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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 304<br />

jener Zeit in genau demselben Geiste schrieben: der einzige Unterschied bestand darin, daß<br />

die einen besser schrieben als die anderen, aber alles, was Belinski sagte, sagten auch alle<br />

Freunde Stankewitschs, und umgekehrt sprach Belinski nur aus, wovon sie alle einmütig<br />

überzeugt waren. So blieb es bis zur Abreise Belinskis nach Petersburg. Hier fand er bald<br />

darauf seine ganze Originalität, und von jetzt ab dürfen wir bereits nicht mehr von der Gesamttätigkeit<br />

des früheren Kreises reden, dessen Repräsentant Belinski lediglich gewesen<br />

war, sondern müssen von dem persönlichen Wirken Belinskis sprechen, der an die Spitze<br />

unserer Literaturbewegung trat und diese Bewegung im Bunde mit neuen Kampfgefährten<br />

lenkte, die sich ihm nicht aus irgendein Gruppengeist heraus angeschlossen hatten, sondern<br />

weil sie von sich aus zu dem gleichen Ziel [619] strebten, wobei jeder einzelne der Bundesgenossen<br />

die persönliche Besonderheit seiner Natur bewahrte.<br />

In Moskau war Belinski gleich seinen Freunden völlig im theoretischen Sinnieren untergegangen<br />

und hatte wenig darauf geachtet, was im wirklichen Leben geschah. Er trat dafür ein,<br />

daß die Wirklichkeit bedeutsamer sei als alle Träumereien, betrachtete jedoch die Wirklichkeit,<br />

gleich seinen Freunden, mit den Augen des Idealisten, hatte sie weniger studiert, als<br />

vielmehr sein Ideal in sie hineingetragen, und glaubte daran, daß dieses Ideal etwas ihm Analoges<br />

in unserer Wirklichkeit besäße, daß jedenfalls die wichtigsten Elemente der Wirklichkeit<br />

jenen Idealen entsprächen, die im System Hegels für sie gefunden waren. Wie jeder<br />

weiß, der in seinen Anschauungen eine idealistische Periode durchgemacht hat, ist Petersburg<br />

sehr wenig dazu angetan, derartige Träumereien zu erhalten. In Petersburg drängt sich einem<br />

das wirkliche Leben mit solchem Lärm und solcher Unruhe auf, daß es schwer ist, sich über<br />

sein Wesen Illusionen zu machen, und schwer, sich nicht davon zu überzeugen, wie wenig es<br />

sich nach dem idealen Plan des Hegelschen Systems bewegt, kurz, daß es schwer ist, Idealist<br />

zu bleiben. Mit seiner üblichen Bereitschaft, den neuen Bewohner mit allen nur möglichen<br />

Enttäuschungen zu bewirten, zögerte Petersburg nicht lange, Belinski ein umfangreiches Material<br />

zu liefern, mit Hilfe dessen er die der Wirklichkeit wohlgeneigten Schlußfolgerungen<br />

des Hegelsehen Systems kontrollieren konnte, und ihm den Gedanken einzuflößen, daß die<br />

deutschen Philisterideale auch nicht im geringsten zum russischen Leben paßten. 20 Er mußte<br />

die Überzeugung aufgeben, daß Hegels Konstruktionen getreue Darstellungen des wirklichen<br />

Lebens seien, und mußte sowohl die Wirklichkeit als auch das Hegelsche System mit kritischen<br />

Augen betraehten. * Das Resultat dieser Überprüfung war für die [620] theoretischen<br />

Überzeugungen eine Reinigung der Prinzipien Hegels von ihrer Einseitigkeit, die Ablehnung<br />

20 Im Juni 1840 schrieb Belinski an Botkin; „In Petersburg geriet ich von der unbewohnten Insel“ (so nannte<br />

Belinski jetzt den Moskauer Kreis um Stankewitsch. Die Red.) „in die Hauptstadt, die Zeitschrift“ („Otetschestwennyje<br />

Sapiski“. Die Red.), „stellte mich der Gesellschaft von Angesicht zu Angesicht gegenüber – und<br />

Gott allein weiß, was ich durchgemacht habe! Niederschmetternd war für mich das Schauspiel einer Gesellschaft,<br />

in der Halunken und mittelmäßige Dutzendmenschen agieren und eine Rolle spielen, während das Edle<br />

und Begabte in Schändlicher Untätigkeit auf einer unbewohnten Insel brachliegt.“<br />

* „Der Moskauer lebt sich, wenn er zum dauernden Aufenthalt nach Petersburg übersiedelt, sehr schnell ein.<br />

Was wird aus den hochfliegenden Träumen, Idealen, Theorien und Phantasien! Petersburg ist in dieser Hinsicht<br />

ein Prüfstein für den Menschen: wer hier lebt und sich dabei nicht in den Strudel des Scheinlebens hineinreißen<br />

läßt, sich Herz und Seele bewahrt, ohne auf den gesunden Menschenverstand zu [620] verzichten, seine menschliche<br />

Würde behält, ohne in Don Quichotterie zu verfallen, dem könnt ihr ruhig die Hand reichen, denn er ist ein<br />

Mensch. Petersburg wirkt auf manche Naturen ernüchternd: anfangs habt ihr den Eindruck, daß euch in seiner<br />

Atmosphäre die allerteuersten Überzeugungen abfallen, wie die Blätter vom Baum; jedoch bald bemerkt ihr, daß<br />

das nicht Überzeugungen waren, sondern Traumgebilde, die ein müßiges Leben und ‘die absolute Unkenntnis<br />

der Wirklichkeit hervorgebracht hatten – und da steht ihr nun vielleicht in tiefer Trauer, aber in dieser Trauer<br />

steckt viel Hehres, viel Menschliches... Was sind Träume! Selbst die verführerischsten unter ihnen sind in den<br />

Augen des tüchtigen (im vernünftigen Sinn dieses Wortes) Menschen nicht soviel wert wie die bitterste Wahrheit,<br />

denn das Glück des Dummkopfs ist eine Lüge, während das Leid des tüchtigen Menschen Wahrheit ist,<br />

und noch dazu zukunftsträchtige Wahrheit.“ (Aus Belinskis Aufsatz „Moskau und Petersburg“ in dem Sammelband<br />

„Die Physiologie Petersburgs“.)<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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