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15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 316 ohne sein Urteil mit diplomatischen Ausreden und doppelsinnigen Andeutungen zu verhüllen. Deshalb kamen Belinskis Meinungen den Menschen die überhaupt jedes aufrechte Wort als hart empfinden, so gemäßigt es auch sein mag, scharf vor: da läßt sich nichts machen, viele Menschen halten jede Aufrichtigkeit für Schärfe. Diejenigen aber, die den Sinn des Gelesenen verstehen, haben stets sehr wohl begriffen, daß die Wünsche und Hoffnungen Belinskis durchaus bescheiden waren. Er verlangte überhaupt nichts, was nicht jedem Menschen mit entwickeltem Geist als absolut notwendig erschienen wäre. Das erklärt, warum er bei dem Publikum das bei uns im allgemeinen in seinen Wünschen recht bescheiden ist, so starken Anklang fand. [641] In den Debatten mit seinen Gegnern pflegte Belinski nicht nachzugeben, und in den Polemiken, die er führte, gab es keinen Fall, wo der Streit nicht mit der völligen Niederlage des Gegners in allen Punkten geendet hätte: jede literarische Debatte schloß damit ab, daß der Gegner Belinskis in den Augen des besten Teils des Publikums jede Achtung verlor. Man braucht jedoch nur daran zu erinnern, gegen welche Meinungen er anzukämpfen hatte, und man wird sofort einsehen, daß der Streit nicht anders enden konnte. Belinski stritt nur gegen unbedingt schädliche und entschieden fehlerhafte Meinungen: es läßt sich kein Fall anführen, wo er es für nötig gehalten hätte, gegen Überzeugungen aufzutreten, die nicht schädlich oder nicht töricht gewesen wären. Durchaus nicht er also, sondern seine Gegner waren schuld daran, wenn die Polemik (die gewöhnlich nicht von Belinski begonnen wurde) mit ihrer völligen Niederlage endete: warum traten sie für Meinungen ein, die nicht zu vertreten waren und die sie nicht vertreten durften Warum empörten sie sich gegen offenbare Wahrheiten Warum versuchten sie so oft, literarische Fragen auf das Terrain juristischer Beschuldigungen hinüberzutragen Alle Fälle, in denen Belinski eine hartnäckige Polemik führte, lassen sich unter eine Definition bringen: Belinski sagt, 2 × 2 = 4; man beschuldigte ihn dafür der Ignoranz, der Geschmacklosigkeit und der bösen Absicht, wobei Andeutungen fallen aus dem von ihm vorgetragenen Paradoxon – dies Paradoxon besteht darin, daß 2 × 2 = 4 ist, nämlich beispielsweise darin, daß die Werke Puschkins an künstlerischem Wert die Werke Dershawins überragen, oder daß „Ein Held unserer Zeit“ besser ist als der „Brynsker Wald“ oder „Simeon Kirdjapa“ * – aus diesem furchtbaren Paradoxon würden sich die verhängnisvollsten Folgen für die russische Sprache und für die vaterländische Literatur ergeben, und –was will man mehr! – der ganzen Welt drohe von derart unbegründeten und bösartigen Erfindungen tödliche Gefahr [642] Bei der Abwehr derartiger Angriffe war es natürlich unmöglich, der angreife Partei auch nur ein Fünkchen von Berechtigung zuzugestehen. Hätten sie etwas wirklich Zweifelhaftes zum Gegenstand ihrer Empörung gemacht, hätten sie bei Belinski irgendeine Einseitigkeit oder ein Versehen festgestellt, so hätte die Sache einen anderen Verlauf nehmen können: Belinski würde, ob er nun mit der Bemerkung der Gegner einverstanden gewesen wäre oder nicht, gern zugegeben haben, daß ihre Worte nicht ganz ohne gesunden Sinn seien und daß ihre Meinungen Achtung verdienten: wenn er bei sich selber Fehler feststellte, zögerte er niemals, sie als erster aufzudecken. Aber was blieb ihm übrig, wenn beispielsweise einer seiner Gegner sich über das Fehlen jeder Gesinnung in Belinskis Aufsätzen empörte, wenn dieser gleiche Gegner behauptete Belinski schreibe, ohne selbst den Sinn seiner Worte zu verstehen, und dann darauf bestand, Belinski habe seine Auffassungen von ihm (dem Gegner) bezogen (wo die Dinge genau umgekehrt lagen, wovon sich jedermann durch Vergleich des alten „Moskwitjanin“ mit den „Otetschestwennyje Sapiski“ überzeugen kann), – oder wenn andere gegen Belinski auftraten, weil er angeblich Dershawin und Karamsin (die er als erster richtig wertgeschätzt hat) zu wenig Achtung entgegenbringe usw. – hier war es bei aller Be- * „Ein Held unserer Zeit“ – berühmter Roman von Lermontow; „Der Brynsker Wald“ – historischer Roman von Sagoskin; „Simeon Kirdjapa (ein russisches Heldenlied aus dem 14. Jahrhundert)“ –historischer Roman von Polewoi. Die Red. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 317 reitschaft zum Entgegenkommen unmöglich, in den Ausfällen der Gegner auch nur ein Fünkchen Wahrheit zu entdecken, und unmöglich, nicht zu sagen, daß sie völlig irrig waren. Ebenso lagen die Dinge, wenn Belinski seinerseits eine Polemik begann: konnte er etwas anderes tun, als sagen, daß die Meinungen, gegen die er auftrat, völlig unbegründet waren, wenn diese Meinungen folgendermaßen lauteten: „Gogol ist ein Schriftsteller ohne jedes Talent – die beste Gestalt in den ‚Toten Seelen‘ ist Tschitschikows Kutscher Selifan, – Hegels Philosophie ist dem Vermächtnis Wladimir Monomachs entlehnt, – Schriftsteller wie die Herren Turgenew und Grigorowitsch sind zu bedauern, da sie den Stoff ihrer Werke nicht dem russischen Alltag entnehmen, – Lermontow war ein Nachahmer Herrn Benediktows und machte schlechte Verse, – Dickens’ Romane sind Werke von scheußlicher Talentlosig-[643]keit, – Puschkin war ein schlechter Schriftsteller, – die größten Dichter unseres Jahrhunderts sind Victor Hugo und Herr Chomjakow, – Herr Solowjow versteht nichts von russischer Geschichte, – die Deutschen müssen ausgerottet werden, – das siebente Kapitel des ‚Eugen Onegin‘ ist eine sklavische Imitation eines Kapitels aus ‚Iwan Wyshigin‘ * , – Gogols bedeutendste Werke sind seine ‚Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka‘ (nach Ansicht einiger) oder sein ‚Briefwechsel mit Freunden‘ (nach der Meinung anderer), die anderen Werke sind bedeutend schwächer, – England ist um das Jahr 1827 zugrunde gegangen, ohne auch nur die Spur einer Existenz zu hinterlassen, so wie wir keine Spur von Platos Atlantis besitzen, – England ist der einzig lebendige Staat in Westeuropa (eine Meinung desselben Schriftstellers, der entdeckt hat, daß es zugrunde gegangen ist)‚ – der tückische Westen vermodert, und wir werden ihn so schnell wie möglich durch die Weisheit Skoworodas erneuern müssen, – unser Ideal muß Byzanz sein, – Bildung ist schädlich“ 26 usw. usw. – Läßt sich in derartigen Urteilen auch nur ein Fünkchen Wahrheit finden Darf man ihnen Konzessionen machen Bedeutet gegen sie auftreten, einen unversöhnlichen Geist an den Tag legen Als einer der Leute, die sich für Gelehrte hielten, und der großen Einfluß in der Zeitschrift besaß, die sich den Kampf gegen Belinski und die „Otetschestwennyje Sapiski“ zum Beruf gemacht hatte, auf den Einfall kam zu behaupten, Galilei und Newton hätten die Astronomie auf einen falschen Weg gebracht 27 – hätte man da etwa so debattieren können: „Ihre Worte enthalten viel Wahres; wir müssen zugeben, daß unsere früheren Auffassungen von den Gesetzen der Astronomie voller Fehler steckten; indem wir uns mit Ihnen in der Hauptsache einverstanden erklären, müssen wir jedoch sagen, daß einige Details Ihrer Bemerkungen uns nicht ganz klar erscheinen“; wer so geantwortet hätte, würde die offenbare Wahrheit verraten und sich dem allgemeinen Gelächter preisgegeben haben. Konnte man in diesem Ton auch über die Urteile reden, für die wir weiter oben Musterbeispiele angeführt [644] haben und die in ihrer Art nicht schlimmer sind als die Widerlegung der Newtonschen Theorie Nein, hier ging es nicht an, die Ablehnung mit Entgegenkommen zu verbinden, denn es war völlig unmöglich, in den Worten des Gegners auch nur etwas zu entdecken, was der Wahrheit glich. Solchen Meinungen gegenüber gibt es keinen Mittelweg: entweder muß man zu ihnen schweigen oder man muß direkt ohne alle Umschweife heraussagen, daß sie völlig unbegründet sind. Natürlich konnte man die Angriffe auf Galilei und Newton unbeachtet lassen – es bestand keine Gefahr, daß irgend jemand durch sie in die Irre geführt wurde. Andere Urteile dagegen waren nicht so unschuldig – ihre Unhaltbarkeit mußte aufgedeckt werden. Muß man aber daraus, daß Belinski sich nicht damit einverstanden erklären konnte, daß Gogol ein talentloser Schriftsteller sei und daß der betrunkene Selifan als Repräsentant des russischen Volkstums betrachtet werden müsse, den Schluß ziehen, daß Belinski nicht tolerant genug war * „Iwan Wyshigin“ – Roman von F. Bulgarin. Die Red. 26 Tschernyschewski zitiert hier die „Urteile“ verschiedener Gegner Belinskis (Polewoi, Senkowski, Schewyrjow, Bulgarin u. a.). 27 Gemeint ist A. J. Studitski. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 317<br />

reitschaft zum Entgegenkommen unmöglich, in den Ausfällen der Gegner auch nur ein Fünkchen<br />

Wahrheit zu entdecken, und unmöglich, nicht zu sagen, daß sie völlig irrig waren. Ebenso<br />

lagen die Dinge, wenn Belinski seinerseits eine Polemik begann: konnte er etwas anderes<br />

tun, als sagen, daß die Meinungen, gegen die er auftrat, völlig unbegründet waren, wenn diese<br />

Meinungen folgendermaßen lauteten: „Gogol ist ein Schriftsteller ohne jedes Talent – die<br />

beste Gestalt in den ‚Toten Seelen‘ ist Tschitschikows Kutscher Selifan, – Hegels Philosophie<br />

ist dem Vermächtnis Wladimir Monomachs entlehnt, – Schriftsteller wie die Herren<br />

Turgenew und Grigorowitsch sind zu bedauern, da sie den Stoff ihrer Werke nicht dem russischen<br />

Alltag entnehmen, – Lermontow war ein Nachahmer Herrn Benediktows und machte<br />

schlechte Verse, – Dickens’ Romane sind Werke von scheußlicher Talentlosig-[643]keit, –<br />

Puschkin war ein schlechter Schriftsteller, – die größten Dichter unseres Jahrhunderts sind<br />

Victor Hugo und Herr Chomjakow, – Herr Solowjow versteht nichts von russischer Geschichte,<br />

– die Deutschen müssen ausgerottet werden, – das siebente Kapitel des ‚Eugen<br />

Onegin‘ ist eine sklavische Imitation eines Kapitels aus ‚Iwan Wyshigin‘ * , – Gogols bedeutendste<br />

Werke sind seine ‚Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka‘ (nach Ansicht einiger)<br />

oder sein ‚Briefwechsel mit Freunden‘ (nach der Meinung anderer), die anderen Werke sind<br />

bedeutend schwächer, – England ist um das Jahr 1827 zugrunde gegangen, ohne auch nur die<br />

Spur einer Existenz zu hinterlassen, so wie wir keine Spur von Platos Atlantis besitzen, –<br />

England ist der einzig lebendige Staat in Westeuropa (eine Meinung desselben Schriftstellers,<br />

der entdeckt hat, daß es zugrunde gegangen ist)‚ – der tückische Westen vermodert, und wir<br />

werden ihn so schnell wie möglich durch die Weisheit Skoworodas erneuern müssen, – unser<br />

Ideal muß Byzanz sein, – Bildung ist schädlich“ 26 usw. usw. – Läßt sich in derartigen Urteilen<br />

auch nur ein Fünkchen Wahrheit finden Darf man ihnen Konzessionen machen Bedeutet<br />

gegen sie auftreten, einen unversöhnlichen Geist an den Tag legen Als einer der Leute,<br />

die sich für Gelehrte hielten, und der großen Einfluß in der Zeitschrift besaß, die sich den<br />

Kampf gegen Belinski und die „Otetschestwennyje Sapiski“ zum Beruf gemacht hatte, auf<br />

den Einfall kam zu behaupten, Galilei und Newton hätten die Astronomie auf einen falschen<br />

Weg gebracht 27 – hätte man da etwa so debattieren können: „Ihre Worte enthalten viel Wahres;<br />

wir müssen zugeben, daß unsere früheren Auffassungen von den Gesetzen der Astronomie<br />

voller Fehler steckten; indem wir uns mit Ihnen in der Hauptsache einverstanden erklären,<br />

müssen wir jedoch sagen, daß einige Details Ihrer Bemerkungen uns nicht ganz klar erscheinen“;<br />

wer so geantwortet hätte, würde die offenbare Wahrheit verraten und sich dem<br />

allgemeinen Gelächter preisgegeben haben. Konnte man in diesem Ton auch über die Urteile<br />

reden, für die wir weiter oben Musterbeispiele angeführt [644] haben und die in ihrer Art<br />

nicht schlimmer sind als die Widerlegung der Newtonschen Theorie Nein, hier ging es nicht<br />

an, die Ablehnung mit Entgegenkommen zu verbinden, denn es war völlig unmöglich, in den<br />

Worten des Gegners auch nur etwas zu entdecken, was der Wahrheit glich. Solchen Meinungen<br />

gegenüber gibt es keinen Mittelweg: entweder muß man zu ihnen schweigen oder man<br />

muß direkt ohne alle Umschweife heraussagen, daß sie völlig unbegründet sind. Natürlich<br />

konnte man die Angriffe auf Galilei und Newton unbeachtet lassen – es bestand keine Gefahr,<br />

daß irgend jemand durch sie in die Irre geführt wurde. Andere Urteile dagegen waren<br />

nicht so unschuldig – ihre Unhaltbarkeit mußte aufgedeckt werden. Muß man aber daraus,<br />

daß Belinski sich nicht damit einverstanden erklären konnte, daß Gogol ein talentloser<br />

Schriftsteller sei und daß der betrunkene Selifan als Repräsentant des russischen Volkstums<br />

betrachtet werden müsse, den Schluß ziehen, daß Belinski nicht tolerant genug war<br />

* „Iwan Wyshigin“ – Roman von F. Bulgarin. Die Red.<br />

26 Tschernyschewski zitiert hier die „Urteile“ verschiedener Gegner Belinskis (Polewoi, Senkowski, Schewyrjow,<br />

Bulgarin u. a.).<br />

27 Gemeint ist A. J. Studitski.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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