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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 312<br />

Aber nicht für jeden Wunsch finden wir in der Wirklichkeit Beistand. Viele widersprechen<br />

den Gesetzen der Natur und des Menschenlebens; wir werden in der Natur weder den Stein<br />

der Weisen, der alles Metall in Gold verwandelt, noch das Lebenselixier finden, das uns ewige<br />

Jugend verleiht; ebenso vergeblich sind auch alle unsere Forderungen, die Menschen sollten<br />

auf den Egoismus, auf die Leidenschaften verzichten: die menschliche Natur fügt sich<br />

solchen auf den ersten Blick großartigen Forderungen nicht.<br />

Dieser Umstand, der zeigt, daß zwischen unseren Wünschen offenbar Unterschiede bestehen,<br />

führte dazu, daß man sich jene Wünsche genauer ansah, zu deren Erfüllung die Natur und die<br />

Menschen mit gesundem Verstand nicht beizutragen bereit sind – ist die Erfüllung solcher<br />

Wünsche für den Menschen wirklich nötig Offenbar nicht, da er, wie wir sehen, sowohl lebt<br />

als auch unter günstigen Umständen sogar sehr glücklich ist, ohne daß er den Stein der Weisen<br />

oder das Lebenselixier oder eine der sonstigen berückenden Eigenschaften und Güter<br />

besitzt, mit denen ihn der Zauber der in wolkiger Höhe thronenden Phantasie lockt. Wenn<br />

aber der Mensch, wie das Leben zeigt, ohne diese Güter auskommen kann, welche die Phantasie<br />

als angeblich nötig bezeichnet, wenn sich bereits herausgestellt hatte, daß die Phantasie<br />

den Menschen hinsichtlich dieser Notwendigkeit betrogen hat, so mußte sie auch in einer<br />

anderen Hinsicht verdächtig werden: würde die Erfüllung dieser Wunschträume, die den Gesetzen<br />

der Außenwelt und der Natur des Menschen widersprechen, den Menschen wirklich<br />

Annehmlichkeiten bringen Bei aufmerksamer Beobachtung zeigte sich auch, daß die Erfüllung<br />

solcher Wünsche zu nichts anderem führen würde als zu Unzufriedenheit und Qualen; es<br />

zeigte sich, daß alles Unnatürliche den Menschen schädlich und unerträglich ist, und daß der<br />

sittlich gesunde Mensch, der das instinktiv spürt, in Wirklichkeit die Erfüllung solcher Träume,<br />

an [634] denen eine müßige Phantasie Gefallen findet, gar nicht wünscht.<br />

Wie herausgefunden wurde, daß die Träume der Phantasie keinen Wert fürs Leben haben,<br />

genau so wurde auch herausgefunden, daß viele Hoffnungen, die die Phantasie uns vorgaukelt,<br />

keine Bedeutung fürs Leben haben.<br />

Dauerhaften Genuß bereitet dem Menschen nur die Wirklichkeit; wirkliche Bedeutung haben<br />

nur jene Wünsche, die auf der Wirklichkeit begründet sind; erfolgversprechend sind nur solche<br />

Hoffnungen, die die Wirklichkeit erweckt, und nur in Angelegenheiten, die unter Mitwirkung<br />

von Kräften und Umständen vor sich gehen, die die Wirklichkeit darbietet.<br />

Zu dieser Gesinnung gelangen und ihr entsprechend handeln, heißt zum positiven Menschen<br />

werden.<br />

Häufig jedoch irren sich gerade jene, die sich für positive Menschen halten, in dieser hohen<br />

Meinung von sich selbst grausam und schändlich, indem sie infolge einer zu engen Auffassung<br />

von der Wirklichkeit in eine besondere Art von Phantasterei verfallen.<br />

Es wäre zum Beispiel unrichtig, einen kalten Egoisten als positiven Menschen anzusehen.<br />

Liebe und Wohlwollen (die Fähigkeit, sich am Glück der Menschen und der Umwelt zu freuen<br />

und über ihre Leiden betrübt zu sein) sind dem Menschen ebenso angeboren wie Egoismus.<br />

Wer ausschließlich nach egoistischen Berechnungen handelt, der handelt gegen die<br />

menschliche Natur, der erstickt in sich angeborene und unverlierbare Bedürfnisse. Er ist auf<br />

seine Weise ein ebensolcher Phantast wie der andere, der von überirdischer Selbstentsagung<br />

träumt; der Unterschied liegt nur darin, daß der eine ein bösartiger Phantast, der andere dagegen<br />

ein heuchlerischer Phantast ist, beide stimmen aber darin überein, daß das Glück für sie<br />

unerreichbar ist, daß sie sowohl sich selbst als auch anderen Schaden bringen. Ein hungriger<br />

Mensch kann sich natürlich nicht wohlfühlen; aber auch ein satter Mensch kann sich nicht<br />

wohlfühlen, wenn er rings um sich das herzzerreißende Stöhnen von Hungrigen hört. Im Ego-<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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