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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 302 ner, die die Repräsentanten dieser verschiedenen Richtungen waren, wirklich zu bedeutenden Gestalten dieser Entwicklungsgeschichte der russischen Gesellschaft zu werden verdienten, und ob die Grundsätze, die sie beseelten, wirklich fruchtbar waren. Die Geschichte lehrt uns, daß es beim Niedergang eines Prinzips gewöhnlich wegen zweitrangiger Fragen zu unversöhnlicher Feindschaft zwischen seinen Anhängern kommt, wohingegen bei der aufsteigenden Entwicklung eines Prinzips Leute, die in der Hauptsache miteinander übereinstimmen, einträchtig handeln, mögen die zweitrangigen Fragen, die sie trennen, noch so bedeutend sein. Der Verzicht auf jede bornierte Eigenliebe und die Bereitschaft, eine Wahrheit anzunehmen, die man früher nicht bemerkt hat, und diese von einem anderen aufgezeigte Wahrheit von ganzem Herzen zur eignen Sache zu machen – das sind wesentliche Eigenschaften der wahrhaft bedeutenden historischen Persönlichkeiten. Die Männer, von denen wir reden, waren berufen, in der Entwicklung unserer Gesellschaft eine wahrhaft bedeutende Rolle zu spielen; die Prinzipien, die sie beseelten, waren wirklich lebendig und fruchtbar – deshalb mußten diese Prinzipien sich notwendig verschmelzen und diese Männer sich vereinigen. Und wirklich, die Männer vereinigten sich mit so edler Ehrlichkeit und unter Absage aller ihrer Einseitigkeiten, die Prinzipien verschmolzen zu einer gemeinsamen Richtung mit so vollendeter Harmonie, daß dieser Vorgang zu den ganz seltenen und herzerhebenden Beispielen des vollendeten Triumphs der allgemeinen Wahrheit über Teilmißverständnisse und des allgemeinen Strebens, der Wahrheit zu dienen, über persönliche Kollisionen gehört. 15 Im Anfang waren die Gefühle natürlich unfreundlicher Art: die beiderseitige Exklusivität der Anschauungen rief auf beiden Seiten Feindseligkeit hervor. Die einen wie die anderen waren miteinander unzufrieden und gingen lange Zeit jeder Berührung miteinander aus dem Wege. Die Freunde [616] Stankewitschs verurteilten Herrn Ogarjow und seine Freunde deswegen, weil sie sich nicht dem Studium der deutschen Philosophie widmeten und ficht anerkennen wollten, daß die ganze Wahrheit im System Hegels beschlossen war. Die Freunde Herrn Ogarjows verurteilten den Kreis Stankewitschs deswegen, weil alles Denken in ihm ausschließlich auf gar zu abstrakte Fragen gerichtet war, und die Fragen des Lebens entweder unbeachtet blieben oder in jenem apathischen Sinn beantwortet wurden, den Hegel bei ihrer Beantwortung zur Vorschrift machte. Die einen sagten von den anderen: „Sie mißachten die wahren Grundsätze“; diese sagten von jenen: „Sie predigen dem Leben gegenüber Apathie und söhnen sich mit allen Mängeln der Wirklichkeit aus und sind darüber begeistert, daß ihr System alles auf der Welt rechtfertigt.“ Verschiedene äußere Umstände 16 trugen dazu bei, daß lange Zeit hindurch persönliche Beziehungen – die anfangs auch weder die eine noch die andere Partei wünschte – zwischen den Vertretern der einen und der anderen Richtung nicht zustande kamen. Stankewitsch war bereits nicht mehr in Moskau, als Herr Ogarjow dem Kreis beitrat, dessen Seele bisher Stankewitsch gewesen war, und seine Freunde mitbrachte. 17 Wäre Stankewitsch, der sanft und liebevoll war, noch inmitten seiner Freunde gewesen, so wäre es wahrscheinlich gleich damals zur Annäherung gekommen. Jetzt aber war nur Herr Ogarjow als Versöhner und Vermittler da. Ganz allein, ohne jemanden als Helfer zu haben, war er nicht imstande, mit den Gegnern fertig zu werden, und jede Zusammenkunft führte zu heftigem Streit. Im Gefolge eines dieser Dispute, bei dem Belinski auf alle Fragen, die das Ziel hatten, ihn zu der Anerken- 15 Siehe das Kapitel „Das junge Moskau“ in „Erlebnisse und Gedanken“ von A. Herzen. (Deutsch in A. I. Herzen, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949, S. 528-566.) 16 Mit „äußeren Umständen“ meint Tschernyschewski die Verhaftung Herzens und Ogarjows im Jahre 1834 und ihre spätere Verbannung (Herzen wurde nach Perm und dann nach Wjatka, Ogarjow nach Pensa verbannt). 17 Als Herzen aus der Verbannung zurückkehrte, befand sich der kranke Stankewitsch in Italien, wo er in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1840 auch starb. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 303 nung zu zwingen, daß nicht alles in der Wirklichkeit sich vor der Vernunft rechtfertigen läßt, in der ihm eignen unerbittlich konsequenten Weise damit antwortete, daß er alle Erscheinungen, auf die man ihn verwies, als vernünftig erklärte – im Gefolge dieses Disputes, der bewies, daß seine Überzeugungen nicht zu erschüttern waren, fanden die Versuche einer Versöhnung ihr Ende – wenigstens für einige Zeit, und, wie wir sehen werden, für sehr kurze Zeit. 18 Bei alledem blieben diese Versuche nicht ohne frucht-[617]bares Ergebnis, obwohl sie dem Anschein nach zum vollen Bruch führten. Die Männer, die mit Belinski und seinen Freunden stritten, waren erstaunt über die Unerschütterlichkeit, mit der die Anhänger Hegels selbst die anscheinend unwiderleglichsten Einwände gegen das System Hegels aufnahmen, über die Leichtigkeit, mit der die Anhänger Hegels eine sie völlig befriedigende Antwort auf alles fanden, was ihnen dem Anschein nach Unruhe und Schwierigkeiten hätte bereiten müssen. Die Gegner der Ergebnisse, zu denen Hegels System kommt, erkannten, daß man Hegel nur mit seinen eigenen Waffen schlagen kann, und machten sich daher an das vertiefte Studium dieses Denkers. Sie gingen an dieses Studium mit den Kräften eines durchaus reifen Geistes heran, mit einem Scharfsinn, der gestählt war durch die Gewohnheit selbständigen Denkens und durch die reiche Erfahrung eines Lebens voller Konflikte – mit einem großen Vorrat von festen Überzeugungen, die das Leben und die strenge Wissenschaft ihnen gegeben hatten. Und so schwer es ist, der Dialektik des Giganten der deutschen Philosophie standzuhalten, dieser wundervoll starken Dialektik, die sein ganzes System mit der Brünne einer anscheinend unzerstörbaren Einheit umkleidet hatte – diese Männer entdeckten Lücken und Inkonsequenzen in Hegels System, fanden die Fehler in seinen Schlußfolgerungen, die Unvereinbarkeit seiner Prinzipien mit den Resultaten und der Grundideen mit ihrer Anwendung heraus, kamen auch auf die Einseitigkeit der Prinzipien selber und konnten schließlich sagen: „Jetzt begreifen wir alles, was Hegel begriffen hat, begreifen es aber klarer und vollständiger als er.“ So wurde Hegels Philosophie – um einen Ausdruck der deutschen Philosophie zu gebrauchen – überwunden, von Einseitigkeit gesäubert, im Sinne ihrer eignen Grundprinzipien der Kritik unterzogen und zu einer höheren Wahrheit weitergebildet durch die stärksten Anhänger einer der beiden Richtungen, zwischen denen Hegels System bis dahin als Trennungsmauer gestanden hatte. Aber die Tiefe und die Geschlossenheit der deutschen philosophischen Systeme machte tiefen Eindruck auf die Geister, die sich das Studium der Philosophie nicht so sehr vorgenommen hatten, weil es sie zu ihr hinzog, als [618] weil sie deren schwache Seiten entdecken wollten; die bedeutendsten unter den Freunden Herrn Ogarjows kamen jetzt selber auf die Philosophie; ohne ihre früheren Bestrebungen aufzugeben,, im Gegenteil, nur noch bestärkt in ihren Tendenzen, erhoben sie ihre Überzeugungen zur Höhe allgemeiner Philosophischer Grundsätze und wurden, als sie sahen, wie sehr ihre Ideen dadurch an Festigkeit und innerer Konsequenz gewannen zu eifrigen Anhängern der deutschen Philosophie, natürlich nicht mehr des Hegelsche Systems, bei dem sie nicht stehenbleiben konnten, sondern der neuen Philosophie, zu der Hegels System die letzte Vorstufe gebildet hatte. Eine gleiche Erweiterung des geistigen Horizonts vollzog sich andererseits fast zur gleichen Zeit auch bei den stärksten unter den Freunden Stankewitschs. Bis dahin waren sie, wie wir gesagt haben, durch die völlige Übereinstimmung ihrer Begriffe und Bestrebungen miteinander verbunden gewesen, so daß die Besonderheiten der einzelnen Persönlichkeiten in der Einheit der gemeinsam Geisteshaltung verschwanden. Bei der Charakterisierung des „Moskowski Nabljudatel“, dessen tätigster Mitarbeiter und Redakteur Belinski war, haben wir den größten Teil unserer Zitate dem Vorwort zu den Reden Hegels entnommen, das nicht Belinski geschrieben hatte, sondern einer seiner damaligen Freunde 19 , weil alle diese Leute in 18 Diesen Streit hat A. Herzen in „Erlebnisse und Gedanken“ beschrieben. (Deutsch in A. I. Herzen, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949, S. 542 ff.) 19 D. h. M. A. Bakunin. Siehe Anmerkung 8. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 302<br />

ner, die die Repräsentanten dieser verschiedenen Richtungen waren, wirklich zu bedeutenden<br />

Gestalten dieser Entwicklungsgeschichte der russischen Gesellschaft zu werden verdienten,<br />

und ob die Grundsätze, die sie beseelten, wirklich fruchtbar waren. Die Geschichte lehrt uns,<br />

daß es beim Niedergang eines Prinzips gewöhnlich wegen zweitrangiger Fragen zu unversöhnlicher<br />

Feindschaft zwischen seinen Anhängern kommt, wohingegen bei der aufsteigenden<br />

Entwicklung eines Prinzips Leute, die in der Hauptsache miteinander übereinstimmen,<br />

einträchtig handeln, mögen die zweitrangigen Fragen, die sie trennen, noch so bedeutend<br />

sein. Der Verzicht auf jede bornierte Eigenliebe und die Bereitschaft, eine Wahrheit anzunehmen,<br />

die man früher nicht bemerkt hat, und diese von einem anderen aufgezeigte Wahrheit<br />

von ganzem Herzen zur eignen Sache zu machen – das sind wesentliche Eigenschaften<br />

der wahrhaft bedeutenden historischen Persönlichkeiten.<br />

Die Männer, von denen wir reden, waren berufen, in der Entwicklung unserer Gesellschaft<br />

eine wahrhaft bedeutende Rolle zu spielen; die Prinzipien, die sie beseelten, waren wirklich<br />

lebendig und fruchtbar – deshalb mußten diese Prinzipien sich notwendig verschmelzen und<br />

diese Männer sich vereinigen. Und wirklich, die Männer vereinigten sich mit so edler Ehrlichkeit<br />

und unter Absage aller ihrer Einseitigkeiten, die Prinzipien verschmolzen zu einer<br />

gemeinsamen Richtung mit so vollendeter Harmonie, daß dieser Vorgang zu den ganz seltenen<br />

und herzerhebenden Beispielen des vollendeten Triumphs der allgemeinen Wahrheit über<br />

Teilmißverständnisse und des allgemeinen Strebens, der Wahrheit zu dienen, über persönliche<br />

Kollisionen gehört. 15<br />

Im Anfang waren die Gefühle natürlich unfreundlicher Art: die beiderseitige Exklusivität der<br />

Anschauungen rief auf beiden Seiten Feindseligkeit hervor. Die einen wie die anderen waren<br />

miteinander unzufrieden und gingen lange Zeit jeder Berührung miteinander aus dem Wege.<br />

Die Freunde [616] Stankewitschs verurteilten Herrn Ogarjow und seine Freunde deswegen,<br />

weil sie sich nicht dem Studium der deutschen Philosophie widmeten und ficht anerkennen<br />

wollten, daß die ganze Wahrheit im System Hegels beschlossen war. Die Freunde Herrn<br />

Ogarjows verurteilten den Kreis Stankewitschs deswegen, weil alles Denken in ihm ausschließlich<br />

auf gar zu abstrakte Fragen gerichtet war, und die Fragen des Lebens entweder<br />

unbeachtet blieben oder in jenem apathischen Sinn beantwortet wurden, den Hegel bei ihrer<br />

Beantwortung zur Vorschrift machte. Die einen sagten von den anderen: „Sie mißachten die<br />

wahren Grundsätze“; diese sagten von jenen: „Sie predigen dem Leben gegenüber Apathie<br />

und söhnen sich mit allen Mängeln der Wirklichkeit aus und sind darüber begeistert, daß ihr<br />

System alles auf der Welt rechtfertigt.“ Verschiedene äußere Umstände 16 trugen dazu bei,<br />

daß lange Zeit hindurch persönliche Beziehungen – die anfangs auch weder die eine noch die<br />

andere Partei wünschte – zwischen den Vertretern der einen und der anderen Richtung nicht<br />

zustande kamen.<br />

Stankewitsch war bereits nicht mehr in Moskau, als Herr Ogarjow dem Kreis beitrat, dessen<br />

Seele bisher Stankewitsch gewesen war, und seine Freunde mitbrachte. 17 Wäre Stankewitsch,<br />

der sanft und liebevoll war, noch inmitten seiner Freunde gewesen, so wäre es wahrscheinlich<br />

gleich damals zur Annäherung gekommen. Jetzt aber war nur Herr Ogarjow als Versöhner und<br />

Vermittler da. Ganz allein, ohne jemanden als Helfer zu haben, war er nicht imstande, mit den<br />

Gegnern fertig zu werden, und jede Zusammenkunft führte zu heftigem Streit. Im Gefolge eines<br />

dieser Dispute, bei dem Belinski auf alle Fragen, die das Ziel hatten, ihn zu der Anerken-<br />

15 Siehe das Kapitel „Das junge Moskau“ in „Erlebnisse und Gedanken“ von A. Herzen. (Deutsch in A. I. Herzen,<br />

Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949, S. 528-566.)<br />

16 Mit „äußeren Umständen“ meint Tschernyschewski die Verhaftung Herzens und Ogarjows im Jahre 1834 und<br />

ihre spätere Verbannung (Herzen wurde nach Perm und dann nach Wjatka, Ogarjow nach Pensa verbannt).<br />

17 Als Herzen aus der Verbannung zurückkehrte, befand sich der kranke Stankewitsch in Italien, wo er in der<br />

Nacht vom 24. zum 25. Juni 1840 auch starb.<br />

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