Aufsätzen noch ziemlich stark; in der zweiten Hälfte verschwindet es fast ganz und gegen Ende dieser Hälfte vollständig, und das System der positiven Betrachtungsweise wird ganz konsequent. Das Material für die Charakteristik der ersten Periode wird uns eine Übersicht über den Inhalt einiger Aufsätze liefern, die Belinski in der ersten Zeit nach seiner Ankunft in Petersburg geschrieben hat; eine gründliche Untersuchung seiner letzten Aufsätze wird Gelegenheit geben, seine endgültigen Auffassungen von der russischen Literatur möglichst vollständig zu skizzieren; die Jahresübersichten über die russische Literatur, die seit 1841 regelmäßig erschienen, und die im Laufe von drei Jahren (1843-1846) geschriebenen Aufsätze über Puschkin werden die Bindeglieder zwischen der ersten und der [648] zweiten Skizze bilden. So werden wir, ohne die wichtigsten Gesichtspunkte aus dem Auge zu verlieren, den ersten Teil unserer „Skizzen“ vor Ende dieses Jahres abschließen Für das erste Heft der „Otetschestwennyje Sapiski“, Jahrgang 1840, schrieb Belinski eine kritische Untersuchung der Komödie Gribojedows, die etwa zu dieser Zeit in zweiter Auflage ‘erschienen war. Dieser Aufsatz gehört zu den gelungenste und glänzendsten Arbeiten Belinskis Er beginnt mit einer Darstellung der Theorie der Kunst, die von rein abstraktem, „ge- OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 318<br />

Die Leute, die gegen Belinski. auftraten, griffen allzu offensichtliche und gewichtige Wahrheiten<br />

an; er selber trat nur gegen das auf, was ausgesprochen töricht und schädlich war; als<br />

Mensch von aufrechter Gesinnung und festem Charakter brachte er seine Meinung in starken<br />

Ausdrücken vor.<br />

Wer diese Eigenschaft jedoch mit Maßlosigkeit in den Meinungen verwechselt, der begeht<br />

einen schweren Fehler. Belinski sprach ganz im Gegenteil seine Meinungen eben deshalb<br />

besonders stark aus, weil sie eigentlich sehr gemäßigt Waren.<br />

Nach dieser notwendigen Bemerkung über den Charakter der Betrachtungsweise Belinskis im<br />

allgemeinen, müssen wir uns jetzt mit der Frage befassen, wie er das Verhältnis der Literatur<br />

zur Gesellschaft und zu den Interessen ansah, die sie bewegen. Belinski hat in einem seiner<br />

letzten Aufsätze seine Meinung hierüber so vollständig und so genau ausgesprochen, daß es<br />

besser ist, wenn wir seine eigenen Worte in der Beilage zu unserem Aufsatz anführen. Hier<br />

aber haben wir nur noch einige Bemerkungen zu machen, die als Erläuterung zu dem angefügten<br />

Bruchstück aus Belinskis Artikel dienen sollen.<br />

[645] Die Ansichten, die Belinski in diesem Bruchstück so stark und überzeugend ausspricht,<br />

stehen im genauen Gegensatz zu den Ideen der transzendentalen Philosophie, insbesonders<br />

des Hegelschen Systems, das seine Lehre von der Ästhetik auf dem Grundsatz aufbaut, daß<br />

der ausschließliche Gegenstand der Kunst die Verwirklichung der Idee des Schönen ist; nach<br />

dieser idealistischen Auffassung muß die Kunst sich eine völlige Unabhängigkeit von allen<br />

anderen Bestrebungen des Menschen, außer seinem Streben nach dem Schönen, bewahren.<br />

Eine solche Kunst wurde als reine Kunst bezeichnet.<br />

Auch in diesem Falle machte das Hegelsche System, wie fast in allen anderen Fällen, auf halbem<br />

Wege halt, verzichtete darauf, aus seinen Grundthesen strenge Schlußfolgerungen zu ziehen,<br />

und verschaffte dadurch veralteten Gedanken Eingang, die diesen Grundthesen widersprachen.<br />

So sagte es, die Wahrheit existiere nur in konkreten Erscheinungen, machte dabei<br />

aber in seiner Ästhetik die Idee des Schönen zur obersten Wahrheit, als ob diese Idee an sich<br />

existierte und nicht im lebendigen, tätigen Menschen. Dieser innere Widerspruch, der sich in<br />

fast allen übrigen Teilen des Hegelschen Systems wiederholt, bildete denn auch die Ursache<br />

dafür, daß es unbefriedigend ist. Was wirklich existiert, ist der Mensch, und die Idee des<br />

Schönen ist nur der abstrakte Begriff einer seiner Bestrebungen. Da aber im Menschen als<br />

einem lebendigen, organischen Wesen alle Teile und Bestrebungen untrennbar miteinander<br />

verbunden sind, so folgt hieraus, daß die Kunsttheorie auf der einen ausschließlichen Idee des<br />

Schönen begründen soviel bedeutet, wie in Einseitigkeit verfallen und eine der Wirklichkeit<br />

nicht entsprechende Theorie konstruieren. An jeder menschlichen Handlung sind alle Bestrebungen<br />

der menschlichen Natur beteiligt, wenn auch eine von ihnen an der betreffenden Sache<br />

vorwiegend interessiert ist. Deswegen ist auch die Kunst das Produkt nicht eines abstrakten<br />

Strebens nach dem Schönen (nach der Idee des Schönen), sondern der vereinten Wirkung aller<br />

Kräfte und Fähigkeiten des lebendigen Menschen. Da aber im menschlichen Leben das Bedürfnis<br />

beispielsweise nach Wahrheit, nach Liebe und nach [646] Verbesserung des Lebens<br />

wirklich stärker ist als das Streben nach dem Schönen, so dient die Kunst nicht nur stets in<br />

gewissem Grade als Ausdruck dieser Bedürfnisse (und nicht nur der Idee des Schönen), ihre<br />

Werke (die ja Werke des Menschenlebens sind, was man nie vergessen darf) werden vielmehr<br />

unter dem vorwiegenden Einfluß des Bedürfnisses nach Wahrheit (theoretischer oder Praktischer),<br />

nach Liebe und nach Verbesserung des Lebens geschaffen, so daß das Streben nach<br />

dem Schönen, entsprechend einem natürlichen Gesetz des menschlichen Handelns, der Diener<br />

dieser und anderer starker Bedürfnisse der menschlichen Natur ist. So sind alle besonders<br />

wertvollen Kunstwerke auch stets geschaffen worden. Bestrebungen, die vom wirklichen Leben<br />

abstrahieren, sind kraftlos; wenn daher das Streben nach dem Schönen auch manchmal<br />

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