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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 314 Bereich des wirklichen Lebens gehören. Die phantastische Helena mit all ihrer [637] unvorstellbaren Schönheit erregt in einem gesunden Menschen auch nicht den schwachen Schatten jenes Gefühls, das eine wirkliche Frau, selbst wenn sie nicht zu den blendenden Schönheiten gehört, in ihm wachruft. Ebenso regen uns die Bestialitäten der Kannibalen, die wir glücklicherweise nur vom Hörensagen kennen, bei weitem nicht derart auf, wie die mit ihnen verglichen ziemlich unschuldigen Taten der Skwosnik-Dmuchanowski und Tschitschikow 24 , die sich vor unseren Augen abspielen. Belinski war ein Mann von starkem entschlossenem Charakter; er sprach energisch, mit lebhafter innerer Begeisterung; es wäre jedoch ein törichter Fehler, ihn, wie es hie und da geschehen ist, einen Menschen von unmäßigen Forderungen oder Hoffnungen zu nennen. Die einen wie die anderen wurzelten bei ihm in den Bedürfnissen und Umständen unseres täglichen Wirkens und waren deshalb bei all ihrer Stärke doch recht gemäßigt. Wir beschäftigen uns hier mit der russischen Literatur und wollen deshalb von ihr reden. Belinski war begeistert vom „Revisor“ und von den „Toten Seelen“ Gogols. Denken wir einmal gut nach – hätte ein Mensch von unmäßigen Wünschen sich für diese Werke begeistern können Ist Gogols Sarkasmus wirklich so grenzenlos Ganz im Gegenteil, man braucht nur, sagen wir, an Dickens zu denken, von den französischen Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts ganz zu schweigen, und man wird zugeben müssen, daß Gogols Sarkasmus recht bescheiden und begrenzt ist. Belinski wollte, daß unsere Literatur sich weiterentwickle – aber welche Grenzen setzte er seinen Forderungen und Hoffnungen Verlangte er von unserer Literatur, vor unseren Augen ebenso tief und reich zu werden, wie beispielsweise die zeitgenössische französische oder englische (obwohl auch diese beiden alles andere als vollkommen sind) Durchaus nicht: er sprach direkt aus, daß gegenwärtig gar nicht daran gedacht werden könne, weil es unmöglich sei; es wäre nach seiner Meinung schon sehr gut, wenn unsere Literatur wirklich so etwas würde wie Literatur; sie machte, meinte er, schnelle und lobenswerte Fortschritte; er freute sich immer über die Geschwindigkeit unserer Entwicklung, aber ‘ehrlich gesprochen war diese Geschwindig-[638]keit doch reichlich gering: wir waren und sind in den Jahren 1846 und 1856 noch recht weit von jener „Reife“, nach der wir streben. Ja, Belinski war sehr geduldig und gemäßigt. Dafür lassen sich Beispiele in Menge finden: auf jeder Seite seiner Aufsätze. – Es wäre auch unangebracht, einen allzu strengen Kritiker aus ihm zu machen; er war im Gegenteil sehr nachsichtig. Es ist richtig, daß er einen äußerst richtigen und feinen Geschmack hatte, daß ihm kein Mangel entging und daß er über alle Mängel stets ohne nichtssagende Beschönigungen seine Meinung auszusprechen pflegte; wenn aber das kritisierte Werk eine auch nur irgendwie positive Seite hatte, war er bereit, ihretwegen alle Mängel, die sich auch nur irgendwie entschuldigen ließen, zu entschuldigen. Wohl kaum einer von den russischen Kritikern war auch so tolerant gegenüber fremden Meinungen wie er: wenn diese Meinungen nur nicht gänzlich töricht und schädlich waren, redete er stets achtungsvoll von ihnen, wie sehr sie sich auch von seinen eigenen Anschauungen unterscheiden mochten. Beispiele gibt es hierfür in großer Anzahl. Wir wollen eins anführen, von dem wir noch zu reden haben werden: seine Polemik mit den Slawophilen, die von seiten Belinskis stets mit bedeutend größerem Wohlwollen geführt wurde als von seiten seiner Gegner. Belinski sah sogar eine tröstliche Erscheinung darin, daß die Zahl der Anhänger dieser Schule im Wachsen begriffen war. (Hierin irrte er sich übrigens: es hat sich heute herausgestellt, daß das Slawophilentum nicht imstande ist, Anhänger zu gewinnen.) Genau so war er stets bereit, alle Vorzüge von Werken des Schrifttums anzuerkennen, die nicht in dem Geiste geschrieben waren, der ihm den Anforderungen unserer Literatur zu entsprechen schien, wenn diese Werke nur irgendwelche Vorzüge besaßen. Als Beispiel nennen wir seine Rezension über Herrn Gontscharows Roman „Eine alltäg- 24 Skwosnik-Dmuchanowski – Figur aus Gogols Komödie „Der Revisor“. Tschitschikow – der Held in Gogols Roman „Die toten Seelen“. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 315 liche Geschichte“. In der Beilage zu unserem Aufsatz * bringen wir ein Bruchstück aus dem letzten von Belinski geschriebenen Überblick über die russische Literatur. Er wird [639] den Leser daran erinnern, daß Belinski jede „reine Kunst“ ablehnte und der Kunst zur Pflicht machte, dem Interesse des Lebens zu dienen. Dabei spricht er in derselben kritischen Untersuchung mit gleichem Wohlwollen von dem Roman Herrn Gontscharows, in dem er ein ausschließliches Streben nach sogenannter reiner Kunst sieht, wie von einem anderen Roman, der annähernd zur gleichen Zeit erschienen und in einem Geist geschrieben war, der Belinski ganz besonders gefiel 25 ; ja er ist der „Alltäglichen Geschichte“ gegenüber sogar nachsichtiger. Man könnte auch daran erinnern, mit welch außerordentlicher Sympathie Belinski stets von Puschkin sprach, obgleich er dessen Auffassungen durchaus nicht teilte. Aber es lohnt sich nicht, die Zahl dieser Beispiele zu vermehren, von denen jeder, der sich noch gut an Belinskis Aufsätze erinnert, eine ganze Menge vor Augen hat. Die Meinung, Belinski sei in seinen Auffassungen nicht sehr gemäßigt gewesen oder habe jede andere Denkweise, die mit der seinen nicht übereinstimmte, scharf verfolgt, ist ganz entschieden unrichtig. Davon kann sich jedermann bei der Durchsicht einiger seiner Artikel leicht überzeugen. Fanatiker gab es bei uns in der Literatur ziemlich viele; aber Belinski hatte nicht nur nicht das geringste von einem Fanatiker, sondern führte im Gegenteil ständig den heftigsten Kampf gegen sie, ganz gleich, welche Farbe ihr Fanatismus hatte und zu welcher Partei sie gehörten – er verurteilte die Fanatiker der sogenannten „Tendenz“ mit der gleichen Strenge wie die Fanatiker der entgegengesetzten Richtung. Es genügt, zum Beispiel, daran zu erinnern, wie positiv er seine Mißbilligung der gesammelten Werke zweier junger Dichter der damaligen Zeit zum Ausdruck brachte, die davon sangen, wie „die Menschheit aufersteht, mit blutigen Tränen weinend“, und wie „der Lüge Priester zu bestrafen“ ** seien. Wie konnte eigentlich die Meinung entstehen, Belinski sei in seinen Gedanken über unsere Literatur und die mit [640] ihr zusammenhängenden Fragen nicht ein sehr gemäßigter Mensch gewesen, wo doch die Lektüre seiner Aufsätze jedermann unwiderleglich davon überzeugt, daß er die Dinge genau so betrachtete, wie sie heutzutage ganz allgemein jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand betrachtet Hier kommt vieles auf das Konto der grundlosen Beschuldigungen, die seine, durch die Kritik in ihrer Eigenliebe gekränkten persönlichen Gegner gegen ihn vorbrachten; man nannte ihn einen unmäßigen Menschen aus genau denselben Motiven und mit genau der gleichen Berechtigung, wie man von ihm behauptete er ziehe über unsere alten Schriftsteller her, während er doch ganz im Gegenteil ihren Ruhm wiederaufrichtete Man kann jedoch die Anlässe, die zur Entstehung der von uns als unrichtig anerkannten Meinungen führten, nicht nur auf diese persönlichen und kleinlichen Berechnungen zurückführen. Belinskis Forderungen waren sehr gemäßigt, aber entschieden und konsequent, und wurden begeistert und energisch vorgetragen. Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß man auch die schärfsten Urteile unter blumenreichen Phrasen verstecken kann. Geradeheraus und entschlossen, wie Belinski war, verzichtete er auf derartige Listen. Er schrieb so wie er dachte, kümmerte sich nur um die Wahrheit und gebrauchte genau die Worte, die seinen Gedanken in aller Exaktheit zum Ausdruck brachten. Was schlecht war, nannte er rundheraus schlecht, * Die erwähnte Beilage ist in die vorliegende Ausgabe nicht aufgenommen. Der Leser findet den Text in: W. G. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1950, S. 476-488. Die Red. 25 Außer der „Alltäglichen Geschichte“ behandelt Belinski in dem Aufsatz „Betrachtungen über die russische Literatur des Jahres 1847“ den Roman „Wer ist schuld“ von Iskander (Pseudonym Herzens). (Deutsch in W. G. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1950, S. 495 ff.) ** Wir sprechen von Belinskis Mäßigung nicht, um ihn zu loben oder zu verurteilen, sondern einfach deshalb, weil diese Mäßigung eine sehr wichtige und unbestrittene Tatsache ist, die jedoch bei der Beurteilung Belinskis allzu oft übersehen wird. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 314<br />

Bereich des wirklichen Lebens gehören. Die phantastische Helena mit all ihrer [637] unvorstellbaren<br />

Schönheit erregt in einem gesunden Menschen auch nicht den schwachen Schatten<br />

jenes Gefühls, das eine wirkliche Frau, selbst wenn sie nicht zu den blendenden Schönheiten<br />

gehört, in ihm wachruft. Ebenso regen uns die Bestialitäten der Kannibalen, die wir glücklicherweise<br />

nur vom Hörensagen kennen, bei weitem nicht derart auf, wie die mit ihnen verglichen<br />

ziemlich unschuldigen Taten der Skwosnik-Dmuchanowski und Tschitschikow 24 , die<br />

sich vor unseren Augen abspielen.<br />

Belinski war ein Mann von starkem entschlossenem Charakter; er sprach energisch, mit lebhafter<br />

innerer Begeisterung; es wäre jedoch ein törichter Fehler, ihn, wie es hie und da geschehen<br />

ist, einen Menschen von unmäßigen Forderungen oder Hoffnungen zu nennen. Die<br />

einen wie die anderen wurzelten bei ihm in den Bedürfnissen und Umständen unseres täglichen<br />

Wirkens und waren deshalb bei all ihrer Stärke doch recht gemäßigt. Wir beschäftigen<br />

uns hier mit der russischen Literatur und wollen deshalb von ihr reden. Belinski war begeistert<br />

vom „Revisor“ und von den „Toten Seelen“ Gogols. Denken wir einmal gut nach – hätte ein<br />

Mensch von unmäßigen Wünschen sich für diese Werke begeistern können Ist Gogols Sarkasmus<br />

wirklich so grenzenlos Ganz im Gegenteil, man braucht nur, sagen wir, an Dickens<br />

zu denken, von den französischen Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts ganz zu schweigen,<br />

und man wird zugeben müssen, daß Gogols Sarkasmus recht bescheiden und begrenzt ist. Belinski<br />

wollte, daß unsere Literatur sich weiterentwickle – aber welche Grenzen setzte er seinen<br />

Forderungen und Hoffnungen Verlangte er von unserer Literatur, vor unseren Augen ebenso<br />

tief und reich zu werden, wie beispielsweise die zeitgenössische französische oder englische<br />

(obwohl auch diese beiden alles andere als vollkommen sind) Durchaus nicht: er sprach direkt<br />

aus, daß gegenwärtig gar nicht daran gedacht werden könne, weil es unmöglich sei; es<br />

wäre nach seiner Meinung schon sehr gut, wenn unsere Literatur wirklich so etwas würde wie<br />

Literatur; sie machte, meinte er, schnelle und lobenswerte Fortschritte; er freute sich immer<br />

über die Geschwindigkeit unserer Entwicklung, aber ‘ehrlich gesprochen war diese Geschwindig-[638]keit<br />

doch reichlich gering: wir waren und sind in den Jahren 1846 und 1856<br />

noch recht weit von jener „Reife“, nach der wir streben. Ja, Belinski war sehr geduldig und<br />

gemäßigt. Dafür lassen sich Beispiele in Menge finden: auf jeder Seite seiner Aufsätze. – Es<br />

wäre auch unangebracht, einen allzu strengen Kritiker aus ihm zu machen; er war im Gegenteil<br />

sehr nachsichtig. Es ist richtig, daß er einen äußerst richtigen und feinen Geschmack hatte,<br />

daß ihm kein Mangel entging und daß er über alle Mängel stets ohne nichtssagende Beschönigungen<br />

seine Meinung auszusprechen pflegte; wenn aber das kritisierte Werk eine auch nur<br />

irgendwie positive Seite hatte, war er bereit, ihretwegen alle Mängel, die sich auch nur irgendwie<br />

entschuldigen ließen, zu entschuldigen. Wohl kaum einer von den russischen Kritikern<br />

war auch so tolerant gegenüber fremden Meinungen wie er: wenn diese Meinungen nur<br />

nicht gänzlich töricht und schädlich waren, redete er stets achtungsvoll von ihnen, wie sehr sie<br />

sich auch von seinen eigenen Anschauungen unterscheiden mochten. Beispiele gibt es hierfür<br />

in großer Anzahl. Wir wollen eins anführen, von dem wir noch zu reden haben werden: seine<br />

Polemik mit den Slawophilen, die von seiten Belinskis stets mit bedeutend größerem Wohlwollen<br />

geführt wurde als von seiten seiner Gegner. Belinski sah sogar eine tröstliche Erscheinung<br />

darin, daß die Zahl der Anhänger dieser Schule im Wachsen begriffen war. (Hierin irrte<br />

er sich übrigens: es hat sich heute herausgestellt, daß das Slawophilentum nicht imstande ist,<br />

Anhänger zu gewinnen.) Genau so war er stets bereit, alle Vorzüge von Werken des Schrifttums<br />

anzuerkennen, die nicht in dem Geiste geschrieben waren, der ihm den Anforderungen<br />

unserer Literatur zu entsprechen schien, wenn diese Werke nur irgendwelche Vorzüge besaßen.<br />

Als Beispiel nennen wir seine Rezension über Herrn Gontscharows Roman „Eine alltäg-<br />

24 Skwosnik-Dmuchanowski – Figur aus Gogols Komödie „Der Revisor“. Tschitschikow – der Held in Gogols<br />

Roman „Die toten Seelen“.<br />

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