15.01.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 309<br />

und mußte zu der Überzeugung kommen, daß Polewoi ein allzu ungenügendes Verständnis<br />

für die Bedeutung der wichtigsten Erscheinungen der russischen Literatur jener Zeit gehabt<br />

hatte. Die Urteile Nadeshdins selber stellen ein sonderbares Chaos dar, eine schreckliche Mischung<br />

außerordentlich richtiger und kluger Bemerkungen mit Meinungen, die man unmöglich<br />

vertreten konnte, so daß die eine Hälfte des Aufsatzes häufig die andere Hälfte zunichte<br />

macht. Die Urteile Belinskis dagegen haben bis heute ihren ganzen Wert behalten, und sie<br />

sind überhaupt so richtig, daß die Leute, die gegen ihn auftraten, fast immer nur mit dem<br />

recht hatten, was sie ihm selber entlehnten. In den letzten Jahren war bei uns viel davon die<br />

Rede, Belinskis Auffassungen seien unbefriedigend; unter den Epigonen, die sich einbildeten,<br />

Belinski überholt zu haben, waren kluge und begabte Leute; man braucht aber nur einmal<br />

ihre Aufsätze mit den Aufsätzen Belinskis zu vergleichen, und man wird sich jedesmal davon<br />

überzeugen, daß alle diese Leute nur von dem leben, was sie von Belinski auf geschnappt<br />

haben: sie reden ewig nur immer dasselbe daher, was Belinski bereits gesagt hat, und wenn<br />

[628] sie anders reden, dann nur deshalb, weil sie entweder in Einseitigkeit oder in offenbare<br />

Voreingenommenheit verfallen. Seit Belinskis Zeiten ist viel Stoff für die Geschichte der<br />

Literatur aufgearbeitet worden; aber gewöhnlich führt jede neue Untersuchung nur zu einer<br />

neuen Bestätigung der von ihm ausgesprochenen Urteile.<br />

Die Selbständigkeit seines Denkens ist auch eine der Hauptursachen für den Anklang, den<br />

seine Meinungen fanden. Menschen, die fremde Gedanken wiederholen, haben die Schwäche,<br />

daß sie meist von Gegenständen reden, die das Publikum nicht interessieren. Wahrheit<br />

bleibt Wahrheit, aber nicht jede Wahrheit ist überall und immer gleich wichtig und gleich<br />

fähig, Aufmerksamkeit zu erregen: jedes Jahrhundert, jedes Volk hat seine eignen Bedürfnisse;<br />

was den Deutschen interessiert, ist häufig ganz uninteressant für den Franzosen oder für<br />

den Russen, weil es keine direkte Beziehung zu seinen Lebensbedürfnisse hat. Man muß über<br />

das sprechen, was unser Publikum zu unserer Zeit braucht. Früher behandelte unsere Literatur<br />

allzu häufig Stoffe, die uns zu wenig interessierten und diente nicht so sehr als Künderin unserer<br />

eignen Gedanken, nicht so sehr als Schiedsrichter unserer eignen Unklarheiten, sondern<br />

eher als Echo fremder Urteile über Dinge, die uns fremd waren. Belinski Sprach stets über<br />

das, was eben jenes Publikum, zu dem er sprach, hören sollte, was es interessierte.<br />

Im folgenden Aufsatz werden wir seine Tätigkeit in der Periode seiner reifen Charakteristik<br />

der Entwicklung darzustellen haben. Bei der literarischen Auffassungen Belinskis werden wir<br />

unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich seinen späteren Aufsätzen zuwenden, weil dieser<br />

Mann bis zu seinem Tode stets vorwärtsgeschritten ist und seine Gedanken je länger, desto<br />

genauen und vollständiger ausgesprochen hat; und wir müssen unserer Betrachtung natürlich<br />

den reifsten Ausdruck seiner Gedanken zugrunde legen. Vorher jedoch müssen wir noch den<br />

Weg kennzeichnen, den die Entwicklung seiner Anschauung von dem Moment an nahm, wo<br />

seine Aufsätze in den „Otetschestwennyje Sapiski“ erschienen, bis zu dem Höhepunkt, auf<br />

dem ihn der Tod ereilte. In [629] wenigen Worten läßt sich die Entwicklung des kritischen<br />

Denkens Belinskis seit dem Jahre 1840 in seinen Hauptzügen folgendermaßen definieren 23 :<br />

Belinskis Kritik war mehr und mehr durchdrungen von unseren lebendigen Lebensinteressen,<br />

wußte die Erscheinungen unseres Lebens immer besser und besser zu erfassen, und strebte<br />

immer entschlossener danach, dem Publikum die Bedeutung der Literatur für das Leben klarzumachen,<br />

der Literatur aber die Beziehung zu erklären, in der sie, als eine der Hauptkräfte<br />

bei der Lenkung der Entwicklung des Lebens, zu diesem Leben stehen muß.<br />

23 Im Manuskript ist anschließend die folgende Stelle gestrichen: „Belinskis Entwicklung als selbständiger Denker<br />

bestand darin, daß er mehr und mehr die lebendigen (Bedürfnisse) Interessen der russischen Wirklichkeit in<br />

sich aufnahm und mehr und mehr zu der Überzeugung kam, daß die Literatur mit den anderen Bestrebungen des<br />

menschlichen Geistes aufs engste verknüpft ist.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!