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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 313<br />

ismus das Glück suchen ist unnatürlich, und der Egoist ist alles andere als beneidenswert: er<br />

ist ein [635] Scheusal, und ein Scheusal zu sein ist unbequem und unangenehm.<br />

Genau so wenig kann auch der Mensch positiv genannt werden, der mit der Einsicht, daß nur<br />

die Wirklichkeit dem Menschen Kraft gibt und nur sie ihm auch dauerhaften Genuß vermittelt,<br />

auf den Gedanken käme, zu behaupten, es gäbe in der Wirklichkeit nichts, was der<br />

Mensch ändern müsse und könne, die Wirklichkeit sei für den Menschen ganz und gar angenehm<br />

und gut, und er stehe allen Tatsachen machtlos gegenüber: auch das ist eine Art von<br />

Phantasterei, die genau so töricht ist wie das Geträume von Luftschlössern. Der Mensch, der<br />

darauf ausgeht, die gewöhnliche gesunde Nahrung durch Nektar und Ambrosia zu ersetzen,<br />

irrt genau so wie der, welcher behauptet, jede Nahrung sei für den Menschen gleich<br />

schmackhaft und gesund, es gäbe in der Natur keine giftigen Gewächse, Wassersuppe aus<br />

Melde sei etwas Ausgezeichnetes, man könne die Felder nicht von Steinen und Unkraut reinigen,<br />

um Weizen zu säen, und Weizen brauche und könne nicht von Spreu gereinigt werden.<br />

Alle diese Leute sind gleichermaßen Phantasten, weil sie sich gleichermaßen zu einseitigen<br />

Extremen hinreißen lassen, gleichermaßen offenbare Tatsachen leugnen und gleichermaßen<br />

die Gesetze der Natur und des Menschenlebens verletzen wollen. Nero, Caligula und Tiberius<br />

waren ebenso dem Wahnsinn nahe wie der Ritter Toggenburg und der indische Fakir Vitellius,<br />

der sich dermaßen vollfraß, daß er täglich Brechmittel nehmen mußte, so daß sein Magen<br />

ihm nicht weniger Qualen bereitete als einem Menschen, der nicht satt zu essen hat. Der<br />

Wüstling kennt die höchsten Genüsse des Lebens ebenso wenig wie der Kastrat. Im Leben all<br />

dieser Menschen gibt es sehr wenig Positives. Positiv ist nur, wer ganz Mensch sein will: er<br />

wird sich sein eignes Wohlergehen angelegen sein lassen und zugleich auch die anderen<br />

Menschen lieben (da es kein einsames Glück gibt); er wird auf Wunschträume, die mit den<br />

Gesetzen der Natur unvereinbar sind, verzichten und dabei nicht der nützlichen Tätigkeit entsagen;<br />

er wird in der Wirklichkeit viel Schönes finden, dabei aber auch nicht leugnen, daß<br />

vieles in ihr [636] schlecht ist, und wird bestrebt sein, unter Heranziehung der den Menschen<br />

günstigen Kräfte und Umstände gegen das anzukämpfen was dem Glück des Menschen ungünstig<br />

ist. Ein positiver Mensch im wahren Sinn des Wortes kann nur ein liebevoller und<br />

edler Mensch sein. Wem es von Natur an Liebe und an edler Gesinnung fehlt, der ist eine<br />

klägliche Mißgeburt, wie Shakespeares Kaliban, und unwürdig, den Namen Mensch zu tragen<br />

– aber derartige Menschen gibt es sehr wenige, vielleicht gibt es sie überhaupt nicht; in<br />

wem die Umstände Liebe und Edelmut abgetötet haben, der ist ein kläglicher, unglückliche<br />

und sittlich kranker Mensch; wer diese Gefühle absichtlich in sich unterdrückt, der ist ein<br />

Phantast ohne allen positiven Wert und handelt gegen die Gesetze des wirklichen Lebens.<br />

Sobald man die Phantasterei ablehnt, werden die Forderungen und Hoffnungen des Menschen<br />

ganz gemäßigt; der Mensch wird nachsichtig und tolerant, denn übermäßige Strenge und Fanatismus<br />

sind Ausgeburten einer krankhaften Phantasie. Hieraus folgt jedoch durchaus nicht,<br />

daß der positive Mensch gefühlsarm und schwächlich in seinen Forderungen sein soll, ganz<br />

im Gegenteil: die Gefühle und die Forderungen, die die Wirklichkeit hervorbringt und fördert,<br />

sind viel stärker als alle phantastischen Bestrebungen und Hoffnungen: dem Menschen,<br />

der von Luftschlössern träumt, machen seine in allen Regenbogenfarben schillernden Träumereien<br />

nicht den hundertsten Teil so viel zu schaffen, wie der Mensch, der darauf ausgeht,<br />

sich ein bescheidenes (jedenfalls aber gemütliches) Häuschen zu bauen, mit seinen Gedanken<br />

an dieses Häuschen zu tun hat. Ganz zu schweigen davon, daß der Träumer seine Zeit gewöhnlich<br />

auf dem Sofa liegend verbringt, während der von einem vernünftigen Wunsche<br />

beseelte Mensch sich unentwegt um dessen Verwirklichung bemüht. Je wirklicher und positiver<br />

das Streben eines Menschen ist, um so energischer kämpft der Mensch gegen die Hindernisse<br />

an, die der Erfüllung des Strebens im Wege stehen. Sowohl Liebe als auch Haß entstehen<br />

und entzünden sich in höchstem Grade unter dem Eindruck von Gegenständen, die zum<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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