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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 315<br />
liche Geschichte“. In der Beilage zu unserem Aufsatz * bringen wir ein Bruchstück aus dem<br />
letzten von Belinski geschriebenen Überblick über die russische Literatur. Er wird [639] den<br />
Leser daran erinnern, daß Belinski jede „reine Kunst“ ablehnte und der Kunst zur Pflicht<br />
machte, dem Interesse des Lebens zu dienen. Dabei spricht er in derselben kritischen Untersuchung<br />
mit gleichem Wohlwollen von dem Roman Herrn Gontscharows, in dem er ein ausschließliches<br />
Streben nach sogenannter reiner Kunst sieht, wie von einem anderen Roman, der<br />
annähernd zur gleichen Zeit erschienen und in einem Geist geschrieben war, der Belinski ganz<br />
besonders gefiel 25 ; ja er ist der „Alltäglichen Geschichte“ gegenüber sogar nachsichtiger. Man<br />
könnte auch daran erinnern, mit welch außerordentlicher Sympathie Belinski stets von Puschkin<br />
sprach, obgleich er dessen Auffassungen durchaus nicht teilte. Aber es lohnt sich nicht, die<br />
Zahl dieser Beispiele zu vermehren, von denen jeder, der sich noch gut an Belinskis Aufsätze<br />
erinnert, eine ganze Menge vor Augen hat.<br />
Die Meinung, Belinski sei in seinen Auffassungen nicht sehr gemäßigt gewesen oder habe<br />
jede andere Denkweise, die mit der seinen nicht übereinstimmte, scharf verfolgt, ist ganz entschieden<br />
unrichtig. Davon kann sich jedermann bei der Durchsicht einiger seiner Artikel<br />
leicht überzeugen. Fanatiker gab es bei uns in der Literatur ziemlich viele; aber Belinski hatte<br />
nicht nur nicht das geringste von einem Fanatiker, sondern führte im Gegenteil ständig den<br />
heftigsten Kampf gegen sie, ganz gleich, welche Farbe ihr Fanatismus hatte und zu welcher<br />
Partei sie gehörten – er verurteilte die Fanatiker der sogenannten „Tendenz“ mit der gleichen<br />
Strenge wie die Fanatiker der entgegengesetzten Richtung. Es genügt, zum Beispiel, daran zu<br />
erinnern, wie positiv er seine Mißbilligung der gesammelten Werke zweier junger Dichter der<br />
damaligen Zeit zum Ausdruck brachte, die davon sangen, wie „die Menschheit aufersteht, mit<br />
blutigen Tränen weinend“, und wie „der Lüge Priester zu bestrafen“ ** seien.<br />
Wie konnte eigentlich die Meinung entstehen, Belinski sei in seinen Gedanken über unsere<br />
Literatur und die mit [640] ihr zusammenhängenden Fragen nicht ein sehr gemäßigter<br />
Mensch gewesen, wo doch die Lektüre seiner Aufsätze jedermann unwiderleglich davon<br />
überzeugt, daß er die Dinge genau so betrachtete, wie sie heutzutage ganz allgemein jeder<br />
Mensch mit gesundem Menschenverstand betrachtet Hier kommt vieles auf das Konto der<br />
grundlosen Beschuldigungen, die seine, durch die Kritik in ihrer Eigenliebe gekränkten persönlichen<br />
Gegner gegen ihn vorbrachten; man nannte ihn einen unmäßigen Menschen aus<br />
genau denselben Motiven und mit genau der gleichen Berechtigung, wie man von ihm behauptete<br />
er ziehe über unsere alten Schriftsteller her, während er doch ganz im Gegenteil ihren<br />
Ruhm wiederaufrichtete Man kann jedoch die Anlässe, die zur Entstehung der von uns als<br />
unrichtig anerkannten Meinungen führten, nicht nur auf diese persönlichen und kleinlichen<br />
Berechnungen zurückführen.<br />
Belinskis Forderungen waren sehr gemäßigt, aber entschieden und konsequent, und wurden<br />
begeistert und energisch vorgetragen. Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß man auch die<br />
schärfsten Urteile unter blumenreichen Phrasen verstecken kann. Geradeheraus und entschlossen,<br />
wie Belinski war, verzichtete er auf derartige Listen. Er schrieb so wie er dachte,<br />
kümmerte sich nur um die Wahrheit und gebrauchte genau die Worte, die seinen Gedanken in<br />
aller Exaktheit zum Ausdruck brachten. Was schlecht war, nannte er rundheraus schlecht,<br />
* Die erwähnte Beilage ist in die vorliegende Ausgabe nicht aufgenommen. Der Leser findet den Text in: W. G.<br />
Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1950, S. 476-488. Die Red.<br />
25 Außer der „Alltäglichen Geschichte“ behandelt Belinski in dem Aufsatz „Betrachtungen über die russische<br />
Literatur des Jahres 1847“ den Roman „Wer ist schuld“ von Iskander (Pseudonym Herzens). (Deutsch in W. G.<br />
Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1950, S. 495 ff.)<br />
** Wir sprechen von Belinskis Mäßigung nicht, um ihn zu loben oder zu verurteilen, sondern einfach deshalb,<br />
weil diese Mäßigung eine sehr wichtige und unbestrittene Tatsache ist, die jedoch bei der Beurteilung Belinskis<br />
allzu oft übersehen wird.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013