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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 306<br />
beweisen, daß alle Zweifel an dem, was ihm als die Wahrheit erschien, unbegründet [622]<br />
seien. Einige von den Aufsätzen die Belinski gleich nach seiner Übersiedlung nach Petersburg<br />
veröffentlichte sind unter dem Eindruck dieser polemischen Belebung geschrieben, und<br />
die allen Mitarbeitern des „Moskowski Nabljudatel“ gemeinsamen Gedanken sind in diesen<br />
Aufsätzen die in den „Otetschestwennyje Sapiski“ erschienen, bis zu einem Extrem getrieben,<br />
das allgemein Verwunderung hervorrief und sich nur aus dem polemischen Ursprung der<br />
Aufsätze erklären läßt. Wichtig war aber bereits, daß die Einwände, die seine Moskauer Gegner<br />
gegen Belinski vorgebracht hatten, diesen stark beschäftigten und bei ihm nicht in Vergessenheit<br />
gerieten. Als die erste Hitze der Polemik sich abgekühlt hatte, als die Berührung<br />
mit dem wirklichen Leben die Einseitigkeit des bisherigen abstrakten Idealismus sichtbar<br />
werden ließ, mußte Belinski die Auffassungen seiner ehemaligen Gegner, die er noch kürzlich<br />
von der Höhe seiner idealistischen Betrachtungsweise abgelehnt hatte, mit größerer Unvoreingenommenheit<br />
betrachten. Er sah ein, daß diese Auffassungen, die dem bedingungslosen<br />
Anhänger des Hegelschen Systems beschränkt und oberflächlich erschienen waren, der<br />
Prüfung durch die Tatsachen sehr viel besser standhielten, als die Schlußfolgerungen, die die<br />
Hegelsche Philosophie anbot, und daß ein denkender Mensch aus dem Leben nur diese und<br />
keine anderen Auffassungen ableiten konnte. Die Menschen der geistigen Welt zerfallen in<br />
zwei Klassen: für die einen ist eine Wahrheit unangenehm, wenn sie vor ihnen schon von<br />
irgend jemand anderem ausgesprochen worden ist – sie möchten sich ihre Gedanken gern<br />
privilegieren lassen, wahrscheinlich deshalb, weil sie sich bewußt sind, in dieser Hinsicht<br />
wenig produktiv zu sein –‚ den anderen ist es nur um die Wahrheit zu tun, und ihnen liegt<br />
nichts an Privilegien – wahrscheinlich deshalb, weil die Befürchtung, sie könnten geistig<br />
nachlassen und gedanklich verarmen, ihnen fernliegt; die einen sagen sich ungern von ihren<br />
Fehlern los – wahrscheinlich im Bewußtsein, daß all ihre Ansprüche ein selbstverliebter Irrtum<br />
sind; die anderen Wissen nichts von dieser Empfindlichkeit, weil ihrem Streben seit je<br />
die Wahrheit zugrunde gelegen hat. Belinski gehörte zu der zweiten Kategorie. Er gab bei der<br />
ersten Gele-[623]genheit mit der bei ihm üblichen Offenheit zu, daß Petersburg ihn die Betrachtungsweisen<br />
der Wirklichkeit, von denen er vorher nichts hatte wissen wollen, schätzen<br />
gelehrt hatte, und daß in den Fragen, über die sie vor kurzem in Streit geraten waren, die<br />
Männer recht hatten, die die Schlußfolgerungen des Hegelschen Systems als mit den Tatsachen<br />
des wirklichen Lebens unvereinbar abgelehnt hatten.<br />
Damit entfielen die Ursachen für die Trennung, die noch bis vor kurzem das einträchtige Zusammenwirken<br />
der besten Männer der jungen Generation verhindert hatte. Die einen, die der<br />
deutschen Philosophie bis dahin keine Aufmerksamkeit geschenkt hatten, wurden jetzt zu<br />
ihren eifrigen Anhängern, da sie in deren Grundsätzen ein festes Fundament für ihre aus dem<br />
Studium der neueren Geschichte und des zeitgenössischen Lebens gewonnenen Überzeugungen<br />
fanden. Der Repräsentant der anderen Richtung in der Literaturbewegung, Belinski, wurde<br />
durch Beobachtung der Wirklichkeit dazu gebracht, einen Unterschied zwischen den richtigen<br />
Grundprinzipien der Hegelschen Philosophie und ihren einseitigen Schlußfolgerungen<br />
zu machen, er sah die außerordentliche Bedeutung jener Fragen ein, denen der Kreis um<br />
Stankewitsch allzu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und behielt von dem Hegelschen<br />
System nur jene Grundgedanken zurück, die der Prüfung durch die lebendigen Vorgänge der<br />
Wirklichkeit standhielten. Die begabtesten Mitglieder des ehemaligen Stankewitsch-Kreises<br />
schlossen sich ihm vollzählig an, soweit sie nicht selbständig den gleichen Weg gefunden<br />
hatten. * Die Einseitigkeit beider Richtungen wurde endgültig ausgeglichen.<br />
* Der Leser wird verstehen, daß wir hier, wo ausschließlich von der literarischen Bewegung die Rede ist, einzelne<br />
Menschen nur erwähnen können, soweit sie zur Literatur in Beziehungen stehen. Zweifellos gab es in der<br />
damaligen russischen Gesellschaft auf den verschiedenen Tätigkeitsfeldern viele Männer, die nicht weniger<br />
bedeutend waren als Belinski; wir können annehmen, daß es solche auch im Kreise um Stankewitsch gab. Der<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013