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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 311<br />

[630] „Der Begriff ‚Wirklichkeit‘ ist völlig neu“, sagt Belinski („Sowremennik“ 1847, Heft 1,<br />

Kritik, S. 18. [Deutsch: W. G. Belinski, Ausgewählte Philosophische Schriften, Moskau 1950,<br />

5. 411]), und tatsächlich ist es noch nicht lange [631] her, daß er sich herausgebildet hat und in<br />

die Wissenschaft eingegangen ist, nämlich seitdem die Denker unserer Zeit Klarheit in die<br />

dunklen Andeutungen der Transzendentalphilosophie gebracht haben, die die Wahrheit nur in<br />

konkreter Verwirklichung anerkannte. Wie alle höchsten Wahrheiten aller modernen Wissenschaft<br />

ist diese Auffassung der Wirklichkeit sehr einfach, aber sehr fruchtbar.<br />

Es hat Zeiten gegeben, wo man die Traumbilder der Phantasie hoch über alles stellte, was das<br />

Leben darbot, und wo die Macht der Phantasie als unbegrenzt galt. Die modernen Denker<br />

haben diese Frage jedoch aufmerksamer untersucht als die bisherigen, und sind zu Ergebnissen<br />

gekommen, die den früheren Meinungen genau entgegengesetzt waren und zeigten, daß<br />

diese der Kritik ganz und gar nicht standhielten. Die Macht unserer Phantasie ist außerordentlich<br />

beschränkt, und was sie hervorbringt, ist höchst schwach und blaß im Vergleich mit dem,<br />

was die Wirklich-[632]keit uns bietet. Die allerkühnste Einbildung wird in den Schatten gestellt<br />

durch die Vorstellung von den Millionen Meilen, die die Erde von der Sonne trennen,<br />

von der außerordentlichen Geschwindigkeit des Lichts und des elektrischen Stroms; die alleridealsten<br />

Gestalten Raffaels stellten sich als Porträts lebendiger Menschen heraus; die allerscheußlichsten<br />

Ungeheuer der Mythologie und des Volksaberglaubens erwiesen sich als den<br />

Tieren unserer Umgebung bei weitem nicht so unähnlich wie die Ungeheuer, die die Naturforscher<br />

entdeckt haben; die Geschichte und die aufmerksame Beobachtung des zeitgenössischen<br />

Lebens haben bewiesen, daß lebendige Menschen, die durchaus nicht einmal ausgemach<br />

Scheusäler oder Tugendheld sind, Verbrechen begehen, die viel entsetzlicher und Heldentaten<br />

vollbringen, die viel erhabener sind als alles, was die Dichter je ersonnen haben. Die<br />

Phantasie mußte vor der Wissenschaft klein beigeben; mehr noch: sie war gezwungen einzugestehen,<br />

daß ihre angeblichen Schöpfungen nur Kopien dessen sind, was sich als Vorgänge<br />

der Wirklichkeit darstellt.<br />

Die Vorgänge der Wirklichkeit sind jedoch außerordentlich verschiedenartig und mannigfaltig.<br />

Die Wirklichkeit bietet vieles, was den Wünschen und Bedürfnissen des Menschen entspricht,<br />

aber auch vieles, was ihnen entschieden widerspricht Früher, als man die Wirklichkeit<br />

vernachlässigte, weil man sich allzu viel auf den Reichtum der Phantasie zugute tat,<br />

nahm man an, daß es sehr leicht sei, die Wirklichkeit nach phantastischen Traumbildern umzugestalten.<br />

Als jedoch die Phantasie ihren Stolz eingebüßt hatte, mußten die Gelehrten und<br />

die Dichter sich von einer Tatsache überzeugen, die im praktischen Leben für Menschen mit<br />

gesundem Menschenverstand stets klar gewesen war. An sich genommen ist der Mensch sehr<br />

schwach; seine ganze Kraft entnimmt er nur der Kenntnis des wirklichen Lebens und der Fähigkeit,<br />

sich die Kräfte der unvernünftigen Natur und der angeboren vom Menschen unabhängigen<br />

Eigenschaften der menschlichen Natur zunutze zu machen. Indem der Mensch entsprechend<br />

den Gesetzen der Natur und der Seele und mit ihrer Hilfe tätig ist, kann er nach<br />

und nach jenen Vorgängen der Wirklichkeit die seinen [633] Bestrebungen nicht entsprechen,<br />

eine andere Gestalt geben und auf diese Weise sehr bedeutende Erfolge bei der Verbesserung<br />

seines Lebens und der Erfüllung seiner Wünsche erzielen.<br />

sich, unter Umgehung aller Ideale, ausschließlich an die Wirklichkeit wandte... Hier liegt das große Verdienst<br />

Gogols, damit hat er die Auffassung von der Kunst selbst völlig verändert. Auf die Werke jedes einzelnen der<br />

(früheren) russischen Dichter kann man, wenn auch nicht immer ohne weiteres, die alte, hinfällig gewordene<br />

Definition der Poesie als der „verschönerten Natur“ anwenden, in bezug auf die Werke Gogols jedoch ist das<br />

bereits unmöglich. Auf sie paßt eine andere Definition der Kunst –als der Wiedergabe der Wirklichkeit in ihrer<br />

ganzen Wahrheit.“ („Betrachtungen über die russische Literatur des Jahres 1847“, „Sowremennik“, 1848, Heft<br />

1, Kritik, S. 17. [Deutsch: Ebenda S. 465/66.]) – *) In Klammern – Einschaltung N. G. Tschernyschewskis Die<br />

Red. –**) Manilow – die Figur eines Gutsbesitzers in N. Gogols „Toten Seelen“; Manilow gilt als Synonym für<br />

gutmütige, sentimentale aber Sterile Phantasterei.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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