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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 31<br />
Schnitzer in seinen alten Karten zu entdecken; und wenn uns heute jemand einreden wollte,<br />
der Irtisch fließe nach Süden und nicht nach Norden, oder Irkutsk liege unter dem Wendekreis,<br />
so würden wir nur die Achseln zucken. Wer Lust hat, kann auch heute noch die Erzählungen<br />
unserer alten Kosmographen wiederholen: von den Völkern der „Grenzmark Sems“<br />
und von den „stummen Zungen“, die jenseits der Petschora wohnen, wo Alexander der Große<br />
sie ins Gebirge eingesperrt und mit den synklitischen Toren verrammelt hat, die Feuer und<br />
Schwert standhalten; wir wissen ja bereits, was wir von solchen, nur auf Phantasie beruhenden<br />
Erzählungen zu halten haben.<br />
Die erste Folge der Einbeziehung der moralischen Disziplinen in das Reich der exakten Wissenschaften<br />
war eine strenge Trennung dessen, was wir wissen, von dem, was wir nicht wissen.<br />
Der Astronom weiß, daß die Größe des Planeten Mars ihm bekannt ist, und weiß ebenso<br />
positiv, daß die geologische Struktur dieses Planeten, der Charakter seiner Pflanzen- und<br />
Tierleben ihm unbekannt sind, und daß er sogar nicht weiß, ob es dort überhaupt ein Tieroder<br />
Pflanzenleben gibt. Wenn jemand auf den Gedanken käme, zu behaupten, es gäbe auf<br />
dem Mars Ton oder Granit, Vögel oder Mollusken, würde der Astronom ihm antworten: Sie<br />
behaupten etwas, was Sie nicht wissen. Wenn der Phantast in seinen Vermutungen weiterginge<br />
und zum Beispiel behauptete, die auf dem Mars lebenden Vögel seien gegen Krankheiten<br />
gefeit und die Mollusken kämen ohne Nahrung aus, würde der Astronom mit Hilfe der Chemie<br />
und Physiologie ihm beweisen, daß das nicht einmal möglich ist. Ebenso ist heute in den<br />
moralischen Wissenschaften das Bekannte vom Unbekannten streng abgegrenzt, und auf<br />
Grund des Bekannten ist die Unhaltbarkeit gewisser früherer Annahmen über die Dinge, die<br />
noch unbekannt geblieben sind, erwiesen. Positiv [121] bekannt zum Beispiel ist, daß alle<br />
Erscheinungen der moralischen Welt aus einander und aus äußeren Umständen nach dem<br />
Gesetz der Kausalität hervorgehen, und auf Grund hiervon ist als falsch jede Art von Annahme<br />
erkannt, daß es Erscheinungen geben könne, die nicht das Produkt vorhergehender Erscheinungen<br />
oder äußerer Umstände wären. Deshalb läßt die moderne Psychologie zum Beispiel<br />
keine Annahmen mehr zu wie die folgende: „Der und der Mensch hat im gegebenen<br />
Falle schlecht gehandelt, weil er schlecht handeln wollte, in einem anderen Falle aber gut<br />
gehandelt, weil er gut handeln wollte.“ Sie lehrt, daß die schlechte oder gute Handlung unbedingt<br />
das Produkt irgendeiner moralischen oder materiellen Tatsache oder einer Verbindung<br />
von Tatsachen ist, das „Wollen“ dagegen hier nur den subjektiven Eindruck darstellt, der in<br />
unserem Bewußtsein die Entstehung eines Gedankens oder einer Handlung aus vorhergehenden<br />
Gedanken, Handlungen oder äußeren Vorgängen begleitet. Als allergewöhnlichstes Beispiel<br />
für eine ausschließlich auf unseren Willen begründete Handlung wird folgender Vorgang<br />
angeführt: Ich stehe aus dem Bett auf; mit welchem Bein soll ich auftreten Wenn ich<br />
will, mit dem linken, wenn ich will, mit dem rechten. So ist es jedoch nur für den oberflächlichen<br />
Beobachter. In Wirklichkeit sind es Tatsachen und Eindrücke, was den Menschen veranlaßt,<br />
sich auf das eine oder andere Bein zu stellen. Sind keinerlei besondere Umstände und<br />
Gedanken mit im Spiele, so wird er mit dem Bein auftreten, mit dem aufzutreten ihm, entsprechend<br />
der anatomischen Lage seines Körpers im Bett, am bequemsten ist. Kommt ein<br />
besonderer Impuls hinzu, der stärker ist als diese physiologische Bequemlichkeit, so wird<br />
auch das Resultat entsprechend den veränderten Umständen ein anderes sein. Wenn zum Beispiel<br />
in dem Menschen der Gedanke auftaucht: „Ich will mit dem rechten Bein auftreten statt<br />
mit dem linken“, so wird er es tun; hier handelt es sich jedoch nur um die Ersetzung einer<br />
Ursache (der physiologischen Bequemlichkeit) durch eine andere Ursache (die Absicht, seine<br />
Unabhängigkeit zu beweisen) oder, besser gesagt, um den Sieg der zweiten, stärkeren Ursache<br />
über die erste. Woher stammt jedoch diese zweite Ursache, wie [122] kommt der Mensch<br />
auf den Gedanken, seine Unabhängigkeit von äußeren Umständen demonstrieren zu wollen<br />
Dieser Gedanke konnte nicht ohne Ursache auftreten, er ist das Produkt entweder eines Gesprächs<br />
mit irgend jemandem oder eine Erinnerung an einen vorausgegangenen Streit oder<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013